Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Sechzehntes Kapitel.

Ein Sarg zum heiligen Christfeste.

Am anderen Morgen ging die alte Küchenlotte tief gebückt in die Lindenhütte und erzählte alles, was sich begeben hatte. Frau Lindemann saß matt und elend hinterm Spinnrade, und es schien, als hörte sie gar nicht, was die gute Alte sagte.

Lotte konnte vor heftigem Weinen bald kein Wort mehr herausbringen; ihr eigenes Leid vergaß sie vor dem Jammer, den sie in der Lindenhütte sah.

»Du bist ja todkrank, Lore – und sitzst doch am Spinnrade?«

Frau Lindemann schüttelte den Kopf.

»Ach, das wird ein trauriges Weihnachtsfest werden!« seufzte die Alte und hüllte ihr Gesicht 260 tief in die Schürze. »Denkt nur, der Graf hat in dem Grimm und Grift, den er sich mit seinem Holzvogt zusammenrührte, der gnädigen Frau sogar die Weihnachtsbescherung verboten. Ach Gott im hohen himmlischen Throne, wo bleibt da doch der Menschenverstand und der Glaube und die Liebe? O Hanfrieder und Lore, ich befürchte, daß noch mal was Schlimmes passiert!«

»Es kann für uns nichts Schlimmeres kommen, Lotte!« sagte Lindemann, der am leeren Tische saß und den Kopf zwischen den Händen gestützt hielt.

Nach einer stillen Pause fragte die Alte etwas verwundert: »Wo sind denn die Kinder? Man sieht ja keins.«

»Die ältesten sind zur Schule, die kleinsten sind bei Friedesinchen.«

»Aber Ludwig?«

Lindemann kleppte die Kammertür auf und deutete hinein. Auf einer dünnen Strohschicht am Boden war ein weißes Laken ausgebreitet. Darauf lag Ludwig starr und stumm.

Die Alte schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, versuchte zu trösten und ging weinend hinaus.

Lindemann richtete den Kopf auf und setzte sich neben die teure Lebensgefährtin, die trotz ihrer völligen Erschöpfung den Faden nicht fallen 261 ließ. Es war die Angst der Verzweiflung, die das arme Weib noch aufrecht hielt. »Hanfrieder,« hauchte sie, »woher nehmen wir Brot für unsere Kinder? – Wer gibt uns ein Obdach, wenn uns nun das Haus verkauft wird? Müssen wir ins Gemeindehaus?«

Lindemann preßte die Lippen zusammen; sein Gesicht rötete sich, seine Brust wogte – er kämpfte mit Riesenanstrengung gegen die Verzweiflung.

Lores Füße stockten, schlaff fielen die Hände auf ihren Schoß. »Hanfrieder, woher nehmen wir – einen Sarg?«

»Lore – die Verzweiflung redet aus dir!« stöhnte Lindemann. »Fallen wir der Gemeinde zur Last, ist's nicht unser Verschulden!«

»Ach, die Schande!«

»Schande? Ist's für einen Schiffbrüchigen eine Schande, wenn das tosende Meer sein Schifflein verschlingt?«

»Ja, aber wie viele Leute glauben noch an deine Schuldlosigkeit? Ach, Hanfrieder, das liegt mir allzuschwer am Herzen, daß, seitdem's uns so bitterschlecht geht, der eine es dem andern nachspricht: du seist ein Heimlicher, habest mit dem schlimmen Jerx eine heimliche Freundschaft unterhalten.«

»Das laß nur, Lore; der Triumph der Lüge 262 währt nicht lange. Und wer glaubt denn von Herzen an die boshaftige Nachsage? Außer dem da im Schloß keiner, Bockler sicher am allerwenigsten. Aber die böse Nachrede ist den großen Leuten ganz willkommen, denn sie gibt ihnen einen Grund, mit dem sie ihr faules Priester- und Levitenwesen gut entschuldigen können. Wird's hernach durch Gottes Hilfe wieder besser mit dem Armen, und kommt die Lüge an den Tag, entschuldigt sie auch dann noch die faule Christenpflicht, berechtigt sie doch zu sagen: Ja, armer Freund, hätten wir damals wissen können, daß die üble Nachsage auf schändlicher Verleumdung beruhe, hätten wir dich sicherlich nicht darben lassen.«

Lindemann war aufgestanden und schritt die Stube auf und ab.

»Ach, daß der liebe allmächtige Herrgott doch unsere Not wendete!« schluchzte die Frau.

»Es ist wahr, Lore,« sagte Lindemann, »Gott prüft uns hart. Aber« – und seine Stimme wurde wieder fest und stark –:

»Wenn alle Donnerwetter brausen
Und alle Unglücksstürme sausen,
Und so vertrau ich meinem Gott!

»Siehst du, da hab' ich's wieder, mein prächtiges Zauberverslein! – Lore, Lore, wo war unser Gottvertrauen wieder? O, über unsere 263 Verzagtheit und Kleingläubigkeit! Steht denn nicht noch unsere tapfere Linde da? Horch doch, Lore, hörst du nicht ihre Stimme am Fenster?

›So lang die Linde bleibet stehn,
Wird mein Geschlecht zur Hütte gehn;
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten.‹

»Ja, Lore, wir wollen unsere Augen wieder aufheben zu den Bergen, von welchen uns Hilfe kommt! Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr's könnet ertragen. Ich sage dir, Lore: So gewiß, wie dem Winter der Frühling und dem Tod die Auferstehung folgt, so gewiß wie die schwärzeste Nacht von der Sonne vertrieben wird, so gewiß wie aus den kahlen Zweigen unseres lieben alten Lindenbaumes noch wieder Blätter und Blüten brechen, – so gewiß, Lore, wirst du wieder froh und stark werden, so gewiß wird Gott, der Allbarmherzige, unsere Not wenden!«

»O, Hanfrieder, solch Trostwort tut wohl!« flüsterte Lore sichtlich aufgerichtet. »Sprich nur, Hanfrieder, hör' ich dich nicht, gleich wird mir wieder Angst und bange. Gott verzeih' mir meine Kleinmütigkeit!« Sie hielt die Hände über dem Schoß gefaltet und blickte andächtig vor 264 sich hin. – – Da schlugen die Turmglocken an, mächtig ergreifend hallte das Geläute durchs Dorf.

Lore brach in bitterliches Weinen aus, Lindemann legte seinen Arm um sie und führte sie in die Kammer. Sie knieten neben dem toten Sohne und blieben in schluchzendem Gebet, bis die Glocken verstummten.

Im Dorfe aber ging's während des Geläutes von Mund zu Mund: »Der Linden-Ludwig wird ausgeläutet!« – –

Gleich nach dem Totengeläute ging der Tischler Jürgen Strubing, ein äußerst bewegliches, kahlköpfiges Männlein, in die Lindenhütte, um »dem Toten das Maß zu nehmen.«

»Bist schon beim Bauermeister gewesen – von wegen dem Sarge?« fragte Strubing.

Als Lindemann den Kopf schüttelte, zog jener die Stirn kraus. »Kein Makel auf deine Redlichkeit, Hanfrieder, – aber du kannst den Sarg nicht bezahlen. Wollte ich dir auch den Machelohn erlassen, – aber ich habe doch das Holz auch nicht umsonst, und es sind teure Zeiten.«

»Jürgen, hab' Vertrauen zu mir, ich bezahle dir den Sarg – nur diesen Winter kann ich's nicht. Es ist das Letzte, was wir unserem Kinde erweisen können, daß es sein Häuslein von uns und nicht von der Gemeinde bekommt.« 265

Jürgen Strubing schwieg und ging von Lindemann begleitet nachdenklich hinaus. Die Linde rauschte leise und neigte ihre Zweige, als wollte sie dem Tischler ihren Respekt ausdrücken.

Er warf einen langen, freundlichen Blick zu dem gewaltigen Baume empor und fragte plötzlich: »Ei, Hanfrieder, verkaufst du die Linde nicht?«

Lindemann atmete tief aus und sagte ruhig und feierlich: »Wenn all die Meinen tot auf dem Stroh liegen, ja dann möcht's sein. So lange aber noch eins von den Meinen lebt, so lange muß auch die Linde bleiben.«

»Aber ich meine, Hanfrieder, du bekämst ein gut Stück Geld dafür. Die Linde könnte dir aus großer Verlegenheit helfen. – Und wird dein Häuslein verkauft, wie's heißt, bist du doch drum. Ja, Hanfrieder, mußt mir die Sprache nicht verübeln. Aber es paßt nicht, daß du jetzt noch das Herz mit dem Kopfe durchgehen läßt.«

Strubing ging um den Baum herum, legte das Maß an und drängte: »Hanfrieder, verkauf' mir die Linde. Daß ich nicht meinen eigenen Vorteil im Auge habe, daß ich's nur gut mit dir meine, sollst du erfahren. Hanfrieder, ich mache dir den Sarg umsonst daraus, bezahle dir das übrige Nutzholz so gut ich kann und gebe dir das Brennholz zurück. – Wär's nicht 266 auch sinnig und schön, erhielte dein braver Ludwig sein Häuschen aus dem Lindenbaume, der euch so teuer ist?«

»Jürgen, du meinst es gewiß gut . . . Aber doch, wenn ich denken müßte, daß die Linde, mit der jede Faser meines Seins verknüpft ist, umgehauen würde, daß ich sie nicht mehr sehen sollte, daß ich, aus der Hütte 267 kommend, lauter leere Luft vor mir haben sollte . . . Jürgen, du kannst es nicht so verstehen, aber ich fühl's, es wäre der Tod meines Heimgefühls und der Anfang von unserem Untergange, denn ich hätte die Kraft der Hoffnung, die Kraft zum Ausharren und die tief, ja vielleicht zu tief gewurzelte Liebe zu diesem kleinen Fleck Erde verloren. Und wenn sie mir das Häuslein wirklich versteigerten, könnte mich nichts mehr treiben, es wieder zu gewinnen. Darum, Jürgen, sag' ich: So lange noch eins von den Meinen lebt und leben soll, so lange muß auch die Linde vor diesem Häuschen stehen bleiben!

So lang die Linde bleibet stehn,
Wird mein Geschlecht zur Hütte gehn.
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten!«

Der Tischler war gerührt und schüttelte nur noch ganz leise den Kopf. »Nach diesen deinen Worten, Hanfrieder, kann ich dein Leben und deine Lebensnot schon etwas besser verstehen,« sagte er nachdenklich, »es liegt etwas Schönes und Feines in deiner Natur, das ist wahr; wenn ich's aber in meiner Weise nehme, müßte ich doch sagen: Gerade der Lindenbaum ist dein Unglück. Stände er auf einmal nicht mehr da, 268 würdest du auch nicht mehr meinen, durchaus auf diesem winzigen Plätzlein leben und sterben und – – verderben zu müssen. Du würdest den Stock in die Hand nehmen und über die Berge steigen und zu deinem großen Staunen sehen, wie groß die Welt ist und wie reich und frei. Du weißt, Hanfrieder, ich bin in meinen Wanderjahren weit herumgekommen und ich würde den Weg in die Welt alle Tage wieder finden, wenn es mir hier in Hilgenthal nicht so wohl ginge; sieh, darum habe ich aber dein Leben und Leiden nicht recht begreifen können, Lindemann, ja, geärgert habe ich mich schon über dich, wenn ich mir sagte, wie gerade ein Mann von deiner Art und Tüchtigkeit ein so leichtes und schönes Fortkommen in der Welt da draußen finden könnte. Noch einmal und wirklich nur um deines Glückes willen: Verkauf' mir den Baum, begrabe ihn mit deinem Sohne, laß das Häuschen fahren und zieh in die Welt!«

Lindemann sah an dem Baume hinauf und sah den Tischler wieder an. »Jürgen, es gibt stille Mächte in unserem Leben, die nicht von gestern auf heute sind. Und wir sind an sie gebunden und zerreißen das Band nicht ungestraft, wenn wir überhaupt die Kraft haben, es zu zerreißen. Weißt du, was die Linde erzählt? 269 In der bösen schweren Zeit des 30jährigen Krieges kam ein junger Bauersmann, der all das Seine und all die Seinen verloren und selbst in mancher grausamen Schlacht dem Tode ins Auge gesehen hatte, an diesen Ort – heimatlos und namenlos. Da baute er sich dies Häuschen und pflanzte die Linde davor und führte eine Jungfrau, die sich vor den rauhen Kriegerhorden hier in die Wälder geflüchtet, als sein Weib in die Hütte. Und als sie ihm nach einem Jahre einen Sohn gebar, da trat er mit dem Kinde vor die Tür seines Häuschens und sagte:

›So lang die Linde bleibet stehn,
Wird mein Geschlecht zur Hütte gehn.
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten.‹

»Und weil er keinen Namen hatte, so freute es ihn, als er sich in der Leute Mund ›Lindemann‹ nennen hörte. So ist unser Familienname gleichsam wie ein Blatt an der Linde ausgegrünt. Du weißt nun, Jürgen . . .«

Strubing nickte und blickte sinnend in den Baum, während Lindemann wieder anhob: »Es ist kein großes Menschenleben ohne einen großen Krieg; zumeist spielt er sich nur unsichtbar im Herzen ab, und im Kriege, Jürgen, gilt es, daß jeder seinen Platz zu behaupten weiß und tapfer 270 aushält, bis der Andrang des Feindes abgeschlagen ist. Sieh, Jürgen, das ist mein Fall.«

Der Tischler lächelte und blinzelte so eigen. »Du hast dich aber nur auf eine Art der Kriegführung eingerichtet, Hanfrieder, auf das Abwarten, auf die Verteidigungsstellung; die zweite Art aber, die im Kriege immer den raschesten Erfolg verspricht, der Angriff, das Vorrücken mit schmetternden Trompeten, Hanfrieder, diese Art kennst du nicht; sie gehört aber zum richtigen Kriegführen wie der Wind zum Wetter, und darum solltest du sehen, daß du sie noch lernst.«

Frau Lore sah ängstlich aus der Tür.

Da wandte Strubing sich um und sagte in seiner lebhaften Weise: »Ja, Lorchen, wir stehen da und reden, als wüßten wir nichts besseres zu tun. Na, und was ich nur noch sagen wollte, um den Sarg braucht ihr euch nicht weiter zu sorgen, ich mache ihn und – mache ihn ganz umsonst, – ja, Hanfrieder, ich mache ihn dir zum Christgeschenke!! Wozu ist die Sonne da? Daß sie scheint! Wozu kommt der Frühling ins Land? Daß die Wiesen wieder grünen und die Bäume ausschlagen, auch die Linde, Lore, auch die Linde wieder Blätter kriegt! Wozu legte uns Gott das Herz in die Brust? Daß 271 wir fühlen und mitfühlen und danach tun und handeln!«

Die Männer reichten sich mit Tränen in den Augen die Hand. Und die tiefgerührte Lore schluchzte: »Ach, das lasse dir Gott zum großen Segen ausschlagen, Jürgen!«

* * *

Der Tag verging, es war Abend und Mitternacht. Aber kein Schlaf kam in die Augen der Eltern, die sich auf ihrem Lager in der Butze hin- und herwendeten. Sie sprachen von ihrem verblichenen Sohne, der in der Kammer, nur durch einen dünnen Bretterverschlag von ihnen getrennt, so friedlich und kummerlos schlummerte, und sie waren trotz des großen Schmerzes in ihrem Herzen froh, daß er's endlich überstanden hatte. Sie sprachen von dem Lindenbaume, der wieder so tröstlich an die kleinen Fenster klopfte; sie sprachen von Jürgen Strubing, von dem Sarge, von der drohenden Versteigerung und suchten mit gefalteten Händen Trost in dem alten frommen Sprüchlein:

»Wer nur dem Herrn befiehlt sein Sach,
Schweigt, leidet, wartet, betet, tut gemach,
Bewahret Glaub' und Gewissen rein,
Des will Gott Trost und Helfer sein!« 272

Schon hatte der Nachtwächter nach seinem dreimaligen Horntuten gerufen:

»Zwölf Tore hat die goldne Stadt,
Selig, wer den Eingang hat!«

als sie plötzlich jemand gegen die Lindenhütte laufen hörten und Fritz Bonders klagende Stimme vernahmen. Da standen sie auf und zogen sich schnell an und gingen mit dem Jünglinge durch die leise raunende Nacht, denn seine Mutter hatte nun auch ausgelitten. 273


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