August Silberstein
Herkules Schwach. Dritter Band
August Silberstein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsundsechzigstes Capitel.

Welches Kapitel berichtet, wie Schnepselmann jetzt ist – was Krimpler nun thut – und wir einen Brief zu lesen bekommen.

Ist es nicht nöthig, daß wir nach unsern beiden Freunden, Schnepselmann und Krimpler, sehen und um sie forschen? – Was thun sie? Wie leben sie?

Läuft Schnepselmann wieder mit Magenpillen und Selbstmaschinen durch alle Straßen und fragt die Sperlinge auf den Dächern unversehens um Rath? – Hat er von dem Strome der Ereignisse sich abgeschüttelt, wie das gut schwimmende Hausthier, wenn es aus dem Wasser kommt, und das dann gleich seine gewohnten Wege unbekümmert weiter geht? –

Was macht Krimpler? Sitzt er zu Hause und pflegt er seine Augen, und wartet er vielleicht wieder zwanzig Jahre, bis sich eine Hoffnung erfüllt?

Sehen wir doch einmal zu.

Schnepselmann! – O, es ist derselbe lange hagere Herr, ganz in demselben Kostüme wie früher; aber das Gesicht ist so blaß, die früher halb ausgeprägten Falten sind jetzt ganz und deutlich geformt, das rastlose Auge ist noch immer so rastlos als ehemals, aber mit einem wehmüthigen Ausdrucke, der früher zu keiner Zeit darin gelegen. – Wer wollte Schnepselmann in dieser Gestalt verkennen? Solche Menschen, wenn sie petrifizirt nach einem Jahrtausende in einer Mergelgrube, oder in einem Bergwerke, zum Vorschein kämen. blieben immer unverkennbar! 179

Aber das Innere, das Innere!

Eine unbekannte Welt von Schmerzen ging der Seele Schnepselmann's auf. Seine Frau, die gute, wirthsame, geduldige Seele, deren ganze Welt ihre vier Wände, ihre Kinder, ihr kleines, rastlos besorgtes Hauswesen waren, weinte über Schwach wie ein Kind! – Sie erinnerte sich, wie er manchmal an diesem Fleckchen, an jenem Tischende, in diesem Stubenwinkel saß und mit ihr gutmüthig schwätzte; wie er die Kinder hätschelte, sich mit ihnen unterhielt; wie die Kleinen in sein blaues Auge guckten und mit dem »Vetter Schwach« so herzlich lachten! Und jetzt saß der arme Mensch zu Hause; der arme Mensch; denn jetzt war er wirklich arm, sein Eigenthum war mit Gerichtssiegeln behängt, in einem Konkurs einbegriffen, verloren; jetzt saß der arme Mensch zu Hause und brütete vor sich hin, wie ein langsam nach und nach Vergehender.

Das schmerzte sie so sehr!

Denn wenn es auf Mitleid ankommt, wer ist geheiligter darin als ein Weib? Freuden können sie nicht so ahnen als Schmerzen, sie das Geschlecht der Schmerzen, die Mütter, die stets die Leiden, selten aber die Freuden von den Nachkommenden erleben!

Für Schnepselmann war es nicht erst nöthig, in den oft feuchten Augen seiner Frau die Quelle seiner Schmerzen zu finden; er war im Innern gekreuzigt, gebrochen und verstört genug! Er war es, der Schwach's Familiengeheimnisse laut, allseitig in die Welt getragen, und dadurch Schlimmes geweckt hatte, Schlimmes, das sonst nie erwacht und schlummernd geblieben wäre, bis an den jüngsten Tag, so wie es seit mehr als dreißig Jahren, bis zu Schnepselmann's Auftreten, geblieben. Er war es also, der den 180 Prozeß ursprünglich angeregt! – Er war es ferner, der Schwach in die Käsemenger'sche Verwickelung hineingedrängt und sich so übereilt, so rück- und umsichtslos benommen hatte. – Er war es, zum Schlusse, der dem armen Schwach so lange zugeredet, ihn so lange verfolgt, gebeten, gepeinigt, bis dieser sich endlich entschlossen hatte, sein Vermögen Rübe anzuvertrauen. »Schnepselmann« stand also an jedem Unglücke als Aufschrift und Devise obenan! –

Er sah zurück auf dieses Feld seiner vollbrachten Thätigkeit, und er begriff sieh selbst nicht! Er war es, der Schwach durch alle Stände hindurchgeführt oder gezogen, Geistlichkeit, Beamte, Militär, Advokaten, Kaufmannschaft, mit Mädchen, Witwen und Geistern vermählen, mit Kunst und Natur verbinden gewollt – und bei all diesem Kreuz und Quer zog er den Kürzeren! – Schnepselmann konnte es nicht fassen, was er denn eigentlich im Grunde erzwecken gewollt, durch das ewige Gerede und Aufstöbern nach allen Richtungen. – Er dachte an den leidigen Vorfall bei Käsemenger. – Wie hatte er nur eine so wichtige Sache rasch abmachen gewollt, wie einen Butterhandel? – Und Rübe! – War er, Schnepselmann, denn ganz ohne Herz damals gegen Schwach? Und flößte ihm Rübe nach gar keiner Seite den leisesten Verdacht ein? Er wußte eigentlich jetzt gar nicht, wie er seine Ueberlegung damals so klein angeschlagen; wie er die leisesten Zweifel niedergekämpft bis zur festesten Selbsttäuschung in seinem eigenen Innern! Er begriff nicht im Geringsten, wie er das eigentlich gemacht, zu Wege gebracht, daß er von Schwach das Geld für Rübe bekommen! – Wenn man ihm heute nur Eines dieser unglückseligen Geschäfte als Lebensaufgabe hinstellen würde – und die Verhältnisse wären ganz dieselben – er, Schnepselmann, 181 wüßte nicht, wo er anfassen, beginnen, vielweniger zu Ende führen sollte!

Aber so geht es uns Allen. So lange wir von einer Idee besessen sind. sehen wir das ihr Entgegengesetzte, Bessere nicht ein, und gelangen wir dazu, durch schlagende Thatsachen endlich das Richtige zu erkennen, dann begreifen wir unsere Verblendung, unsern brausenden Gedankenwirbel, unser zuversichtliches Zutappen und sorgloses D'reingehen von früher gar nicht.

So war es Schnepselmann. Hatte er sich schon früher selbst zu dem Gegenstande eigener Bewunderung gemacht und angestaunt in den Erinnerungen an die Zeit seiner Magen-, Bürsten-, Extrakt- und Patent-Flanell-Existenz, so staunte er jetzt noch mehr über das letzte Stadium seines Wirkens, und sah somit auf ein ganzes Leben zurück, als auf ein verkehrtes, wirres, unbasirtes Leben, Denken, Thun und Treiben! Selbst das Gute, das er getroffen und gethan, vergaß er; weil jeder neue Gegensatz, zu Anfang, den andern schroff, ohne die geringste Versöhnung und Vermittelung, zurückstößt.

Fort und fort peinigte er sich selbst im Innern, durchwühlte er sich selbst mit den bittersten Vorwürfen des Leichtsinnes, der unüberlegten Raschheit und des umsichtslosesten Indentaghineingehens, wenn es nur – vorwärts gehen sollte!

Schnepselmann, bist Du nicht ein Prototip vieler Tausende, die nicht nur sich, sondern Andere, gedankenwirbelnd, mit einem eigenthümlichen Reiz für Aufregung, blindlings ruinirt haben?

Doch Mitleid mit ihm! Keine Vorwürfe! Schwach 182 sagte milde. »Sie können ja nichts dafür;« – wer will ihm nicht auch vergeben, wenn Schwach vergibt?

Wer will ihm Vorwürfe machen, daß ihm das Herz zu blutreich mit dem Kopfe verbunden war?

»Denken, Ueberlegen!«

Das ist es, darin zeigt sich der Mann; und der Mensch hat darum den Willen, frei und ungehemmt, als das Höhere, das über Blut und Adern, Nervenstränge und Gehirnleitungen steht – der bedachte Wille, das ist der Mensch!

Je reiner, klarer, umsichtsvoller und biederer der Wille – desto höher der Mensch. –

Armer Schnepselmann! Mit aller Selbstpeinigung. mit aller trostlosen Aussicht in die eigene Zukunft, mit allem Bewußtsein, den Freund in das Verderben gezogen zu haben, den Einzigen fast, der ihm im Leben Gutes gethan, den sicherlich Einzigen, der ihm so vieles Gute gethan; – mit aller dieser Last von Schmerzen, sah er nirgends eine Zukunft, eine Besserung für den tief Bedauerten.

Ist es nicht sonderbar, daß er oft zu Schwach gehen, sich dort anklagen, und bei diesem und mit diesem sich peinigen, die Einzelnheiten der Fehler und Uebertreibungen durchgehen mußte, um in dem Erschöpfen des Schmerzes eine augenblickliche Entlastung seines Herzens zu suchen? Die Betäubung war es, die ihn heimlich lockte.

Wie viele Pläne hätte Schnepselmann gerne wieder gemacht und ausgeführt! Aber wenn er in der Gedrücktheit und Wirre seines Gehirns einem Plan auf der Spur zu sein glaubte, zerfloß derselbe wieder, in dem nächsten Augenblicke, in das gerechte Nichts – Schnepselmann war ideenlos! Er war mindestens so unglücklich wie Schwach.

Seine Frau ängstigte sich immer selbst, er werde in 183 eine Krankheit fallen. – Nur seine melancholisch-gedankenwirbelnde Zerstreutheit, im Gebahren mit Lebenden und leblosen Dingen, war zuweilen etwas komisch und rief bei der ganzen wehmüthigen Geschichte den eigenthümlichen Reiz des Lächelns hervor, das sich durch Thränen drängen will.

Krimpler sprach wenig. Krimpler war von jeher der Mann des stillen Denkens, wenn er nicht oft zu stille war, und durch sich, in manchen Beziehungen, wieder eine andere Klasse repräsentirte, welcher oft das »Zuwenig« zugerufen werden könnte. Das Ganze, was er äußerlich that, war, daß er Schnepselmann und Schwach stets zurief: »Lassen Sie Alles nur gehen wie es geht!«

Schnepselmann begriff ihn am allerwenigsten.

Doch Krimpler ließ nicht Alles so gehen, wie er glauben machen wollte. Nicht lange Zeit nach dem tosenden Ausbruche des ganzen Schicksal-Vulkanes saß er in seiner Stube, an einem Tischchen und schrieb:

»Herrn John Steady, Birmingham, England.

Mein bester, theuerer Steady!

Das seit einiger Zeit vorauszusehen Gewesene, mindestens Gefürchtete, ist eingetroffen. Rübe hat fallirt. Der Konkurs ist verhängt, die verwickelten Geschäfte sind noch weit von einer Lösung. – Erlauben Sie mir, daß ich von dem Uebrigen, tief Schmerzlichen schweige, das Ihnen ohnehin die deutschen und die englischen Zeitungen berichtet haben werden.

Mein lieber theuerer Freund, mein Wohlthäter und unvergeßlicher Helfer in der Noth, Herr Schwach, ist schwer betroffen von diesem Schicksalsschlage. Der allergrößte Theil seines Vermögens war bei Rübe interessirt. Der Rest ist 184 als Entschädigung in einer elenden Spekulation beansprucht, von einem gewissenlosen Vater, der einen Versprechensbruch gegen seine Tochter vorgibt. Und alle diese gewissen oder ungewissen Summen zusammen, sind vorläufig unter gerichtlichem Verhang, wegen eines ebenfalls schwebenden Prozesses über das Erbrecht Schwach's.

Denken Sie an die Lage meines edlen Freundes und Wohlthäters zur Zeit der Noth – daß er es gewesen, habe ich Ihnen seit lange nicht verheimlicht – dem Alles genommen, der nur in seiner eigenen Wohnung so zu sagen geduldet ist, und dieß nur dem Umstande verdankt, daß er die Miethe für längere Zeit vorausbezahlt hat!

Ich mag Ihnen den Zustand des armen Wackeren gar nicht schildern. Es ist fast um ihn gethan. Mir bricht es das Herz!

Sie wissen, was er um mich verdient. Jetzt ist die Zeit, oder nie, wo ich einen fast nicht klein genug zu bezeichnenden Theil meiner Dankbarkeit abtragen und einen heißen Wunsch meines Lebens, leider in trauriger Anwendung, erfüllen könnte. – Könnte! – Wie soll ich aber? Ich bin noch immer der alte, arme Buchhalter, mein Gehalt geht, von Gerichtswegen, noch fort, weil erstens keine Kündigung vorausgegangen, und noch mehr, meine Thätigkeit bei der Bücher-Klärung in Anspruch genommen wird.

Sie sind er einzige Sohn Ihres Herrn Vaters. Leihen Sie mir eine Summe von tausend Thalern! Es ist das Geringste, das ich bieten könnte, und kommt anderen bezüglichen Summen des Edlen nicht gleich. Ihr Herr Vater ist Geschäftsmann und nicht nur in Kenntniß gesetzt von den Ansprüchen, die meine Pflegetochter an das Haus Rübe hat; noch mehr, Ihr Herr Vater hat sich edelmüthigst 185 an der Auffindung der wichtigen Dokumente betheiligt, für welche weder ich, noch die eigentlich Betroffene, ihm Zeitlebens Dank genug wissen, am wenigsten abtragen können.

Ohne ihn, mit seinen weitausgedehnten überseeischen Verbindungen, wäre mir das Wenigste möglich geworden. Möge er diese Großmuth vollenden und mir zu solch gutem Zwecke, wie ich ihn pflichtschuldigst beabsichtige, mit gedachter Summe beistehen. Er möge die Güte haben, sie auf die fragliche Erbschaft zu notiren, die, wenn sie noch so ungünstig aus der Konkursmasse hervorgeht, nach meiner bisherigen Einsicht in die Geschäfte, die erbetene Summe weit übersteigt. Daß meine Pflegetochter sie zur Zeit gerne berichtigen wird, darüber hegen Sie gewiß nicht den geringsten Zweifel.

Fordern Sie welche Form der gesetzlichen Sicherstellung Ihnen immer beliebt; ich und meine Adele sind bereit dazu, obwol diese, in Rücksicht daß sie Witwe und noch immer untröstlich über den Verlust ihres Gatten ist, von mir bisher mit der jetzt doppelt betrübenden Geschichte ihrer Abstammung und des damit verbundenen Prozesses verschont wurde. Aber, um Schwach und mir zu dienen, ist ihr nichts zu schwer oder geringe, ein Wort, und sie erfüllt freudig was ich will.

So stehen die Angelegenheiten.

Mein bester Herr Steady! Fast will es mir dünken, als begehe ich eine Unhöflichkeit, indem ich es versuche, Ihnen das Unglück und meinen Schmerz über den Freund recht ans Herz zu legen. Sie bedürfen keiner vielen Worte! Und doch drängt es mich, Ihnen zu sagen, daß Sie, der als junger Mann noch die weite Strecke des Lebens vor sich hat, in demselben vielleicht noch einst eines Freundes 186 bedürfen könnten; und eben blos im Namen der heiligen Freundschaft, gehe ich Sie an, meine Bitte zu erfüllen.

Unser Alter ist ungleich; ich nannte mich Ihren väterlichen Freund, Sie selbst wollten in Güte mich so nennen hören; nun denn, fassen Sie das alte Vertrauen zu mir und denken Sie, daß ich Ihnen nur zu Gutem rathe, Sie darum herzlichst bitte.

Verzeihen Sie meine vielen Worte; aber ich mußte sie sagen, weil es mir doch war, als müßte ich sie aussprechen. Als Beweis des Vertrauens zu Ihrem Herzen drücke ich jedoch aus, daß Sie, falls Sie die Summe selbst besitzen, Sie sicherlich sofort senden und mithin durch nichts aufgehalten sein werden, falls Sie nicht anderseits erst mit Ihrem geschäftsbelasteten Herrn Vater sprechen müßten.

Ich grüße Sie, mit dem väterlichst-freundlichen Segen, und verbleibe mit aller Achtung

Ihr ergebenster
Krimpler.  

N. S.: Otto und Rose-Marie würden Sie sicherlichst herzlich grüßen, wenn sie wüßten, oder wissen dürften, daß ich Ihnen schreibe.

Daß Beide Sie im Geiste herzlich grüßen, daran zweifeln Sie sicher nicht. 187



 << zurück weiter >>