August Silberstein
Herkules Schwach. Zweiter Band
August Silberstein

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Sechsundvierzigstes Capitel.

Schluß von Aster's Geschichte.

In die wirren kleinen Nebenstraßen der Vorstadt war Aster bei jenem schauerlichen Selbstgespräche gekommen; und kaum wußte er, wo er sich befand. War er doch nur vorwärts gewandelt, um seinem drängenden Körper Bewegung, sich Luft, Licht und Freiheit zu verschaffen, welche ihm die enge Stube nicht bot.

»So will ich gehen – so will ich mich opfern!« tönte es nach in seinem träumend versunkenen Innern, und sein eigen Schwanenlied hallte, fast sich aufdrängend, in seinem Herzen wieder.

Da hörte er plötzlich eine Stimme vor sich, und ganz in seiner Nähe klang es, von ernstem Männermunde, zu den Tönen einer Handorgel:

»Auferstehen, ja auferstehen wirst Du
Mein Staub, nach kurzer Ruh!« 359

Aster, bis ins Mark erschreckt von diesen ihn treffenden Worten, warf den Blick, der zur Erde gesenkt war, empor und hielt unwillkührlich mit dem Schritte an.

»Unsterbliches Leben wird der Dich schuf
Dir geben – Gelobt sei er!«

sang die Stimme weiter.

Aster stand noch immer stumm und starr, wie vom Schreck gelähmt, an der Stelle und konnte nicht weiter. Sein Auge sah vorwärts – er kannte den alten Mann mit der Drehorgel. Es war der stelzfüßige, benarbte Invalide Brunk.

Dieser sah den jungen Herrn nicht, den er kannte – da er bereits in seine Kreise gekommen war – und sang und leierte sein Lied weiter.

Als sich Aster nicht bemerkt sah, faßte er endlich wieder Herz, wendete den Schritt, und trat den Weg wieder zurück an, den er gekommen war. Nicht um die Welt mochte er jetzt, mit seinem Armensündergesichte, vor dem alten Orgelmanne erscheinen!

Aber die armseligen Töne der Leier, die ungeschulte, reizlose, ernst eindringende Stimme des Alten, ließen den Unglücklichen nicht weiter. Fast mit magischer Gewalt zog es ihn, und er blieb an der Ecke der Straße stehen, lehnte sich an die Erkersäule des Hauses, und mit verschränkten Armen, zu Boden gesenkten Blicken, horchte er auf die Klänge des Liedes, die leise, leise, aber doch herüber zogen.

So stand er eine Weile.

Wer weiß es immer, welchen Einfluß ein Mensch auf das Geschick eines Andern nimmt, wenn auch nur durch ein Wort, eine einzige That, ein flüchtiges Begegnen? – 360

Ist es nicht der Reiz des unerschöpflich Guten, das aus guter Handlung entspringen kann, das wir wol schwach nur ahnen, aber doch immerhin ahnen können, was den Guten gut handeln läßt?

Und so trägt selbst das kleinste edle Lied unerschöpfliche Kräfte in sich, so wie das Verderbende stets des Verderbens Keim um sich streut, der auch aufgeht und wuchert.

Klopstock ist der edle, gesegnete Mann, der das »Auferstehen« gedichtet.

Brunk, der Leiermann, der in seinen alten Kasten jenes alte Lied setzen ließ, hat ja auch Theil an dem Segen.

Und so stand der stürmische, wildbewegte Weltkämpe, an dem Steine und horchte – ein einfach Liedlein that's ihm an.

Welche Gedanken seine Seele bewegten?

Er stand und horchte . . . das Lied ging zu Ende.

Aber er stand noch eine Weile und neigte sein Ohr hinüber nach der Straße, aus der die Leiertöne kamen.

»Was blasen die Trompeten? Husaren heraus!« jubilirten nun die Pfeifen und der Alte dazu. Es lag so viel frisches Leben in diesen Tönen, so viel Siegeslust und Zuversicht, daß ein niedergebeugtes Herz sich unwillkührlich daran laben mußte.

Zudem ist das Lied ja ein echt Deutsches, das von vaterländischen Siegen meldet – wie sollte das nicht in Aster's Herz anklingen!

Er hob den Kopf mehr, er sah um sich; es war ihm plötzlich als hätte er geträumt; – und eine unwiderstehliche Regung zog ihn nach dem Manne und seiner Leier.

Er schritt, wol zerknirscht und mit schmerzlichem 361 Bewußtsein, aber doch unwiderstehlich angezogen, zu dem Alten und der Orgel.

Er suchte in seiner Tasche um ein Geldstück.

Er fand es, und nahe gekommen reichte er es Brunk, dessen Narbe sich freudig röthete, als er den jungen Herrn sah, den er wohl kannte.

Die Düsterkeit fiel Brunk nicht auf.

Er grüßte höflichst und frug um das Befinden.

Aster's Stimme bebte, als er antworten sollte; ebenso zitterte seine Hand, als er das Geldstück reichte.

Brunk erhielt kurze, aber zufriedenstellende Antwort. Doch Aster hätte nicht stille gehalten vor dem Stelzbeine und dem Leiermanne, um keinen Preis!

Brunk leierte fort; seine »Trompeten bliesen die Husaren heraus,« und der alte Blücher, Marschall Vorwärts, »kehrte Deutschland mit eisernem Besen« rein aus, wie es der wackere Arndt haben will.

Aster bewegte sich immer in den Straßen, wie im Kreise, um die Töne der Leier herum.

Wollte er, ohne sich selbst es gestehen zu wollen, wieder zu dem Invaliden zurück gelangen, oder war es Zufall . . . . da, kaum zwanzig Schritte entfernt, hatte er den alten Bekannten, das Gestelle und den Kasten wieder vor sich, ganz in früherer Weise.

Brunk drehte und sang.

Plötzlich hielt der Alte inne, die Kurbel stand stille, das Lied brach auch ab – der Mann strich kein Geld ein, wie Aster einen Augenblick geglaubt hatte, da er im erschöpften Herumirren des Blickes denselben einen Augenblick außer Acht ließ; Brunk humpelte rasch von seinem Leierkasten hervor und einem Weibe zu, das ein Kind auf dem 362 Arme trug, und dem noch zwei etwas größere Kinder zu beiden Seiten gingen, ein Mädchen und ein Knabe, mit den Händchen an ihrem Kleide sich klammernd.

In der Nähe des Alten ließen die Kinder das Kleid des Weibes – der Mutter? – los, und eilten auf den Graubart zu. Dieser huckte schon auf dem Pflaster – und fing mit seiner breiten Brust die seligen Kleinen auf, die sich daran warfen.

Das war ein Küssen und Kosen!

Aster hielt abermals inne.

Kannte er die Kinder nicht?

Waren es nicht die Kinder Helene Ludolf's, jenes – Opfers im Spitale!

War nicht Liese das Weib?

Er mußte ja Alle kennen!

Wie vor einem strengen Gerichte stand Ernst, mit pochendem Herzen und fliegenden Pulsen.

Welche Welt von Gedanken in ihm!

Hans Bolte, der Mediziner, stand vor seiner Seele – dessen Leichenkammer und sein »großes Unbekanntes« – Adam der Leichenhändler und sein Grab-Tiger – die verklärte, vergehende Mutter im Spitale – das geahnte Bild des Mannes, welcher Weib und Kind verlassen.

Das wogte wirr und bedeutungsvoll durcheinander, verschwamm in einem Nu und gränzte im nächsten Augenblicke sich wieder lebhaft mit den hellsten Farben auseinander.

Das arme Herz Aster's! –

Er konnte sich endlich nicht enthalten, er mußte zu der Gruppe.

Er ging wieder hin und grüßte. 363

Der Alte und sein Weib grüßten, freudig überrascht, wieder.

»Kennt ihr den Herrn?« frug Brunk sogleich Arthur und Mine, die an dem Angekommenen mit ihren großen, schwarzen Augen emporsahen.

Eine Welt von Leben und Gedanken blickten die Kinder in Aster's Auge hinein.

Er tastete mit seiner Hand nach ihren dichtbeharten, seidenglänzenden Köpfchen und kosete sie.

Er war zu bewegt, um zu reden.

Liese ließ es am Gespräche nicht mangeln und erzählte sogleich, daß an jenen Wochentagen, in denen ihr Alter nicht zu weit weg von der Wohnung orgle, sie ihn während des Tages mit den Kindern aufsuche. Und spazieren führe sie ja die Kleinen ohnehin täglich!

Aster sah unabgewandt in die Kindesaugen.

War er glücklich, daß er kein solches Pfand Adele's besaß? Bedauerte er es?

Er dachte der Mutter der armen holden Kinder – er dachte an deren Vater!

Er konnte sich endlich der Frage nicht enthalten: »Wo ist der Vater; haben Sie von dem Vater der Kinder nichts gehört?«

»Gesehen nichts,« sagte Brunk, »und gehört fast eben so wenig. Doch . . .«

Liese sprach dazwischen. »Dr. Bolte, der die Kinder manchmal besucht, sagt, er soll in Amerika sein!«

»In Amerika!« rief Aster überrascht. »Er lebt?« 364

Und Liese setzte weitläufiger ihre Vermuthungen über Ludolf auseinander.

Aber Aster verfiel wieder in sein verschlossenes Brüten – die Röthe flog wieder über seine Wangen – er grüßte rasch und eilte davon.

Da war die Gruppe der Alten und Jungen wieder allein beisammen, und nach kurzen Worten über den seltsamen Herrn, ging wieder das Fragen und Kosen los.

Aster irrte in den Nebenstraßen.

Das Lied summte in seinen Ohren – der Leichenhändler stand vor seiner Seele – die Kindesaugen lachten ihn fragend an – ihr Vater stand undeutlich gestaltet vor seinem Geiste – die Leichenkammer – die opfernde Witwe zeichneten sich deutlich vor ihm ab – seine Lippen zuckten, seine Wangen blaßten bald und flammten bald – sein Auge glühte dunkel.

Alte und neue Gedanken.

»So gehen wir – so enden wir – so muß es schließen!« – 365



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