Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Zwölftes Kapitel.

Wie es bei der Friedesinchenpate aussah.

Mutter Lindemann stand unter der Linde und sah in merklicher Unruhe ins Dorf hinab. Sie schüttelte den Kopf und rief von der Diele in die Stube: »Sie ist immer noch nicht zu sehen. Weißt du, Hanfrieder, sie hat mir gestern schon gar nicht gefallen; wenn sie uns nur nicht krank geworden ist! Sonst war sie doch um diese Zeit schon längst 'mal dagewesen. Eh' wir warten, bis die Kinder aus der Schule kommen, will ich doch lieber nur gleich selber hinlaufen. Man hat gar keinen Trost, wenn man Friedesinchen nicht sieht.«

Lindemann, der neben Ludwigs Britsche saß und an einer Kartoffelwanne flocht, stimmte ihr 209 in besorgtem Tone zu und seufzte: »Wir sind es ja schon gewohnt, daß ein Unglück nicht allein kommt!«

Frau Lore holte einen kleinen Beutel voll Lindenblüten vom Boden, band sich rasch ein größeres Tuch um, knüpfte sich ein kleines um den Kopf und schritt eiligst ins Dorf hinab, ging über die hilge Beke und bog bei dem alten Hollunderbaume in das »Hungertal« ein, einen tiefen Grabenweg, der den Namen von einer Quelle erhielt, die gewöhnlich den Sommer über trocken liegt.

Droben, wo der Weg so tief liegt, daß man an beiden Seiten hoch wie an einem Hause hinauf sehen muß, stieg die Lindenhüttenmutter einen schmalen und fast steilen Steinweg hinan, der zur Heketür des »Hungerdolhuses«Hungertalhauses. führte, wie das einsame Haus oben auf der Kante, das links und rechts ohne Nachbarschaft war, gewöhnlich bezeichnet wurde. Es war ein Kleinkötneranwesen aus ganz alter Zeit, nur ein Stockwerk hoch, was allerdings durch die steile Lage bedingt sein mochte, und länglich, mit eingebauter Scheune, die Stallungen unmittelbar unter den Wohnräumen in den Berg gemauert.

Der Hof war durch Vererbung an »Kellermeyers an der hilgen Beke« – nicht zu verwechseln 210 mit »unne Kellermeyers« – gekommen, die das Land zu ihrem Hofe schlugen und die beiden Wohnungen des Hauses an solche Leute vermieteten, die gesunde, kräftige Arme hatten, um den Sommer über bei einem Tagelohne von vier Groschen die Miete abverdienen zu können.

Links von der dunklen Diele, wo sich die große Stube befand, wohnte Fritz Kleinhans, Kellermanns »Arbeitsmann«, mit Frau und sieben Kindern, von denen das älteste jetzt »up de PareAuf die Pfarre, d. i. in den Konfirmandenunterricht. ging; rechts, in dem ehemaligen Altenteilsstübchen, hatte Friedesinchen, als die Lindenhütte zu klein wurde, ihren Hausstand eingerichtet. Sie mußte acht Taler Miete zahlen, aber nicht in barem Gelde, sondern in vielen sauren Schweißtropfen; denn nach besonderer Verpflichtung hatte sie die acht Taler den Sommer hindurch »abzuverdienen«, sei's im Tagelohn, sei's im »Jein«Das Wort bezeichnet den Gegensatz zur Akkordarbeit., wie es hieß, oder in Akkordarbeit, die allerdings nur beim Korn und Weizenschneiden üblich war. Ach, allzu jämmerlich nur zählte das Abverdienen! Wurde doch für den Morgen Korn (Roggen) oder Weizen, an dem eine Frau mit der »Hepe«Sichel. fast acht Tage zu schneiden hatte, nicht mehr als 211 ein halber Taler gezahlt, wozu allerdings ein widerwillig geduldeter »Sneggelock«Der »Sneggelock« (Schneidelock = ein leichter Arm voll) gründet sich eigentlich auf die Anschauung, daß die Furche der Kornschneiderin gehöre. »De Fohre härt der Sneggerschen«, sagte man. Der Brauch wurde hernach durch die Sense beseitigt. kam, mit dem die »Sneggerin« allabendlich den Innenraum der Köze füllen durfte.

Nun, hiernach wird man sich schon selbst sagen können, wie lange so ein armes Menschenkind wie Friedesinchen sich im besten Teile des Jahres plagen mußte, bis es nur die blanke Miete herunter hatte. Irgend eine Nachsicht oder einen Nachlaß gab es da nicht. Als Friedesinchen im letzten Sommer zusammen mit den Lindenhüttenleuten beim neuen Klosterhofpächter, der ein höheres Gebot gemacht hatte, einen Morgen Weizen schneiden wollte, hieß es bei Kellermeyers an der Beke gleich: dann könne sie ja ausziehen; es gäbe Leute mehr als zuviel, die froh wären, eine so schöne Wohnung zu bekommen.

Schöne Wohnung? Ach lieber Himmel! Seit wie vielen Jahren hatte das brackelige alte »Gemökse« schon keinen Dachdecker, Maurer oder Weißbinder mehr gesehen! Aber da fürwahr alle »Küffen« im Dorfe gepfropft voll Menschen saßen, 212 mußte Friedesinchen wohl in Sorge sein, daß sie es mit ihrem Hausherrn nicht verdarb.

Als Mutter Lindemann den Steinweg heraufkam, sah sie auf der Bretterbrücke, die gerade unter Friedesinchens Fenster über den tiefen Stalleingang hinführt, drei Hühner stehen, die trostlos auf den verschneiten Gang und traurig nach Friedesinchens Fenster hinaufsahen, während gleichzeitig drunten im Stalle die Ziege gar heftig »bläkte«. Frau Lindemann, die der Anblick der traurigen Hühner eigen ergriff, wußte nun schon, daß es mit der Schwägerin nicht gut stehen konnte. Mit klopfendem Herzen kleppte sie die obere und dann die untere Tür auf, indem sie jedesmal an einem herabhängenden schmalen Riemen, dem »Kleppriemen«, zog. Husch, waren die drei Hühner auch schon vor ihr und liefen unaufhaltsam mit in Friedesinchens Stübchen hinein.

»Ach, Gott sei Dank, daß du kommst, Lorchen!« stöhnte Friedesinchen, die mit fieberheißem Kopfe in ihrem Bette lag. »Ich habe schon dreimal versucht, ein bißchen Feuer anzumachen, aber es hat mich jedesmal so geschüttelt, daß ich gleich wieder ins Bett kriechen mußte.«

»Ach Gott, Friedesinchen!« rief Frau Lore erschrocken und klagte sich an, daß sie nicht schon in aller Frühe gekommen wäre. Da knackte schon 213 das feine Holz in ihrer Hand, das sie hinter dem kleinen Lehmofen weggenommen hatte, um damit Feuer anzumachen. Wie alle derartigen Kleineleuteöfen widerstand auch dieser erst mit großer Hartnäckigkeit der Aufnahme des Feuers, und als er sich endlich doch mit ärgerlichem Dampfen dazu bequemt hatte, dauerte es noch eine gute Weile, bis er die nötige Wärme durchließ.

»Ach, die Hühner!« seufzte Friedesinchen jetzt, als eins von ihnen am Bett hinauf hickte. »Gib ihnen erst ein bißchen, Lorchen; sie haben noch nichts gehabt.«

Nun hörte man die Ziege wieder heftig bläken, auch die Gans schrie und gackerte ununterbrochen; es klang so nahe, als befänden sie sich mit den Hühnern in der Stube.

Der Lehmboden war nämlich da und dort so dünn geworden und so stark weggebröckelt, daß man an einzelnen Stellen zwischen den Schienen hindurch in den Stall sehen konnte. Friedesinchen hatte kleine Bretter über die Löcher gelegt, da in dieser frostharten Zeit Lehm nicht zu bekommen war.

Mutter Lindemann schob rasch die Ringe aus der unteren Ofenpfanne und setzte einen Kessel darauf, nachdem sie ihn an dem auf der Ofenbank stehenden Eimer mit Wasser gefüllt hatte. 214 Den hungrigen Hühnern, welche in der Stube herumsuchten, ohne etwas zu finden, quetschte sie ein paar gekochte Kartoffeln, die in der Wanne auf der Bank lagen, worauf sie aus der Ofenecke das Ziegenbecken nahm, mit warmem Wasser füllte, in das sie etwas Kleie tat und einige Kartoffeln quetschte. Sie sprach dabei in ihrer herzlichen Weise auf die im Bette Seufzende ein, nahm rasch den Milchtopf von der Wand über der Bank und ging, das Futterbecken in der einen, den Milchtopf in der anderen Hand und die Türen mit dem Ellenbogen öffnend, rasch hinunter in den Stall.

Friedesinchen hörte die Gans aufjauchzen, hörte die Ziege schlürfen und die Milch in den Topf strullen und atmete erleichtert, wenn auch mit heftigen Schmerzen aus.

Als Frau Lore mit dem schäumend vollen Milchtopfe wieder den Steinweg heraufstieg, sah sie, daß die weiße Gans schon oben war und an dem Kleppriemen zockte. Sie lächelte wehmütig und sagte: »Ja, Weiße, du willst auch sehen, wie es ihr geht; warte nur, ich mache schon auf.« Als sie ihr nun den Kleppriemen aus dem Schnabel nahm, wich die Gans erst scheu zur Seite; dann aber, als die Tür aufging, drängte sie sich schleunigst vor der Frau auf die Diele, denn sie 215 wußte wohl, daß die Leute im allgemeinen die Tür immer schon zumachen wollen, eh' die Gänse drinnen sind. Ja, ja, die Weiße wußte bereits aus reichen Lebenserfahrungen, daß nicht alle Leute so gutwillig sind wie die Friedesinchenpate, die ihre Gans immer mit auf die Diele gehen ließ, wenn sie hungerte oder wenn's draußen stürmte und schneite. Daß die Lindenhüttenmutter auch nicht so war, wie die gewöhnlichen Leute, konnte die Weiße ja nicht wissen, denn in der Regel kam die Friedesinchenpate mehr zur Lindenhütte als die Lindenhüttenmutter zur Friedesinchenpate, weil's eben so in der Natur ihres Verhältnisses lag.

Die Gans zeigte auch nicht übel Lust, mit ins Stübchen zu gehen, und als ihr die Lindenhüttenmutter diesmal die Tür vor der Nase zumachte, schlug sie ärgerlich die Fittiche zusammen und rief: »Ach, ach, ach, so 'was, so 'was! Den 216 ganzen Morgen noch keinen Happen gehabt, keinen Happen!«

Die Friedesinchenpate verstand es wohl, was die Weiße da draußen pappelte, und die Lindenhüttenmutter verstand es auch; darum eilte sie nun geschwind in den Keller, um ein paar »Wurzeln«Mohrrüben. herauszuholen, die sie dann der befriedigt dankenden Weißen auf die Diele brockte.

Nun aber kam Friedesinchen selbst daran. Zunächst wurde ein kräftiger Lindenblütentee gekocht, dann die Milch aufs Feuer gesetzt.

Indem hörte man von drüben Kinderweinen. »Lieber Gott,« sagte Friedesinchen, »die Mutter ist schon seit drei Uhr fort zum Dreschen; bring' doch den Kleinen nur ein bißchen warme Milch.«

»Ach, lieber Gott, ja,« sagte Lore und füllte einen kleinen Topf und ging hinüber.

Da stand schon ein Kleines in bloßem Hemdchen vor der Tür, zitterte und bebte vor Kälte und rief nach der Mutter.

Als die Lindenhüttenmutter nach einem Weilchen wieder heraus kam, weinten die Kleinen nicht mehr. 217

Nun ging Lore daran, Friedesinchens Stübchen ein wenig in Ordnung zu machen. Das war kein so leichtes Werk, denn Friedesinchen mußte in der Winterzeit sozusagen Kammer, Küche und Keller in der Stube haben, weil ihr sonst alles verfror und verdarb oder von den Ratten aufgefressen wurde. In wie schlechtem Zustande sich die kleine Kammer an der Stube befand, konnte man schon an dem Streifen feinen Schnees ersehen, der unter der mehrfach gespaltenen Kammertür hindurch in die Stube gefegt war. Auch auf dem Fensterbrette und auf dem Tische, der unterm Fenster stand, und auf dem Boden unterm Fenster war solch ein feines Schneegestäube sichtbar. Friedesinchen hatte darum ihre Rosmarin- und Fuchsientöpfe auf die Eimerbank an der Ofenwand stellen müssen, wo sie mit Eimer, Töpfen und Schalen friedlich in einer Reihe standen.

»Lorchen, wenn ich nur nicht übern Berg muß!« stöhnte Friedesinchen und lächelte schwer und trank auf Lorchens dringende Nötigung noch einmal von dem Lindenblütentee.

»Unser Lindenbaum wird's bald wieder besser machen, Friedesinchen, und der liebe Gott kann's so schlimm nicht im Willen haben,« tröstete Lorchen und verbarg mit Mühe die Angst ihrer Seele.

»Ach, Lorchen, ging's meinem Willen nach 218 und wär's nur meinethalben, wollte ich meinem armseligen Leben nicht einen Tag zusetzen. Aber wenn ich an euch denke und an den schweren Sorgenstein, der jetzt auf euch liegt, und wenn ich wieder dann die Linde rauschen höre in Leid und Freud – ich höre sie, auch wenn ich hier im Bette liege – und wenn ich die Kinder so vor Augen habe – o, ich sehe die Racker immer, auch wenn ich hier ganz allein für mich bin – ja, so möcht' ich doch noch ein paar Jahre leben. Ich könnte auch wohl dem Lindenbaume noch ein bißchen rauschen helfen, und wir könnten uns mit einander halten, daß keines hinunterfiele in den Abgrund, den so 'n abscheulicher, garstiger Mensch euch bereitete. Ach Lorchen, und ich möchte noch leben, weil ich doch auch gern wüßte, was einmal aus den Kindern wird. Die Kinder, Lorchen, die gehören 'mal auch mir, und darum wird mir das Sterben, wann es auch sei, gar schwer werden. Ich denke manchmal, nur all die Menschen stürben gern und gingen leicht davon, denen der liebe Gott so keine Kinder bescherte.« – Friedesinchen hatte mit großer Anstrengung und trotz der stechenden Schmerzen in der Brust mehrmals mit Lächeln gesprochen. Darum legte Lorchen ihr leise die Hand auf den Mund und sagte: »Mußt dich nicht so anstrengen, du gutes 219 Menschenkind, mußt jetzt ganz, ganz still und ruhig liegen.« Und Lorchen wandte den Kopf zur Seite, damit Friedesinchen ihre Tränen nicht sähe.

»Daß ihr aber nur nicht den Doktor holt!« fing Friedesinchen noch einmal an, »die Kosten sind ja nicht zu erschwingen. Für einen einzigen Weg muß ich vier Morgen Weizen schneiden. Aber den bißchen Verdienst braucht man doch zuerst für die Miete. Und dann weißt du ja, wie grob so 'n Doktor mit unsereinem ist. Unser Doktor ist der liebe Gott, und wenn der nicht hilft, können die anderen Doktors auch nichts machen.«

Als aber die Lindenhüttenmutter nach einiger Zeit in die Lindenhütte zurückkam, machte sich Vater Lindemann doch sogleich auf den Weg nach Tannenfeld, wo der Doktor wohnte. 220


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