Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Siebzehntes Kapitel.

Christabend.

Tief erschüttert kehrten im Morgengrauen des Christsonnabends Vater und Mutter Lindemann in die Lindenhütte zurück. Drei Waisen im Alter von 5–10 Jahren führten sie an der Hand. »Ihr seid nun Geschwister!« sagte die Mutter, als die Kinder sich schluchzend die Hände reichten. Eine Weile nachher kam Fritz in die Lindenhütte. Weiß wie Schnee war sein Angesicht. »O – was soll nun aus uns werden?« stöhnte er und preßte die Geschwister an sich. »Unsre Mutter ist tot! – tot! Ich kann's noch garnicht fassen, so lange es auch schon gedroht hat.«

»Fritz, du mußt denken: Es ist Gottes Wille gewesen,« sagte Mutter Lindemann leise und legte sanft die Hände auf seine Schulter. »Sieh, darein haben auch wir uns ergeben müssen. Wir tragen unser schweres Leid miteinander. Ich hab's schon gesagt, seht nun mich als eure Mutter an.« 274

»Und mich als euern Vater,« setzte Lindemann hinzu und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Und Christinchen sagte eifrig: »Unser Bruder Ludwig ist gestorben – dafür bist du nun unser Bruder, Fritz, – und wir wollen alle recht gut sein und wie treue Brüder und Schwestern miteinander leben.«

»Du liebes Mädchen!« seufzte der Jüngling und reichte Christinchen die Hand.

»Sieh, Fritz, es ist ja eigentlich nur ein Tausch,« tröstete die Mutter wieder, »unser Ludwig ist mit deiner Mutter gegangen, du bist dafür mit deinen Geschwistern zu uns gekommen.«

»Ich danke Euch, Mutter Lindemann, aus Herzensgrund,« erwiderte Fritz, »denn höre ich Euch, ist's mir immer so, als spräche die arme Mutter wieder. Ach, alle Not des äußeren Lebens, alles Elend empfindet man erst 275 so recht, erscheint unerträglich, stirbt einem die Mutter.«

Frau Lindemann ging nun rasch hinaus, um die Ziege zu melken und den Kindern ein Frühstück zu bereiten. Frohnhöfers hatten ein Brot herübergeschickt, was sie jetzt als eine doppelte Wohltat empfand; brauchten doch nun die Verwaisten die harte Not, die in der Lindenhütte herrschte, nicht gleich so nackend zu sehen.

»Ja, wenn wir Euch nicht hätten, Vater Lindemann,« rief Fritz in seinem Schmerze aus, »wer sonst nähme sich unsrer an? Was hab ich Euch schon alles zu danken! Ihr, Vater Lindemann, wie manchmal habt Ihr mir da draußen Gutes getan, wie oft mich von gottlosem Umgang abgehalten, – ja, immer und überall seid Ihr mir ein wahrer, väterlicher Freund gewesen. Und ich? Ja, was hab' ich für Euch getan? Wann hab' ich Euch einmal helfen können! Und was hab' ich Euch in Eurer jetzigen großen Not sein können? Seht, das quält mich, das quält mich im Wachen und im Schlafen. Daß man so erbärmlich arm und elend sein muß, daß man trotz härtester Arbeit vom Morgen bis zum Abend, vom ersten Tag der Woche bis zum letzten noch nicht so weit kommt, einem Marienkäfer einen Strohhalm zum Klettern zu geben, 276 geschweige denn seinem Wohltäter einen Dank abzutragen, – seht, Vater Lindemann, das macht einem 's Herz doch zuletzt rebellisch.«

»Über das gräme dich jetzt nicht, Fritz,« tröstete Lindemann. »Denk', es bleibt nicht Winter. – Und rauscht die hilge Beke erst wieder, dann, ja, dann suchen wir uns anderwärts einen ausreichenden Verdienst – und müßten wir bis Holland oder nach Amerika.«

»Nach Amerika!« wiederholte Fritz Bonder mit Lebhaftigkeit, seine Augen waren leuchtend geworden.

»Das heißt, Fritz,« lenkte Lindemann beklommen ein, »wenn unser Hüttchen und unser Lindenbaum verkauft wird – und wir ins Gemeindehaus ziehen müssen – – dann ist's aus mit der Heimat . . .«

Das war am Frühmorgen des Christsonnabends.

Und dann kam allmählich der Christabend heran.

Die Kleinen hatten den Tod schon am Mittag ganz vergessen.

Sie spielten, lachten und jauchzten dem Abend entgegen, fragten die Eltern und die großen Geschwister, was wohl der heilige Christ bringen würde, und waren sorglich darauf bedacht, daß 277 ein Fenster offen gelassen würde, damit er auch herein könne.

Die Freude der Kinder schnitt den Eltern tief durchs Herz. Eine schmerzliche Verlegenheit gesellte sich zu ihrem Kummer, dachten sie daran, daß die Kinder am Weihnachtsmorgen statt der selig erwarteten Kostbarkeiten nichts als leere Tische und Teller sähen.

»Ach,« seufzte die Mutter, »was werden die Kinder vom heiligen Christ denken, bringt er ihnen noch nicht einmal ein Honigkuchenmännchen, das sonst doch nie gefehlt hat. Ihr kindlicher Glaube wird einen harten Stoß erleiden. Kommt der heilige Christ nicht vom Himmel, aus Erden ist er für uns nicht zu finden.« –

Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit ward in der Lindenhütte der Krüsel nicht angezündet, denn das Öl im Kruge war längst aufgezehrt. Die Kinder saßen frierend neben dem Ofen im Kreise herum. Nur die Kleinsten fuhren fort, mit inniger Entzückung von dem heiligen Christ zu reden und sich mit all' den Herrlichkeiten zu beschäftigen, die er über Nacht auf dem Tische ausbreiten würde.

War auch Christinchen schon verständiger, so konnte sie es heute doch gar nicht lange auf einem Flecke aushalten. So oft wie an diesem 278 Tage hatte sie den Weg zwischen dem Hungertalhause und der Lindenhütte noch nie gewechselt, und so unruhig pflegte sie auch sonst nicht hinter dem Spinnrade zu sitzen; alle Augenblicke vergaß sie das Zocken, sprang sie auf, um ans Fenster zu huschen. Sah sie sich unbeachtet, faltete sie schnell die Hände und schickte noch einmal und noch einmal ein Bittgebet zum lieben Gott, damit der Brief nicht etwa noch im letzten Augenblicke auf der Himmelspost verloren ginge. Ja, der liebe Gott war heute so etwas wie ein Generalpostmeister für sie. Manchmal mußte sie Christel verstohlen mit den Augen warnen, denn er war der einzige in der Lindenhütte, der von dem Briefe wußte, und da er nicht im mindesten an seinem großen Erfolge zweifelte, so machte er in seiner freudvollen Erwartung oft allzu deutliche Anspielungen.

Eine Sorge nur hatten die Kinder: Ob wohl die Friedesinchenpate kommen würde? Sie konnte nun schon wieder auf sein, mußte sich aber, wie die Mutter sagte, noch sehr in acht nehmen.

Vater Lindemann, dessen Seelenzustand zwischen stiller Gottergebenheit, tiefer Trauer und jähen Anfällen von Angst und Sorge, Verbitterung und Verzweiflung ständig wechselte, ging hinaus, lehnte den Kopf wie in einem tiefen 279 Trostbedürfnis an den Lindenbaum und sah hinunter ins Dorf.

Wundersamer Lichterglanz strahlte aus den Häusern, breitete sich vor den Fenstern weithin über den Schnee. Im Thikruge sah man schon den Christbaum brennen. Seltsam vermummte Gestalten huschten am Lindenberge hin; an der hilgen Beke erschollen bald oben, bald unten helle Kuhglockentöne, und bald da, bald dort erhob sich ängstlich-freudiges Kindergeschrei, begleitet von lautem Lachen und Juchzen.

Lindemann dachte an die Krippe in Bethlehems Stall, sah gen Himmel, an dem da und dort ein Stern quitterte, aber keiner aus der »Menge der himmlischen Heerscharen« erschien.

Da bewegte sich der Lindenbaum, und es war, als riefe es aus seinen Zweigen: »O du Kleingläubiger!«

Erschauernd wandte Lindemann sich um und sah einen Stern vom Himmel zucken und sah zwei tief eingehüllte Menschen dastehen.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und eine herzliche Stimme fragte: »Warum stehst du draußen, Lindemann?«

Es war der alte Kantor Treuber samt seiner Frau Amalie. Sie setzten zwei große schwere 280 Körbe auf den Schnee; der Kantor klopfte dem verwirrt und verwundert dreinschauenden Lindenhüttenvater abermals auf die Schulter und sagte freudig, wie mit Orgelton: »Auf, mein Freund, hinein! Der heilige Christ will bei euch einkehren!«

Der arme, so jäh überraschte Mann stand ganz steif und starr, dann kamen in bebendem Tone die Fragen: »Ist's möglich? Ist's kein Traum?«

»Komm und sieh!« antwortete der Kantor und sang mit froher Weihnachtsstimme:

»Deß laßt uns alle fröhlich sein
Und mit den Hirten gehn hinein,
Zu sehn, was Gott uns hat beschert,
Mit seinem lieben Sohn verehrt.«

Der alte, fromme, heiliggeheime Schauder rieselte wieder durch Lindemanns Seele, und taumelnd folgte er den beiden ins Stübchen, in dem schon von dem Gesange eine große Bewegung entstanden war.

»Der heilige Christ,« rief der Kantor noch auf der Stubenschwelle, »läßt Christinchen Lindemann tausendmal wiedergrüßen und schickt ihr diese beiden Körbe voll und noch ein goldenes Gespann mit Fünfen bespannt, daß Vater Lindemann schnell, schnell allen Drohungen und Peinigungen soll entrinnen können.« 281

Weil der Krüsel feiern mußte, konnte man die Lindenhüttengesichter erst gar nicht sehen, so hell es gewiß aus ihnen allen leuchtete. Doch in dem einen Korbe lagen drei Bündel Christbaumkerzen oben auf, das eine von weißer, das andere von blauer, das dritte von gelber Farbe. Davon nahm Frau Treuber rasch eine Hand voll und noch eine Hand voll, zündete die erste Kerze an und die eine an der andern und stellte sie alle in bunter Reihe auf den Tisch, denn ein Tannenbäumchen, wie es andre Jahre auf dem Tische stand, konnte nicht angesteckt werden, weil leider keins da war.

Nun hättet ihr aber die Kantormutter sehen müssen und die um sie herumleuchtenden seligen Kindergesichter! Und all die Herrlichkeiten, die die 282 Kantormutter aus den Körben hervorzauberte! All die Röcke, Hosen, Brusttücher, Umbindetücher, Schürzen, Strümpfe, Jacken, Schuhe – und was noch alles! Sogar zwei wunderfeine Puppen kamen anspaziert, die ordentlich die Augen auf- und zumachen konnten und »käk, käk« sagten, wenn man ihnen auf die Brust drückte. Und dem kleinen August flog eine blitzende Trompete in den Arm. Hierauf marschierte gar ein ganzes Kriegsheer aus Honigkuchenmännern, Honigkuchenpferden und Honigkuchenwagen heran. Dann wieder kamen allerlei Düten mit Kaffeebohnen, Zucker, und was weiß ich! Und dann kamen die prächtigsten Äpfel von der Welt, und auf einmal flog ein Schock Nüsse und noch eins und noch eins gleich mitten in die Stube hinein, daß die Kinder in der ganzen Stube herumrennen und in allen Ecken danach suchen mußten.

Als die Kantormutter mit ihrem ganz verklärten Gesichte das letzte Stück, einen drolligen Nußknacker, auspackte, machte sich der Kantor mit einem genau so seligverklärten Gesicht an den Tisch und sagte: »So, jetzt käme das goldene Gespann mit den Fünfen, auf dem der Lindenhüttenvater schnell seine großen Sorgen wegfahren soll!«

Und fünf leuchtende Goldstücke zählte der Greis vor Vater Lindemann auf den Tisch. 283

Daß da alles durcheinander weinte, schluchzte, jauchzte, brauche ich wohl nicht zu sagen.

Mit großem Schritte ging der Lindenhüttenvater durch die Stube her und hin; dann blieb er am Fenster stehen, deutete nach dem Lindenbaume und rief mit starker, manchmal ein wenig glucksender Stimme:

»Und wenn gleich alle Donnerwetter brausen
Und alle Unglücksstürme sausen,
Und so vertrau' ich meinem Gott!«

Die Augen voller Seligkeit, flüsterte Christinchen leise für sich, daß es nur ein Flüstern ihres Herzens war: »Du lieber, heil'ger Christ – ach, wie muß ich dir so sehr danken, daß du meinen Brief so gut aufgenommen hast!« Und sie faltete die Hände und betete laut vor allen:

Ach, mein herzliebes Jesulein,
Mach dir ein rein sanft Bettelein,
Zu ruhn in meines Herzens Schrein,
Daß ich nimmer vergesse dein.«

»Amen!« sagte der Kantor und wischte sich über die Augen und nickte und stimmte nun das Lied von vorne an, und groß und klein sang mit ihm den herrlichen alten Weihnachtschoral:

Vom Himmel hoch da komm ich her;
Ich bring' euch gute neue Mär;
Der guten Mär' bring' ich so viel,
Davon ich singen und sagen will. 284

So merket nun das Zeichen recht,
Die Kripp' und Windelein so schlecht,
Da findet ihr das Kind gelegt,
Das alle Welt erhält und trägt.
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –

Die Lindenhüttenleute wußten nun aber noch gar nichts von dem Briefe. So mußte denn der Kantor erst alles erzählen, wodurch die Lindenhütteneltern in ein neues großes Verwundern versetzt wurden.

»Als Christinchen mir den Brief übergeben hatte, war ich einige Zeit in einer ordentlichen Verlegenheit, denn ich wußte die rechte Adresse ebensowenig wie Christinchen. Nichtsdestoweniger hatte ich aber dem Kinde frohe Hoffnung gemacht – und die konnte ich doch nicht zu Schanden werden lassen. Ja, hätte der alte Schulmeister, was er nicht hat, und müßte er nicht auch noch ein Häuflein Enkel und Enkelinnen versorgen, wollte ich mir um die Adresse schon keine Sorge gemacht haben.« Der Kantor hielt inne, guckte einen Augenblick nach der Tür, als müsse noch jemand hereinkommen, sah seine Frau, die mit Mutter Lindemann in eifrigem Gespräche war, etwas eigentümlich an und fuhr fort: »Ich dachte anfangs in meiner Unschuld, der »hile Käst« könnte wohl auch hier in Hilgenthal sein, und man könnte so das Porto für den Brief sparen; 285 nachdem aber der betreffende Adressat die Annahme des Briefes mit der unschuldigsten Miene von der Welt verweigert hatte, überlegte ich mir die Sache mit meiner Frau, und auf einmal ging's uns blitzartig durch den Kopf: Wir wollen den Brief an den Pastor Freytag vom ›Hannoverschen Sonntagsblatte‹ senden, der den Weg zum heiligen Christ besonders gut kennt, ob der vielleicht Rat weiß. Was geschah? Vor etlichen Tagen steht der Brief groß und breit im ›Sonntagsblatte‹. Und darunter steht: ›Weil das liebe Christinchen – der Name Lindemann war natürlich weggelassen – den Brief wegen mangelnder Adresse von der Post wieder zurückerhielt, so haben wir ihm gern einen Gefallen tun wollen und den Brief in unserm Sonntagsblatte zum Abdruck gebracht in der fröhlichen Erwartung, daß der heilige Christ unter unsern Lesern sein wird.‹ Ja, nun denkt euch!

Es vergeht ein Tag – da kommt in der Abenddämmerung eine feine Kutsche vors Schulhaus gefahren, eine wunderschöne Jungfrau springt heraus, kommt in unsre Stube, lacht mit dem ganzen lieblichen Gesicht und sagt: ›Ich bin Elfriede von Rausen aus Volkerswalde. Wie ich von dem Herausgeber des »Sonntagsblattes« erfahre, hätten Sie ihm den Brief an den heil'gen Christ zugeschickt.‹ 286

›Ei ja, das hab' ich, verehrtes Fräulein‹, sage ich – und das Herz hüpft mir schon im Leibe.

Da fährt nun das Edelfräulein fort – und es ist mir gerade, als hörte ich einen Engel sprechen: ›Der heilige Christ kehrte gestern abend auf seiner Durchreise flüchtig bei uns ein und stellte allerlei Kisten und Kasten bei uns hin. Dabei sagte er, es hätte ein herzrührender Brief an ihn im ›Sonntagsblatte‹ gestanden – und ich möchte doch, da er rasch weiter müsse, auch diese Sache in die Hand nehmen und in seinem Sinne und in seinem Namen erledigen; auch möchte ich das herzige Christinchen vielmals von ihm grüßen. Natürlich, eine so wunderfeine Bitte kann man doch nicht abschlagen, und so, Herr Kantor, komme ich nun zu Ihnen.‹

So die Worte des lieblichen Edelfräuleins. Wie gesagt, es war mir – und meiner Amalie nicht minder, – als ob ein leibhaftiger Engel da vor uns stände. Natürlich hab' ich nun nicht stillgeschwiegen, sondern die Gelegenheit gleich benützt und noch einiges auf den Brief draufgepackt, – und da ist denn das liebe Schloßfräulein am andern Abend noch einmal in der Kutsche angefahren gekommen.

Aber das ist noch lange nicht alles!« rief der Kantor in die teils stille, teils stürmische 287 Verwunderung hinein. Er zog einen Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las mit bebender Stimme:

»Schloß Volkerswalde, den 20. Dez. 1874.

Verehrter Herr Kantor!

Von meiner Tochter erfahre ich, daß ein braver rechtschaffener Mensch in Hilgenthal, Heinrich Friedrich Lindemann mit Namen, ein Opfer teuflischer Ränkesucht geworden und ohne sein Verschulden in bittere Not geraten ist. Ich will Ihnen gern vollen Glauben schenken und biete daher jenem Manne – um hinter dem heil'gen Christe, dessen Gaben anbei erfolgen, nicht zurückzustehen – auf meinem Gute eine feste Stelle an. Hat er Lust, so kann er gleich nach dem Weihnachtsfeste den Posten antreten.

Auch Ihnen, geehrter Herr Kantor, gesegnete Feiertage wünschend, bin ich

Ihr ergebener      
Baron von Rausen.‹«

Es war, als könne niemand ein rechtes Wort finden für die ihn bestürmenden Gefühle und Gedanken.

Es war ein Auferstehn aus bitterster Not und Trübsal, ein Abwerfen schwerer Dornenlast, 288 die ihre Pein tief, tief in die Seelen der Lindenleute gebohrt hatte. Ja, und es wäre, dachte der alte Kantor im seligen Anschauen der Lindenhüttenfreude, eine Stunde gewesen, wie sie der Herrgott im hohen Himmelssaale fast nicht schöner und seliger machen könne, – – hätten nicht in dem Kämmerchen nebenan und in dem Kämmerchen da unten im Dorfe auf dünner Strohschicht zwei arme Menschenkinder gelegen, die von all dem Segen und all der Freude nichts mehr sahen und nichts mehr hörten.

Der heilige Christ und der bleiche Tod in nächster Nachbarschaft; – der eine dämpfte den Gram und Graus, der andere den hellen Freudenklang, so daß der kleine August nur ein einziges Mal und nur ganz leise, leise in seine Trompete hineinblies. – –

Die Kantormutter und die Lindenhüttenmutter gingen nun zusammen daran, die Gaben des heiligen Christ sorglich zu verteilen, daß jeder bekam, was gerade am besten für ihn paßte. Daß dabei die drei noch ganz zusammengedrückt dasitzenden Waisen nicht schlechter bedacht wurden, als die Lindenhüttenkinder, braucht wohl nicht erst versichert zu werden.

Ganz unglücklich zeigte sich Christinchen, als sich für Fritz gar nichts passendes fand. Vater 289 Lindemann wollte ihm durchaus einen von seinen Goldfüchsen aufnötigen. Fritz nahm ihn aber nicht an, sondern sagte: »Ach Hanfriederpate, Ihr habt das Geld selbst viel zu nötig, als daß ich auch nur einen Pfennig davon annehmen könnte. Wenn Ihr zu allen gekommen seid, die Euch drohten, Euer Haus versteigern zu lassen, werdet Ihr gerade noch soviel haben wie ich.«

Es war aber bald gar zu merkwürdig, daß sowohl der Kantor wie die Lindenhüttenkinder je länger, je mehr nach der Tür guckten. Die Lindenhüttenkinder konnten sich nur denken, daß der Kantor ebenfalls auf die Friedesinchenpate warte. Schon einige Male hatten sie bald die Mutter, bald den Vater gefragt, ob sie wohl noch kommen würde. War doch bereits ein ganz apartes Häufchen schöner Sachen, darunter drei volle Düten, für sie zurecht gelegt; die Kinder malten sich schon das Gesicht aus, das die geliebte Pate machen würde, käme sie auf einmal dazu.

Jetzt lachte die Kantormutter und sagte, mit einem Auge nach dem Kantor blinzelnd: »Kinder, daß eure Friedesinchenpate kommt, ist immer noch möglich; aber daß der – sanfte Christophvetter kommt, ist ganz und gar unmöglich.«

Jetzt merkte der Lindenhüttenvater etwas, und die Lindenhüttenmutter merkte es ebenfalls, und 290 Fritz Bonder kriegte auch Wind in die Nase, wie man wohl so sagt; nur die Kinder merkten's nicht, brauchten's an diesem Abend auch nicht zu merken, wie sehr es zweierlei Menschen gibt auf dieser Welt, und sie fingen immer wieder von der Friedesinchenpate an.

Da sagte die Kantormutter, die wohl merkte, daß die Lindenleute nicht mehr ruhig sitzen konnten: »Zum sanften Christophvetter können wir nicht gehen, oder wollen wir nicht gehen; – was hindert uns aber, allzusammen zur Friedesinchenpate zu gehen und ein Weihnachtslied in ihrem Stübchen zu singen und dem guten Menschenkinde zu zeigen, wie groß wir alle auf es halten?«

Wie ein freudiges Aufzucken ging es durch alle, die in der Stube waren. Und die Kleinen drängten sich um die Großen, denn keines wollte zurückbleiben. Und August blies in die Trompete, und der Kantor rieb sich die Hände, trippelte »um und um« und sagte: »Wahrhaftig, Mutter, das ist mal wieder ein Vorschlag, den kann dir nur der heilige Christ selbst eingegeben haben.«

Nun standen sie auch schon alle marschbereit. Vater Lindemann ging mit dem Kantor voran, die beiden Frauen hinter ihnen, den Korb in der Mitte, so daß sie beide daran tragen konnten, 291 Mutter Lindemann mit der rechten und die Kantormutter mit der linken Hand. Dann kamen Fritz und Christinchen mit dem kleinen August und der Trompete in der Mitte. Dann kamen Lorchen mit der Puppe und eins von den kleinen Bonders mit der Puppe. Die andern aber, die nun hätten folgen sollen, waren draußen bald alle vorn an der Spitze und galoppierten in ihrer Freude weit vorauf und wieder zurück. So bewegte sich der seltsame Zug des heiligen Christ an der nickenden Linde vorbei ins Dorf hinab, an der hilgen Beke hinauf und beim alten Holunderbaum in das Hungertal hinein. Und es war ihnen allen, als ginge da droben die Menge der himmlischen Heerscharen mit. Nicht lange, da tönte es in vielstimmigem Chor von der hohen Kante wundersam ins Hungertal herab:

»Es ist ein' Ros' entsprungen
Aus einer Wurzel zart,
Wie uns die Alten sungen,
Von Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht.« 292


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