Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Achtzehntes Kapitel.

Das uns wieder zum sanften Christophvetter bringt.

An einem linden Märztage – die Sonne schien, und es tropfte von allen Dächern und Zweigen – ging Christinchen, mit einigen Strähnen Garn in der Schürze, an dem öden Hofe vorüber, auf dem der sanfte Christophvetter hauste. Sie blieb unwillkürlich stehen, guckte auf den weiten, leeren Hof und guckte hinauf nach dem Fenster, wo die großen Mettwürste und Schinken baumelten. Sie dachte daran, wie dem Manne wohl zu Mute wäre, der all die Würste und Schinken ganz allein verzehren könne und noch das viele Geld dazu hätte, und daß das alles von Jahr zu Jahr noch immer mehr würde. Da hörte sie etwas quieken und sah zwei fette Ratten von einem großen Haufen fauler Äpfel laufen, wie er alle Frühjahre auf dem Hofe neu zu sehen war. Ein kalter Schauder überlief sie. »Nein, hier möchtest du doch nicht wohnen,« 293 dachte sie, »und könntest du auch Tag und Nacht in der Würstekammer sein und all die Äpfel haben, eh' sie faul würden.« Sie schüttelte sich und ging davon, sah sich aber wieder um. Pochte es nicht da droben an dem Stubenfenster? Ei fürwahr! Jetzt sah sie auch das sanfte Gesicht hinter dem Fenster auf und ab sich bewegen, während das Klopfen daran immer stärker wurde. Endlich sprang das Fenster auf, der große Kopf mit den großen Bummelbacken streckte sich heraus, eine Hand winkte, während eine bläkende Stimme rief: »Du, Mädchen, komm' doch 'mal auf 'n Augenblick herauf. Kriegst auch was!«

Christinchen ärgerte sich, daß sie sich umgesehen hatte und nicht rasch weggegangen war. Es graute ihr, über den Rattenhof zu gehen und in dem öden Hause hinaufzusteigen. Konnte sie aber fortgehen, da er immer wieder winkte und rief?

Also kehrte sie wieder um und kleppte die rostige Pforte auf, huschte schnell über den Hof ins Haus und die Treppe hinauf.

Der Christophvetter humpelte ganz mühsam nach der Ofenbritsche, setzte sich schwer und stöhnend hin, strich sich über die fast etwas gelblich gewordenen Bummelbacken, lächelte das Kind unschuldig wie ein Kind an und sagte: »Du bist doch das kleine Lindenhüttenmädchen? Na siehste, 294 da habe ich's ja aber getroffen. Habe schon die ganzen Tage am Fenster geguckt, ob ich nicht mal 'n Lindenhüttenkind sähe oder sonst 'n Menschen, der mir 'mal eure Friedesinchenpate rufen könnte. Denn sieh, Kind, ich hab's auf 'nmal so in die Beine gekriegt, daß sie ganz unheimlich dick werden und mich nicht mehr tragen wollen. Sieh, Kind, und da brauche ich 'n Menschen, und da dachte ich, da könnte eure Friedesinchenpate 'mal die Tage, bis es wieder besser wird, zu mir 'rauf kommen. Nicht wahr? Denn weißte, den andern Menschen im Dorfe traue ich nicht recht, die wollen gleich immer alles von einem haben, und gibt man ihnen nicht, nehmen sie's einem unter den Händen weg, – man muß sich bloß ärgern. Siehste, so ist aber deine Friedesinchenpate nicht, – i Gott bewahre! – die hat schon manch einem 'n Gefallen getan, ohne erst zu fragen, was sie dafür kriegt. Ja, das ist 'n gutes Menschenkind wie nicht viele. Ja, und so ist deine Mutter und dein Vater auch. So 'ne Leute, wie die Leute aus der Lindenhütte, die soll man erst 'mal wieder suchen in der Welt. Und darum freut's mich auch so, daß es euch nun wieder gut geht, und daß dein Vater die schöne Stelle in Volkerswalde hat. Ich habe gleich gesagt: ›So 'ne 295 Leute, die geh'n nicht unter, denen hilft der liebe Gott schon weiter.‹ Siehste, Mädchen, und ich habe recht gehabt. Ja, und nun freue ich mich nur, daß du da 'rauf gekommen bist; ich hätte mich sonst tot gucken können, denn ist man so allein, kümmert sich kein Mensch um einen. So sind nun 'mal die Leute, gibt man ihnen den Hals nicht immer voll. Aber nun sollst du auch 'was haben, Mädchen.«

Christinchen, die in dieser vollgepfropften, unordentlichen Behausung nicht recht atmen konnte, wehrte lebhaft, sie wolle nichts und möge nichts, und einen Gefallen täte sie ihm auch so.

Aber schon hatte er sich mit Unterstützung seiner beiden platschigen Hände schwer aufgehoben. »Ha na, so 'm Mädchen gebe ich gern 'mal was!« bemerkte er in einem großartig wohlwollenden Tone und schurfelte nach der Kammer. Da er die Tür halb offen ließ, so konnte Christinchen in den halben Schweinehimmel mitten hinein sehen. Sie fing in ihrer großen Verwunderung über den seltsamen Anblick unwillkürlich an zu zählen und zählte fünf große Schinken, ebensoviel heile gelbe Speckseiten, zwei mannsarmlange »FeldkiekerDie in den Fettdarm des Schweines gestopfte Mettwurst. und außer 296 unzähligen gewöhnlichen Lang- und Rundwürsten drei »gottsmächtige Bameumenwürste«,Bameume oder Bamoime, auch Bademutter für Hebamme. die nur angeschnitten werden, wenn 'mal wieder eins aus dem Bruchborn angekommen ist. Christinchen mußte beim Anblick so einer Bameumenwurst, die es bis dahin nie in gleicher Gesellschaft gesehen hatte, unwillkürlich lächeln; was sollte nur der Christophvetter damit anfangen, da er doch nie Kinder kriegte!

Er mörkelte so lange in der Kammer herum, daß Christinchen es auf dem Stuhle nicht aushalten konnte und leise aufstand. Sie nahm ein paar Strohspiere auf, die um das noch ungemachte Bett auf dem Gipsboden lagen, und fühlte die Lust in sich aufsteigen, den Besen 297 hereinzuholen und die Stube 'mal ordentlich auszufegen; auch den »Schettelplunnen« hätte sie gern geholt, um damit die Krumen und »Kringe« vom Tische zu wischen; – ebenso wie sie die Tasse, die auf dem Tische stand und den Teller und Topf, die zusammen auf dem Tische warteten, gar zu gern in den Aufwaschekessel gekriegt hätte. Wie nötig hätte überdies den trüben Glasscheiben des schönen gelben Schrankes in der Ecke die putzende Hand getan. Es zog und zockte sie bald in allen zehn Fingern.

Indes schien er in der Kammer endlich das Rechte gefunden zu haben. Er hoppelte wieder mit Hilfe der Tür und Wand heraus und hielt ein halbfingerlanges Stück Wurst in der Hand, das aber so filzig aussah, als wär's ein Stück vom Filzpantoffel.

Christinchen wehrte und weigerte sich aufs neue, mußte aber nicht nur die Wurst, sondern auch noch ein sparkes, ausgedörrtes Stück Brot dazu nehmen, das in einer Ecke des gelben Spiegelschrankes lag. Er drängte ihr beides in die Hand, und sie scheute sich in ihrer Gutmütigkeit und in ihrem Zartgefühl, es ihm wieder hinzugeben und zu sagen: »Eßt es nur lieber selber, Christophvetter!« –

Christinchen sollte also – das der Zweck seiner 298 heutigen besondern Sanftmut – zur Friedesinchenpate gehen und ihr sagen, daß sie käme und ihm 'n »bißchen was zurecht« mache, so lange er nicht ordentlich auf den Beinen sei. Dann möchte sie doch auch 'n Beutel voll Lindenblütentee mitbringen, denn es fiele ihm manchmal so schwer auf die Brust, daß er sich wie zwischen zwei Mühlsteine geklemmt fühle; dagegen solle nur ein Lindenblütentee gut sein, aber nicht all und jeder, sondern ganz besonders der vom Lindenhüttenbaume, denn der wäre, wie alle sagten, die von seinen Blütenkräften getrunken hätten, vom lieben Gott vor allen andern Lindenbäumen gesegnet.

Er sprach mit einer solchen Dringlichkeit, ja zuletzt mit einer Angst und Sorge, daß Christinchen sich ordentlich von Mitleid ergriffen fühlte und eiligst ins Hungertal lief.

Die Friedesinchenpate, die gerade mit einer Tracht Buchensprick heimgekommen war – denn so einen raren Holztag versäumte sie nicht – schien über die Bestellung gar nicht sonderlich überrascht zu sein; dagegen überraschte sie das Wurstbrot in Christinchens Hand. »Wenn er sich so stark angestrengt hat, muß es wohl ganz was besonderes sein,« meinte sie und nahm die Filzwurst, roch daran und brockte sie den Hühnern, 299 die schon mit klugem Aufblick um sie herumkakelten. »So 'n alter Kerl!« schalt sie, »die Wurst ist gewiß schon sieben Jahre alt, sonst hätte er sie dir noch nicht gegeben. Aber das ist das Schlimmste noch gar nicht, Christinchen, das Schlimmste ist, daß er die alte Wurst selber essen muß, denn die neue gönnt er sich ebenso wenig wie andern Leuten. Und das ist die rechte Plage für seine Bosheit, wie der weise Sirach sagt.« –

Da – ein lauter Jubelschrei: Die Weiße hatte die Friedesinchenpate gehört und kam hurtig um die Hausecke gewackelt. Herrgott, war das eine Freude und ein Getu'! Frau Greiseweiß unten im Stall witterte aber auch schon, was 300 oben auf der Brücke vorging und fing an aus Leibeskräften zu rufen: »Hierher! Hierher!« Na, da gab's für die Pate erst gehörig zu laufen.

Als Christinchen dann den Steinweg hinunter hopste, fing gerade auf der untersten Stufe der kleine August an, heraufzusteigen.

»Mein Steinstieg ist doch 'ne wahre Himmelsleiter, auf der wie in Jakobs Traume die Engel auf- und niedersteigen,« rief Friedesinchen und kam dem Kleinen mit der Gans und den drei Hühnern rasch einige Stufen entgegen.

»Das ist aber gut, daß du kommst, August,« sagte sie ganz freudig, »denn nun brauche ich doch nicht allein auf den alten Rattenhof zu gehen.« Sie erzählte ihm, was Christinchen bestellt hatte, und er sprang hoch auf vor Freuden, daß er die Pate begleiten durfte. Und wenn hundert Millionen Tausend Ratten auf dem Hofe wären, so hätte er keine Bange! versicherte er; denn wo die Pate hinginge, da ginge er auch hin.

»Du sollst aber erst ein Töpfchen voll Milch trinken,« sagte sie, »denn der Christophvetter, weißt du, hat nur Würste und Schinken und die magst du doch nicht gern.«

Also wurde erst ein Köpfchen voll Milch getrunken, dann aus dem Beutel, der in der 301 Kammer am Balken hing, eine gute Portion Lindenblüten genommen, worauf die beiden Hand in Hand den Steinweg hinab und das Hungertal hinauf gingen.

»Verdienen tut er's ja gewiß nicht, daß man sich um ihn kümmert, aber man hat nun einmal so 'ne alberne Natur,« dachte Friedesinchen still bei sich. »Er ist doch nun 'mal so 'n Mensch,« grübelte sie weiter, »und die andern Menschen sind auch so wie sie einmal sind. Hab's schon immer gesagt, um den regt sich keine Hand, wenn er 'mal nicht mehr kann; der stirbt wie ein Kleines im Neste, von dem die Alten umgekommen sind.«

»Friedesinchenpate,« sagte der Kleine, der ihr sehr aufmerksam auf die still bewegten Lippen sah, »dein Mund geht ja so« . . . Er ahmte sie mit seinen Lippen nach.

Sie lachte und sagte: »Ja, Junge, das sind die Gedanken, die sich da regen. Weil man nicht immer so 'n lieben Menschen bei sich hat, so gewöhnt sich der Mund schließlich, mit sich selbst zu reden.«

Er guckte aber noch immer sehr aufmerksam nach ihrer Lippe, so daß sie nur schwer vor ihm gehen konnte. »Friedesinchenpate, du kriegst ja einen Schnurrbart!« 302

»Ja, Junge,« erwiderte sie ganz ernsthaft, »weißt du das noch nicht? Ich will doch – Husar werden!«

Starr wurde sein Blick, blaß und bleich das frische Gesicht, und auf einmal standen die hübschen hellen Augen ganz voll Tränen; – denn er glaubte alles, was die Friedesinchenpate sagte, glaubte auch dieses.

Da hatte sie ordentlich Mühe, ihn wieder zu beruhigen; sie bereute den Scherz und sagte, es wäre ein garstiger Scherz gewesen, und sie würde ganz gewiß nicht Husar werden. – –

Der sanfte Christophvetter saß noch in seiner Hilflosigkeit und tat ganz überschwenglich vor lauter Liebe und Sanftmut, als er die beiden Lindenleute mit den Lindenblüten eintreten sah. August mußte sogleich zwischen seine Knie kommen, und Friedesinchen durfte, als sie das Nötigste besorgt hatte, gar den Kellerschlüssel nehmen, um Äpfel aus dem Keller zu holen. Der Kleine sah erst ängstlich hinter ihr her, faßte aber doch allmählich Vertrauen zu dem so überaus freundlichen und dicken Manne und sah ihn immerfort groß an, da ihm besonders die mächtigen Bummelbacken zu denken gaben.

Der Christophvetter suchte nach den schönsten Worten für ihn, schüttelte sich aber plötzlich wie 303 im Frostschauer und sagte: »Ach, Junge, wenn ich doch dein warmes Blut noch hätte. Brrr! Mich friert wie 'n Hund!«

»Die Friedesinchenpate friert immer wie 'n Snegelken,Schnecke.« antwortete August in plötzlicher Lebhaftigkeit. Es war sein erstes Wort, und da er einmal angefangen hatte, blieb er auch lebhaft im Gange. Friedesinchen hörte seine helle Stimme schon, als sie die Treppe wieder herauf kam. Von drei großen Äpfeln, die sie in der Schürze vor den Christophvetter hielt, zeigte jeder eine faule Seite. »Die andern sind alle schon ganz und gar faul,« sagte sie und schüttelte den Kopf und dachte das Übrige dazu.

»So, so, sind sie schon?« antwortete Klingebiel einfach und setzte hinzu, dann müßten sie auf den Hof gebracht werden, wo die andern lägen.

August legte den Sturm seiner Gedanken in den einen langen Ton: »Aaah!«

Als die Friedesinchenpate endlich alles zurecht gerackert hatte, mußte sie dem Kranken versprechen, daß sie, so lange es ihm schlecht ginge, alle Tage kommen und nach dem Rechten sehen wolle. Es solle ihr Schaden gewiß nicht sein, versicherte er 304 und trug ihr als vorläufigen Beweis seines guten Willens den Kaffeesatz aus seiner weißen Porzellankanne an. »DeerDirn, aber in der guten Bedeutung wie Mädchen.,« sagte er, »ich habe erst einmal davon gekocht, – das gibt nochmal 'n guten Kaffee – jawohl, ja.« – – 305


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