Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Dreizehntes Kapitel.

Und der Versucher trat zu ihm.

Es war kalt und dunkel im Stübchen der Lindenhütte. In düsteres Brüten versunken, saß Lindemann neben seinem kranken Sohne auf der Britsche. Auf der Erde stand ein halbfertiger Korb, doch Lindemann konnte nicht weiterflechten, weil die Weiden zu Ende gegangen waren. Stundenlang war er in der Feldmark herumgegangen, um neues Material zu finden; aber seit der Verkoppelung waren die gemeinheitlichen Weidenbäume, die bis dahin überall an Quellen, Gräben und Wasserläufen standen, bis auf ein paar spärliche Reste abgehauen und ausgerodet.

Mit furchtbaren Anwandlungen hatte der so schändlich verstoßene und zertretene Mann zu 221 ringen, er hätte laut aufschreien mögen. Aus allen Ecken starrte die bleiche Gestalt der Sorge ihn an, und je dunkler es wurde, desto deutlicher sah er diese Gestalt. Auf dem Tische lagen drei neue Rechnungen. Und von jedem Blatte grinste die Drohung: Zwangsvollstreckung! Ihn schauderte. Das Brot im Schranke ward trotz der winzigsten Schnitte immer kleiner, und die geringen Vorräte auf dem Boden und im Keller gingen ebenfalls zur Neige. Scharf schnitt es dem verzweifelnden Vater allemal durch die Seele, wenn die Jüngsten sich an ihn schmiegten und schmeichelnd baten: »Vater, schneid' uns ein bißchen!« Und die Linde war so still und starr, und kein Friedesinchen kam herein mit seinem herzhaften Trost und Frohmut.

Sein Gottvertrauen schwand dahin, und ein peinigender Kleinglaube griff ihn an. Ach, die Sorge, dies blasse Kind der Armut, richtete ihn innerlich hart zu, um so mehr, da er die Kinder und die abgehärmte Frau nicht merken lassen wollte, was in ihm wühlte. Er mußte sich gewaltsam aufraffen, um nicht zusammenzusinken. Lore, die trotz der Dunkelheit noch am Spinnrade saß, gewahrte es wohl, aber sie sagte nichts – der Kleinen wegen, die so schweigsam neben ihr am Boden kauerten. Ludwig aber legte seinen magern Arm um den Hals des Vaters 222 und sagte in seinem kurzatmigen und heiseren Tone: »Vater, es wird wieder besser – – mit mir dauert's nicht lange mehr – dann habt Ihr eine Sorge weniger . . .«

Der tückische Husten benahm dem Jünglinge die Stimme. Der Vater riß sich empor, preßte den Sohn an sich, – aber sprechen konnte er nicht.

Da kam Christinchen gelaufen, es brachte Grüße von der Friedesinchenpate und sagte: »Vater, ich soll dir ein Gedicht vorlesen, das die Pate einmal in einer Zeitung fand, in die der Kaufmann ihr 'was 'reingewickelt hatte. Das Blatt fiel aus dem Gesangbuche, da sagte die Pate: ›Siehste, Christinchen, dem geht's wie mir, es möcht' 'raus aus diesem elenden Küffen, es möchte fliegen, es möchte in den Lindenbaum fliegen und aus ihm rauschen!‹ Und da hab' ich gleich mit dem Blatte laufen müssen. Ich soll's aber wieder mitbringen auf die hohe Kante.«

Lindemann fühlte sich durch die frische Stimme wie durch den lieben Friedesinchengruß eigen ergriffen, meinte auf einmal wieder das Lindenrauschen zu hören, obgleich die Linde sich noch gar nicht rührte. Aber er stand auf und steckte den Krüsel an, damit Christinchen lesen konnte.

Sie hielt das Blatt ganz nahe an die kleine schwache Krüselflamme und las: 223

»Der Himmel hat sich schwarz bezogen,
Entfesselt ist der Stürme Wut;
Mein Schifflein schwankt auf wilden Wogen,
Und immer höher wächst die Flut!
Nicht einen Stern seh' ich mehr blinken,
Mir keinen Freund zur Seite stehn; –
So muß mein schwaches Fahrzeug sinken
Und in den Wellen untergehn.«

Als sie den zweiten Vers begann, wurde plötzlich an die Tür geklopft.

»Wenn die Not am größten, ist der – schwarze Jerx am nächsten!« spottete einer hinter der aufgehenden Tür, so daß der Kleine unwillkürlich nach dem Beine des Vaters und Lorchen nach dem Rocke der Mutter griff.

Der Spott war leibhaftige Wahrheit, denn hinter ihm erschien er wirklich selbst, der Mann mit dem Rabenhaar und der borstigen Zwickelzotte um den Mund.

Ging der Schwarze sonst an Lindemann immer mit einer besonderen Vorsicht und Zuvorkommenheit heran, so war er jetzt ganz Überlegenheit und Dreistigkeit; jeder Blick, jeder Ton, jede Bewegung, alles an ihm rief: »Siehst du nun, Lindenhüttenmann, daß du uns doch verfallen bist?« Er sagte aber statt dessen mit einem Anflug von Spott: »Mein Freund, hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit?« 224

Lindemann stützte den Kopf und schwieg.

Da zog sich Jerx selbst einen Stuhl an den Krüsel und sagte: »Wenn heute nacht ein Hirsch unter deine Linde gelaufen käme, Lindemann, würdest du ihn hereinspazieren lassen in dein Haus, ihn in deinen Stall binden, wo sonst deine Kuh stand, und deine hungrigen Kleinen mit Hirschmilch tränken? Ich weiß wahrhaftig nicht, was du tun würdest, denn ich weiß noch nicht, wie weit du da inwendig mit dir gekommen bist. Aber das weiß ich: Wenn die Gerechtigkeit, für die ihr armseligen Leute bisher lebtet und littet, die wahre Gerechtigkeit ist, so muß die Hirschkuh morgen früh in eurem Stalle stehen, und wenn es acht Uhr läutet, muß noch ein großes Wildschwein aus dem Hilgenholze euren Lindenberg heraufgeborstelt kommen und grunzen: ›Tut mich in euren Stall!‹ Und wenn's Mittag läutet, muß auf einmal eine große, große Bohlenbrücke von der Lindenhütte hinübergeschlagen sein bis auf den Schloßberg, und die Lakaien aus dem Schlosse müssen mit großen goldenen Schüsseln auf der Brücke hergerannt kommen und am Lindenhüttentische ihre Buckeles machen, aufwarten und kredenzen. Wenn aber diese Zeichen nicht geschehen, ihr Leute, dann ist auch die Gerechtigkeit, für die ihr bisher lebtet und littet, nicht 225 die wahre Gerechtigkeit.« Er brach in ein kurztöniges, höhnisches Lachen aus und zerstörte jählings wieder den märchenhaften Glanz, den seine Phantasiebilder vor den Augen der Kinder heraufgezaubert hatten.

Lindemann saß noch da mit gestütztem Kopf und sagte kein Wort, und Jerx saß und wartete, was wohl aus dem Eise, wenn es bräche, herauskommen werde; es entging ihm nicht, wie es in dem unglücklichen Manne wühlte und rang, wie's ihn hochtrieb und niederdrückte. Aber er kannte diese wurzelhafte Natur schon zu gut, um sich zu sagen, daß es noch nicht Zeit sei, die Frucht zu pflücken; er wußte, daß die Sonne seiner Ideale solche Früchte überhaupt nicht so schnell reift. Nun, er hatte ja das wirksamste Mittel noch in der Tasche; doch gerade als er sich anschickte, damit herauszukommen, wurden draußen eilende Tritte laut.

Christinchen ging rasch nach der Tür und öffnete, worauf Fritz Bonder mit keuchendem Atem hereinkam und Frau Lindemann in herzandringendem Tone zu seiner kranken Mutter bat. »Sie verlangt so nach Euch, Mutter Lindemann,« sagte er und klagte, daß sie keine Hoffnung mehr auf dieser Welt hätte und gewiß nicht lange mehr machen werde. Es wäre, als wenn 226 nur noch die Angst und Sorge um die Kinder sie auf der Erde hielte . . . Er konnte nicht weiter sprechen, es drängte gewaltsam in ihm herauf, er wandte sich zur Seite und drückte das Gesicht in die Hände.

Da wandte sich auch Christinchen um und weinte in ihre Schürze, auch Hannchen hörte man aufschluchzen, während die beiden Kleinsten, Lorchen und August, mit großen traurigen Augen dasaßen, als begriffen sie noch nicht alles.

Die Mutter stellte das Spinnrad zur Seite und machte sich nun rasch zurecht, um mit Fritz zu gehen. 227

Der Schwarze drehte sich auf dem Stuhle, drehte an seiner Zwickelzotte, guckte und nickte, als wolle er etwas riskieren und als scheue er sich doch wieder davor.

Da ließ der junge Holzhauer die Hände sinken und rief mit tränenüberströmtem Gesicht, während sich seine Hände unwillkürlich ballten: »Es ist, als hätte uns der Herrgott ganz vergessen. So kann's aber nicht in aller Welt sein. Darum sage ich: Stirbt unsere Mutter, werde ich nur noch sorgen, daß die Kinder aus der Schule kommen, dann werde ich mit ihnen fortgehen, soweit es nur sein kann, nur fort aus diesem ganz verfluchten Dorfe!«

»Aber Fritz!« mahnte traurig Mutter Lindemann.

»Ja, verzeiht mir, daß ich so wild rede; aber es hat schon lange in mir gestürmt, und jetzt springen die Tore auf. Und ich mag in diesem Dorfe nicht einmal tot sein; wenn ich's nur zwingen könnte, sollte auch meine Mutter lieber irgendwo in der weiten Welt, als auf dem Hilgenthaler Kirchhofe begraben werden!«

Lindemann saß unbeweglich, starrte vor sich nieder und schwieg; Frau Lore schüttelte den Kopf und seufzte.

Der schwarze Jerx aber sprang auf, klopfte 228 dem jungen Bonder auf die Schulter und sagte: »Mein Freund, das war gut gesprochen. Hier ist endlich die Sonne der rechten Erkenntnis aufgegangen. Es gibt zwei große Berge, die der Proletarier des Dorfes erklimmen muß, wenn er diese Sonne sehen will. Der eine Berg« – er machte eine Pause, sah auf Lindemann und fuhr fort: »Es ist mit dem himmlischen Herrn so wenig was, wie mit dem irdischen. Der eine macht sich so wenig aus eurer Not wie der andre. Der eine wohnt im hohen Schloß, der andre – so meint ihr – im hohen Himmel. So 'n Schloß aber ist dem Himmel immer 'n gutes Ende näher, als so 'n kleines Lindenhäuschen. Fährt nun euer ›lieber Gott‹ vom Himmel herunter, kommt er natürlich zunächst ins Schloß, was Wunder, wenn er dort sitzen bleibt, nicht weiter herabkommt!«

»Vater, kannst du das anhören?« rief die Frau mit allen Zeichen des Schreckens zu ihrem Manne hinüber, als sie schon mit Fritz an der Tür stand.

Lindemann saß unbeweglich und schwieg, und Fritz Bonder sah mit großen, erstaunten Augen auf den Schwarzen, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt.

»Der andere Berg!« hob Jerx, nach 229 Lindemann hinüber zwinkernd, wieder an und machte abermals eine Pause, worauf er fortfuhr: »Was hocken wir Proletarier hier von einem Jahrzehnt ins andere wie der schwarze Fliegenschwarm in der spinnwebigen Kuhstallecke! Die Welt ist so groß und schön, tausend herrliche Städte stehen in der Morgenröte der Zeit, breiten die Arme nach uns aus, bieten uns ihre goldenen Gaben. Darum hinaus aus dem Dorfe, hinaus! Laßt die Herren nur alleine drinnen sitzen! – Bälder als eine Eule brütet, werden sie ihr Nichts einsehen und hinter euch herjammern! Denn sie sind ein Nichts ohne eure ehrlichen Fäuste!« –

Fritz fühlte nicht, wie Frau Lindemann ihn am Arme zog und dann kopfschüttelnd allein hinauseilte; er blieb wie gebannt stehen.

Da trat der Schwarze dicht an Lindemann heran, klopfte ihm auf die Schulter und sagte in sehr zuversichtlichem Tone: »Lindemann, habe dir im Auftrage unseres großen Bundes einen Antrag zu machen. Wir wollen dich aus unserem reichen Fonds mit Geld und Gut reichlich versorgen, wenn du dich zu uns bekennst. Auch der junge Mensch da soll samt seiner kranken Mutter und seinen kleinen Geschwistern dann keine Not mehr leiden. Die ganze hiesige Tagelöhnerschaft sieht nur auf dich. Ein Wort, ein Wink von 230 dir – und sie sind alle unser, und die Stunde der Rache ist da. Lindemann, denk an das Elend, das noch über euch alle kommen muß! Wer wird euren Hunger stillen, wenn ihr das letzte Brot verzehrt habt? Wer wird euch ein schützendes Obdach gewähren, wenn die Blutsauger dein Häuslein versteigern?

»Du hast erfahren, wie wohlfeil das Erbarmen bei den Reichen ist. Die gähnenden Abgründe zwischen Hütte und Schloß wird nur das Racheschwert unseres Bundes, der sich schon über die ganze Welt erstreckt, ausfüllen – ausfüllen mit dem Blute, das stromgleich aus den Tyrannenschlössern brausen soll« – – –

Da ging ein Ruck durch die Holzhauergestalt, hoch richtete sie sich auf. Zwei feste Schritte, – und Lindemann stand an der Tür.

»Hinaus!!!«

Es war ein überwältigender Anblick, als schieden sich zwei Welten von einander, als schiede sich das Licht von der Finsternis.

Starr sah der Schwarze an Lindemann empor und wich unwillkürlich, wenn auch mit geringschätzigem Achselzucken, vor der drohend aufgereckten Gestalt zurück. Noch ein Augenblick, und die Tür hatte sich zwischen dem Schwarzen und den Lindenleuten für immer geschlossen. 231

»Das war der Versucher! Und es fehlte nicht viel . . .!« ächzte Lindemann.

Er hatte aber durch die Überwindung sein seelisches Gleichgewicht, seine gottgestärkte Mannhaftigkeit wiedergewonnen. Eine wunderbare, große, frommgewaltige Bewegung erfaßte seine wie aus schwerem Bann erlöste Seele. Er schlug die Arme um die Kinder, sah leuchtenden Auges auf Fritz Bonder und auf seinen kranken Sohn und rief: »Christinchen, nun lies den andern Vers!«

Und Christinchen las, und laut und feierlich sprach der Vater ihr nach:

»Allein, mag auch mein Schiff zerschellen,
In Wetter, Sturm und Wogendrang,
Ich trotze dennoch Wind und Wellen
Und fürchte keinen Untergang. 232

Du bist die Planke, die ich fasse,
O, Herr, mit meiner Glaubenshand,
Du trägst mein Haupt, wenn ich erblasse
Ins große, freie Vaterland!«Das Lied stammt von dem inzwischen verstorbenen Kantor Ludwig Rien, der um jene Zeit seine schwungvollen geistlichen Lieder in dem Sonntagsblatte der »Göttingen-Grubenhagenschen Zeitung« veröffentlichte. 233


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