Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Zehntes Kapitel.

Vor fremden Türen.

Es wurde heller und heller, und das matte Lindenhüttenlicht erlosch. Drunten schlug ein Hund an, und ein Tor knarrte.

Lindemann, der noch wie erstarrt hinter dem Baume stand, erschrak und ermannte sich.

Aber was tun? Sollte er so vor seine Lore treten? Sie auf den Tod erschrecken? »Nein,« sagte er sich, »sie hat schon so viel gelitten und ist eine so gute, weiche Natur; – nicht eher soll sie dich wiedersehen, eh' du nicht im tiefen Schnee ein grünes Blatt gefunden hast.«

Aber wohin in dieser reglosen Winterzeit im Dorfe sich wenden? Waren nicht allüberall Hände 167 genug, mehr als genug? Und machten die Maschinen, die in den letzten Jahren hereingekommen waren, nicht noch immer mehr Hände überflüssig? Gab es noch eine Tenne im Dorfe, auf der ein Drescher den ganzen Winter lang sein Brot verdienen konnte wie ehedem? Er dachte an die großen Bauern, die ihm wohl immerhin noch einen Verdienst würden verschaffen können, wenn sie menschlich dächten; allein er konnte ein rechtes Vertrauen nicht finden, wie auf einmal fühlte er in seiner Seele die große Entfremdung, die nach der Gemeinheitsteilung wie ein tiefer, schroffer Graben zwischen die großen und kleinen Leute gekommen war.

Ach ja, ehedem, als noch das ganze Dorf fast wie eine Familie lebte, als noch der opferbereite alte Gemeinschaftsgeist herrschte, der alle beseelte und trieb, die Großen wie die Kleinen und die Kleinen wie die Großen, der keinen Schwankenden zu Grunde gehen ließ, ohne ihm die rettende Hand zu reichen, – ach ja, ehedem! Aber die Zeit lebte nicht mehr, eine neue Zeit war über das Dorf gekommen, ein neuer Geist eingekehrt, der nur an sich selbst, nur und nur an den eigenen Vorteil dachte, rücksichtslos im Ergreifen und unbekümmert darum, was für die andern blieb und was aus den andern werden würde. 168

Indem ertönte vom Unterdorfe her ein grelles Pfeifen, worauf alsbald ein breites Dröhnen durch die Luft schütterte. Lindemann nickte. »Das ist die Stimme der neuen Zeit, sie ruft: ›Wir brauchen euch nicht mehr!‹ Noch vor drei Jahren dachte niemand daran, es dem Hofe»Hof« wird in Hilgenthal schlechtweg das gräfliche Gut genannt. nachzumachen; heute will schon jeder Bauer, der sich halbwegs etwas dünkt, die Dreschmaschine auf der Scheune haben, und in nochmal drei Jahren – heute geht schon alles mit Dampf! – ist gewiß auch kein Kleinkötner mehr, der nicht sein Korn in einem einzigen Tage auf der dröhnenden Dreschmaschine drischt, wollte sagen dreschen läßt. Und so wird's weiter gehen, bis man überhaupt keine Arbeitsleute mehr braucht und nur noch ganz allein im Dorfe ist.«

Ja, das war freilich die Entwickelung und Umwälzung der neuen Zeit! Wer will sich wundern, wenn der von schweren Sorgen bedrückte Arbeiter sie nur nach ihrer unmittelbaren Wirkung auf sein persönliches Wohlbefinden beurteilte und wohl die rächende Nemesis sah, die die Rücksichtslosigkeit dieser Entwickelung in sich schloß, aber die kulturelle Notwendigkeit dieses Fortschrittes nicht erkannte. 169

»Und nur noch ganz allein im Dorfe ist,« sagte Lindemann in dumpfem Tone vor sich hin.

Da war's, als wenn die Linde ihn verstanden hätte, denn sie schüttelte auf einmal rauschend den Kopf und warf den letzten Schnee von ihren Zweigen, als wollte sie schon Platz machen für neue Blätter und Blüten. Und wieder vernahm er den alten Lindenhüttenspruch:

»So lang die Linde bleibet stehn,
Wird mein Geschlecht zur Hütte gehn;
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten.«

Wie befreit atmete er auf. Und so wollte er's denn doch bei den Großbauern versuchen. Er sah noch einmal nach den Lindenhüttenfenstern und stapfte eiligst bergabwärts.

Drunten über der Straße, nahe dem Thi, dem Gemeindeplatze, lag der Thikrug. Und der Thikrüger war einer der Ersten im Dorfe, reich beackert und voller Geld.

Die Hände fest ineinander gekrampft, die Augen unverwandt vorwärts gerichtet, so ging Lindemann dahin – ein schwerer, schwerer Gang.

Als er aber vor dem Krughofe stand, wollten die Füße einen Augenblick nicht weiter. Es war ihm, als müsse er betteln gehen. Er preßte die Lippen zusammen, schluckte mit Gewalt und 170 trat nun rasch und ohne Zögern durch die Torpforte auf die weite weiße Hofstätte. Von der Scheuer ertönten muntere Dreschflegelschläge. Ein Leuchten ging über Lindemanns Gesicht. »Wie wollte ich den Flegel schwingen . . .« sagte er in sich hinein.

Da trat der Thikrüger mit einem wohlgepflegten Bäuchlein in die Tür. Er spie aus, guckte zu den Wolken hinauf, gähnte, kraute sich das ungekämmte Haar unter der dicken Pelzmütze und führte eine respektable Prise aus der beständig in der linken Hand getragenen Dose zur gurkenartigen Nase.

Lindemann faßte sich, trat an ihn heran und sagte nach einem herzlichen Morgengruße zu dem ihn verwundert anglotzenden Bauern: »Ja, wundre dich nur, Krüger, daß ich so dastehe. Aber ich bin seit heute morgen in eine schlimme Lage gekommen. Du kennst den Holzvogt, weißt, wie er's treibt. Nun hat er's richtig dahin gebracht, daß mir das Hilgenholz, nach dem ich von Jugend an mit der Axt gegangen bin, ganz und gar zugeschlossen wird, weil ich ein gefährlicher Mann bin.«

»Tut mir aber leid, Lindemann,« entgegnete der Thikrüger und nahm eine neue Prise.

»Ja, und da muß ich nun sehen, wie ich durchkomme durch den harten Winter, denn du 171 weißt wohl, Krüger, große Vorräte haben wir nicht aufgespeichert, und auf der hohen Kante hat unsereins auch nichts liegen.«

»Ach, mit unsereinem ist's auch nicht so schlimm, wie ihr Leute denkt,« wehrte der Krüger und stopfte sich wieder eine Portion in die Nase.

»Ich will ja nicht borgen, Krüger, ich wollte nur fragen, ob du vielleicht einen Drescher oder einen Futterschneider oder vielleicht einen Holzkaputmacher brauchen könntest, oder vielleicht sonst Arbeit für mich hättest.«

Der Krüger nieste, daß es über den ganzen Hof krachte, und sagte: »Drescher? Habe drei Tage die Dampfmaschine gehabt. Das bißchen, was meine Leute da noch dreschen, ist das Langkorn, das ist zum Seilestroh.« – Er nieste noch einmal, daß im Stalle ein junges Pferd in die Höhe ging. »Futterschneider? Ja, wenn du im vorigen Jahre gekommen wärest! Siehst du dort den Göpel? Siehste, da spannen wir jetzt für 'ne Stunde 'n paar Gäule an, die doch nur vor lauter Wollust die Wände einschlagen, – dann haben wir Futter gleich für acht Tage. – Holzkaputmacher? Ja, Mensch, was sollen denn meine Leute im ganzen langen Winter machen? Im Heu liegen? Na, das kannste mir doch nicht 172 zumuten, daß ich einen überflüssigen Tagelöhner halten soll?«

»Verübele mir meine Anfrage nicht, Thikrüger,« sagte Lindemann mit erstickter Stimme und kehrte um.

Da schien der dicke Thikrüger etwas stutzig zu werden. »Lindemann,« rief er wohlwollend, »wir haben noch viel Flachs zu spinnen. Laß welchen holen. Es ist das letzte Jahr. Im nächsten wird kein Lein mehr gesäet. 's lohnt nicht mehr. Also schicke her.«

Lindemann versprach's, ging um die Krugscheunenecke, an der Hilgenbeke hinauf und bog auf den Posthöferschen Hof mit der großen Einfahrt.

Als er dem Bauern, der zu dem Kirchen- und Schulvorstande gehörte, sein Anliegen vortrug, sagte der freundlich, aber sehr bestimmt abweisend: Er habe die Arbeit jetzt unter Dach und Fach, und seine Leute könnten sie gar wohl bewältigen. Und Posthöfer selber wolle doch auch 'was tun. Er hätte ihn jedoch gern zu leiden, darum wolle er ihm im nächsten Sommer alle Hände voll zu tun geben – dann solle er nur ja wiederkommen.

Da ging Lindemann zu »unneunten Kellermeyers«, 173 dem stattlichen Hofe im Unterdorfe. Sie standen im Rufe, die frömmsten Leute von Hilgenthal zu sein; ging doch Kellermeyer sogar regelmäßig in die Montags-Betstunde, nur daß er dann das Gesangbuch immer unter dem Kittel verbarg. – »Die werden dich doch nicht auf den Sommer vertrösten,« dachte Lindemann und stellte Kellermeyers seine traurige Lage vor. »Ich will kein Almosen, ich bitte nur, mir Arbeit zu geben, daß ich das Brot für meine Familie ehrlich verdienen kann,« sagte er. »Du weißt, Kellermeyer, daß unsereiner ohne täglichen Verdienst nicht durchkommen kann. Wir können uns im Herbst keine langanhaltenden Vorräte aufspeichern, wie ihr Bauersleute, wir müssen von der Hand in den Mund leben – und verdienen wir einen Tag nichts, haben wir gemeiniglich schon den andern nichts mehr zu brechen und zu beißen.«

Während dieser geraden Darlegung saß Kellermeyer, der ein ganz rotes Gesicht hatte, stumm und steif auf dem Kanapee. Die Bäuerin aber holte rasch den Besen herein, fuhr damit in allen Ecken des Bodens und Balkens herum und platzte auf einmal los: »Ja, ja, da hat man's! Hochmut kommt vor dem Fall. Da gehen die Leute immer so hoch aufrecht dahin und bilden sich gar ein, ihre Hütte wäre ein 174 Schloß. Wie sagt doch die Bibel: Hast du im Sommer gepfiffen, magst du im Winter tanzen.«

Da fiel die Tür zu, und herumfahrend gewahrte die Kellermeyersche, daß Lindemann nicht mehr dastand.

»Frau,« gurgelte jetzt der Bauer und rieb die Hände auf dem prallen Knie, »hättest ihn doch nicht so hart anfahren sollen. Er ist doch der Rechtschaffenste unter dem ganzen kleinen Leutekram. – Na, na, Dortchen, ich sage ja auch nichts mehr! Du sollst aber sehen, ist er erst nicht mehr unter den Holzhauern, hält sie keiner mehr in Zucht und Zaum, – denn hart werden sie gedrückt, das ist wahr. – Na, na, Dortchen, ich sage ja auch nichts mehr! Hättest ihn doch nicht so hart anfahren sollen, meine ich, denn du weißt, daß es uns im Sommer an Arbeitern fehlt. – Und hätten wir dann Lindemanns Arme – –, na, na, Dortchen, ich will nun auch man stillschweigen.«

Lindemann ging langsam über die Beke hinüber. Wie so still, o so grabesstill sie unter seinen Füßen lag! Aber durch die Weidenbäume am Bache, zwischen denen er jetzt hindurch ging, sauste ein kraftvoller Wind und warf mit alten Reisern und frischen Flocken um sich, als wollte er sagen: Leben ist kämpfen, werfen, wirbeln; 175 Leben heißt, drauf und drunter und drüber, heißt, immer wieder sich aufgereckt, um endlich doch oben auf zu kommen!

Und Lindemann hatte für solche Sprache Gottes immer ein feines Gehör; er nickte und ging rasch die Dorfstraße hinauf. Er kam am Pfarrhause vorüber und fühlte einen Augenblick eine tiefe Nötigung in sich, die Pforte zwischen dem dichten Heckengehege aufzuklinken. Aber er ging seufzend vorüber. Ach ja, ehedem! Als noch die herrliche, treusorgende Seele hier wohnte! Da waren nicht viel Sorgen in den Herzen und Hütten, die nicht im Pfarrhause untergekriegt wurden. Ja, auch das war dahin, lag wie so vieles andere im Grabe. Denn der nun hier wohnte, so manches Jahr schon, war aus einer großen Stadt und aus sehr vornehmen Kreisen und kannte die Lämmer nicht, die er weiden sollte und ging lieber tausendmal ins Schloß als einmal in die Lindenhütte und stieg nur auf die Kanzel, um »für« den gestrengen Herrn Patron zu predigen. – – –

Der Ärmste dankte Gott, daß ihm auf dem Wege niemand begegnete, überlegte einen Augenblick, biß die Zähne unwillkürlich zusammen und stieg über den Weidensteg, der in den Vogtschen Baumhof führt. Er ging unter den Apfelbäumen 176 hin und langte gerade am Hause an, als die stattliche Vogtsche die Hintertür aufriegelte. Sie wunderte sich sehr über den frühen, ungewöhnlichen Besuch, hörte mit teilnehmenden Seufzern zu, sagte, daß »Vogt«, wie sie ihren Mann immer nur nannte, noch mit der Gicht im Bett läge, und lief schnell zu ihm hinein in die Kammer. Als sie zurückkam, winkte sie Lindemann und führte ihn auf die Flachskammer. Sie wies auf die in Tonnen, Kisten und Kasten lagernden glänzenden »Flachsköwwen«Spinnfertiger Flachs. Ein »Köwwen« gewöhnlich acht Risten, jede Riste eine (schwache) Hand voll. und sagte: »Ja sieh, das soll noch alles gesponnen werden, und da kannste nur deine Frau herschicken, daß sie 'ne Köze voll holt. Ja, und sie kann nur 'n ganzen Winter kommen. Und wenn's erst wieder 'raus geht ins Feld, sagt Vogt, könntest du auch 'n ganz guten Verdienst bei uns haben. Und du sollst denn man wieder kommen.«

Bald darauf stand Lindemann vor dem neuen Klosterhofpächter. Aber da kam er an! »Arbeit hätt' ich schon, aber nicht für solche Leute!« brüllte der Pächter. »Du spekulierst ja nur auf Dumme, die du zu Sozialdemokraten machen kannst. O, der Holzvogt hat es mir wohl 177 auseinandergesetzt! Ich weiß, was für einer du bist! Möchtest nun auch meine Leute gegen mich aufwiegeln, wie du die Holzhauer gegen den Grafen aufgewiegelt hast. Geh hin zu deinem schwarzen Zigarrenmacher! Euch Art Leute muß man aus dem Dorfe hinausbringen, wenn man euch nicht tot treten kann!« –

Der Klosterhofpächter hatte erst vor einem halben Jahre, von auswärts kommend, den Klosterhof übernommen; so erklärt sich's, daß er sich mit den Bocklerschen Lügen stopfen ließ und Lindemann solche Anschuldigungen ins Gesicht schleudern konnte.

Um deswillen hielt Lindemann auch dem hitzigen Manne die harten Worte zu gute, ohne indes zu unterlassen, ihm einen ernsten Vorhalt zu machen. Darüber aber zeigte sich der Pächter nun erst recht aufgebracht, puterrot wurde er und schrie: »Was? So ein Hungerleider will sich was herausnehmen gegen mich! Da soll doch gleich – Tyras!«

Der Ruf galt dem großen Hunde, der alsbald mit gewaltigen Sätzen herbeigesprungen kam.

Lindemann griff sich nach dem Kopfe, es wirbelte und brauste ihm vor den Augen. Mühsam wankte er der Straße zu.

Da sprang ihm der Hund in den Nacken. 178

Lindemann wandte sich und warf dem Klosterhofpächter einen Blick zu, den dieser in seinem Leben nicht wieder hat vergessen können, wie er später noch gestand.

Das Herz voll verzweifelter Gedanken, wandte sich Lindemann wieder der hilgen Beke zu, blieb zwischen den Weidenbäumen stehen und starrte vor sich hin.

Sollte er zu Bornriekens und Frohnhöfers gehen, mit denen ihn noch Blutsverwandtschaft verband?Vergl. Friedesinchens Lebenslauf. Ach, die Alten waren gestorben, und das fremde Blut zwischen den jungen Leuten ließ sich nicht gerne merken, daß die armen Lindenleute es etwas anging. Frohnhöfers aber hatten zudem ihr Tun mit sich selbst, denn sie saßen tief drin beim »sanften Christophvetter«.

Horch – es läutete die Morgenglocke. Lindemann durchrieselte ein seltsames Gefühl, lauschte und blickte zum Turme hinauf. Und der Turm leitete seinen Blick zum Himmel. Aber wo war der Himmel? Seine suchenden Augen fanden nur ein trostloses schweres Wolkengewoge.

Da gingen in kurzer Entfernung zwei frische, frohe Kinder über das Eis des Baches.

Lindemann hörte ihre Stimmen und guckte 179 rasch um den Weidenbaum. Das Herz fing ihm stürmisch an zu klopfen, denn er erkannte seine eigenen Kinder: Christinchen und Christel. Sie trugen Tafel und Bücher unterm Arm, denn sie gingen zur Schule.

Der Vater hielt den Atem an und vernahm, daß die Kinder sich gegenseitig trotz Wind und Wetter mit großem Eifer das Lied abhörten, das sie heute in der Schule sagen und singen mußten. Hell und heiter, sinnig und innig tönte zu den Weiden hinüber das alte herrliche Lied:

»Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt!
Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuß gehen kann.«
–   –   –   –   –   –   –   –   –

Dem Vater quoll es im Herzen und im Auge heiß auf. Er schlang die Hände ineinander, sah abermals zum Himmel hinauf und suchte ihn diesmal nicht vergebens. »Der Wolken, Luft und Winden – gibt Wege, Lauf und Bahn – der wird auch Wege finden – da dein Fuß gehen kann.« So klang es aus der lieben Kinder Mund, so tönte es jetzt aus seinem Munde. 180 Wundersamer Trost kam über ihn, besänftigte die stürmischen Wogen seines Herzens.

Freilich, als er dann in das Lindenhüttenstübchen trat und die ahnungslos am Spinnrade sitzende Lebensgefährtin wie von einem schweren Stoße getroffen zusammenknicken sah, als er den Sohn aufstöhnen hörte, da hatte er schwere Mühe, den einzigen Trost festzuhalten.

»Ach Gott! Ach Gott!« das war alles, was die niedergeschmetterte Frau über die bebenden Lippen bringen konnte. Wie Lindemann auch mit seinem Troste auf sie eindrang, wie warm und innig er auch seine Arme um sie legte – sie konnte nicht froh werden – der neue Schlag war zu jäh und zu hart gekommen.

Da kam ihm ein altes Lied in den Sinn:

»Ach Wintertied,
Wo deip, wo wiet
Kränkstu Hart', Maut und Sinne!
Griesgrau un alle
Makstu meck bale,
Dat sin eck woren inne.
Mien Glück is lütcher as'n Haar,
Mien Glück is licht, mien Unglück swar –
Eck komme nerend tau Gewinne.

Eck gah daher
Und häw nitz mähr –
Eck woll meck gärn ernährn,
Doch dat is rar –
Meck is recht swar, 181
Dat Glücke deit seck verkährn. –
Sau will'k doch dauen, wat eck kann
Un will wat anders weer fängen an,
Dat kann meck keiner ewehrn!
«

Seine Stimme hatte zuletzt wieder eine lebhafte, entschlossene Festigkeit angenommen. »Lore, hörst du? So will ich doch tun, was ich kann und will was anderes wieder fangen an, das kann mir niemand wehren! Gewöhnliche Arbeit finde ich nun nirgends, – aber – kann ich nicht Körbe flechten und Besen binden? Ha, ich finde schon was! – Oder, Lore, wie wäre es, wenn du mich das Spinnen lehrtest? Wohl ist's ein kläglicher Verdienst; ein solcher ist aber doch noch besser als gar keiner – und ich meine, Lore, je mehr Hände desto länger das Ende! – Der Thikrüger und die Vogtsche haben mir Flachs zu spinnen angeboten in Hülle und Fülle. Lore, wenn das Schiff untersinkt, greift man nach der Planke. Wenn wir nun alle viere, du, Christinchen, Hannchen und ich, den Tag über und mit Zuhilfenahme der Mond- und Sternennächte acht SträhnenEine Strähne oder auch ein Lopp Garn ist die Zusammenfassung von zehn Binden; ein Bind besteht aus 60 Haspelfäden. Eine sehr gute Spinnerin, wie Mutter Lindemann eine war, kann in einem Tage, wenn sie ein sehr gutes Spinnrad hat, kaum mehr als zwei Strähnen schaffen. Zur Zeit unserer Geschichte betrug der Spinnerlohn für eine Strähne – 10 Pfennige. 182 zurecht fingerten und trabten, brächte uns das täglich acht gute Groschen und ein Spinnstück.«

Frau Lindemann hörte aus jedem Wort etwas wie Selbstverspottung heraus, schüttelte den Kopf und weinte, daß ihr die Tränen in den Schoß fielen. Dann wischte sie sich die Augen mit der Schürze und sagte in aufgebrachtem Tone, wie man ihn nur selten bei ihr hörte: »Ach, die großen Leute wissen wohl, daß der Spinnverdienst heute für Licht und Salz nicht mehr hinreicht, sonst würden sie uns den Flachs nicht in Hülle und Fülle anbieten. Wenn man vom Morgen bis zum Abend trappelt wie ein Pferd und sich nicht zur Seite sieht und spinnt, daß einem die Finger rot werden, so hat man einen guten Groschen, und spinnt man die liebe lange Nacht durch, hat man manchmal noch einen. Kommt aber der Doktor nur einmal von Tannenfeld 'rüber, so sind das gleich zwei Taler. Und kriegt man von der Apotheke 'n Glas oder 'ne Schachtel, ist das immer 'n halber Gulden oder ein ganzer. Und wenn der Ackermann für unsereinen anspannt, weiß er auch nicht, wie grob er rechnen soll. Alles ist teuer und immer teurer geworden; aber der Spinnverdienst und der Tagelohn ist, so lang ich denken kann, nicht größer 183 geworden; ja, der ist noch ebenso, wie er schon zu Großmutters Zeit war.«

* * *

Am Abend saßen fünfe, die spannen, in dem von Sternen und Schneelichtern sanft erleuchteten Stübchen der Lindenhütte: die Mutter, Christinchen, Hannchen, die Friedesinchenpate und – Vater Lindemann. Es sah herzergreifend aus, wie der ums Dasein ringende Holzhauer nach den Anweisungen der Frauen sich abmühte, die wirren Flachsfasern in einen regelrechten Faden zu verwandeln. Die harten, schwieligen Finger, nur den Axtstiel gewohnt, starrten um den Faden her, wie die Windmühlenflügel um ihre Axe. Dem vergeblich sich abmühenden alten Lehrlinge perlten heiße Tropfen von der Stirn. Und die Wärme des Ofens ging doch kaum so weit, als Christinchen mit ihrem Arme reichen konnte.

Da schüttelte die Friedesinchenpate lange den Kopf und sang diese alte Mär:

»Es war'n einmal zwei Schwestern,
Die eine hatt' ein großes Gut,
Die andre sechs kleine Kinder,
Die mußten leiden Not.

Die arme Schwester wandte sich
Und ging wohl ihren Gang
Zu ihrer reichen Schwester,
Die sie in Freuden fand. 184

»Ach Schwester, liebe Schwester,
So gib mir doch ein Brot,
Denn meine sechs kleinen Kinder
Die leiden Hungersnot.

Die reiche Schwester wandte sich:
»Ach liebe Schwester, nein!,
Ich habe kein Brot im Hause,
Mag groß sein oder klein!«

»Hast du kein Brot im Hause,
Und ein so großes Gut,
So wollt' ich, daß das Brot wie Steine,
Das Messer so rot wie Blut.«

Die arme Schwester wandte sich
Und ging wohl ihren Gang
Zu ihren sechs kleinen Kindern
Die sie im Schlafe fand.

Der reiche Mann aus der Kirche kam
Und wollte sich schneiden Brot:
Da war das Brot so hart wie Steine,
Das Messer so rot wie Blut.

»Ach Frau, ach liebe Frau,
Wem hast du das Brot entsagt?«
»Ich hab's meiner armen Schwester,
Die mich so sehr drum bat.«

»Ach Frau, herzliebste Frau,
Geschwind nimm dieses Brot
Und gib's deiner armen Schwester,
Die dich so sehr drum bat.«

Die reiche Schwester wandte sich
Und ging wohl ihren Gang
Zu ihrer armen Schwester,
Die sie in Trauer fand. 185

»Ach Schwester, liebe Schwester,
Hier hast du gleich zwei Brot,
Für deine sechs kleinen Kinder,
Daß sie nicht leiden Not.«

»Ach Schwester, liebe Schwester,
Nimm diese Brote mit,
Denn meine armen Kinder
Die liegen schon auf dem Stroh
Und sind schon alle tot.«
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –

Als der Wächter die zwölfte Stunde blies und von den »zwölf Toren der goldenen Stadt« sang, wurden die Spinnräder beiseite gestellt. 186


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