August Silberstein
Herkules Schwach. Zweiter Band
August Silberstein

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Zweiundzwanzigstes Capitel.

Welches Capitel eigentlich blos ein großartiger Sonntag oder drei Verbündete im Glanze heißen sollte, das jedoch einen so bunten Jahrmarkt von Ereignissen. Menschen und Dingen, lustigen und traurigen, verkauften und unverkauften bringt – daß nicht unterlassen werden kann, schon jetzt darauf aufmerksam zu machen.

Der kleine, dralle, schelmische Poll stand in der Küche.

Sehr zierlich setzte er ein Bein vor das andere, hielt mit beiden Händen sehr graziös den Hut vor sich und beugte den Oberkörper gegen Madame Trullemaier, die vor ihm auf einem Stuhle saß.

»Meine hochgeehrte Dame!«

»Was macht er schon wieder für Dummheiten?«

Poll ließ sich nicht stören und fuhr mit größter Grazie und Gelassenheit fort: »Meine hochgeehrte Dame! Lange ist mir schon das Vergnügen zugetheilt geworden, an Ihrer Seite das Schicksal meines Lebens zu genießen. Ich fühle mich sehr erfreut und beglückt, und würde noch glücklicher sein, wollten Sie, meine Hochgeehrteste, die Freude dieses Lebens mit mir theilen.«

»Wa – a – a – as?« sagte die Trullemaier, die erschreckt und verwirrt an einen Heiratsantrag dachte.

»Es wunken schon viele Sonntage mit ihren Vergnügungen, ohne daß ich recht theilzunehmen gesonnen war, und noch weniger bemork ich, daß Sie dergleichen genießen. Das Wetter ist sehr schön, und ich hoffe, daß, wenn es morgen eben so schön sein wird, ein sehr schöner Tag uns beglückt. Ich möchte daher bitten, meine hochgeehrte Dame, wenn Sie 25 mir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft leisten wollten, mich morgen, wenn Sie mich nicht verachten und zu geringe schätzen, als »Galanten« anzunehmen und mit mir des schönen Tages zusammen zu genießen.«

Madame Trullemaier, Anfangs der Periode aus einem andern Gesichtspunkte horchend, fand sich doch in deren Sinn und lächelte.

»Sie verstehen mich? Einen Sonntagsspaziergang, dessen Kosten, als Galanter, ich . . . .«

»Er will mich ausführen, Poll?«

»Allerdings; wenn die Geringschätzung meiner Person . . . .«

Madame Trullemaier, der manche höherfliegende Fantasien den Kopf oft verwirrten, sah hier doch eine Gelegenheit, ohne der Zukunft Schaden zu bringen, ihrer Gegenwart, wie die Diplomaten sagen, Rechnung zu tragen. »Was würden die Leute sagen . . .« sagte sie sehr diplomatisch, ohne mit diesen Worten ihrer Würde, ihrer Zartheit und weiblichen Verschämtheit etwas zu vergeben.

»Eine sehr geehrte Dame, geschätzt von Hausgenossen, in bereitwilliger Tugend . . . .«

»Und Herr Schwach?«

»Herr Schwach wird sicher nichts dagegen haben, da morgen meine Sonntagstour; und Sie, geehrteste Frau Trullemaier, ein einzig Wort . . .«

»Na, da haben Sie recht, ich brauche nur davon zu erwähnen . . . .«

»Allerdings, und der gute Herr . . . .«

»Das wollte ich schon machen; aber Livree . . . .«

»Livree und eine Dame von Geburt und Stand schicken sich nicht. Sehr richtig; aber bisher großmüthig ertheilte 26 Gelder und einiger sehr schmeichelhafter Pump haben mich in den Stand gesetzt . . .«

»Was? Bereits ein Zivil . . . .«

»Ganz zivilisirtes Gewand, fein, echt Kavalier und geadeltes Publikum! Morgen zum erstenmale angezogen, zu Ehren der ausgeführten Dame, mir eine Hochschätzung!«

»Und ich nehme zum erstenmale meine neue Haube, meinen großen Schal . . .«

»Sie willigen ein? – Ich bin entzückt!« Dabei stülpte er seinen Hut rasch auf den Kopf und versetzte ihm einen Schlag, damit er festsitze. »Das soll groß werden!« sagte er nun im einfachen, durchaus nicht mehr deklamatorisch-zeremoniösen Tone, mit gewöhnlichem, gesprächigem Ausdrucke; denn bei Poll war es nie klar, strecke er Sätze zum eigenen Vergnügen, oder leide er wirklich an dem allgemeinen Fehler der niedern Stände, sich in endlose Perioden und Tropen zu verwickeln, so oft sie einen höhern Ton anschlagen und fein sein wollen. »Sie in Ihrem Sonntagsputze, und ich wie ein Geheimrath – das soll Augen geben! Und schonen will ich gar nichts, wenn auch Alles d'raufgeht!«

»Na, was die Kosten betrifft . . .«

»Sie werden mich doch nicht beleidigen? Wirklich das wäre eine Beleidigung; und mein Gefühl . . .«

»Na, beleidigen will ich nicht, Poll.«

»Abgemacht!« Und er hielt die offene Handfläche zum Dreinschlagen hin.

»Abgemacht!« Die Trullemaier reichte die Hand.

»Und hören Sie was ich gedacht habe. – Könnten wir nicht Alex . . .«

»Alexi mitnehmen?« 27

Poll nickte. »Das ist die Sache! Das gäbe eine großartige Familienfeierlichkeit!«

»Das wäre mir gerade recht. Aber . . .«

»Was aber; da gibt's kein aber; Herr Schnepselmann muß ihn morgen loslassen; geben Sie mir nur die Erlaubniß für ihn hinzugehen! – Alexi gibt uns die wahre Würde einer höhern Familienfeierlichkeit, und der Dame eine Sauf-Garde (sauve garde) wie man sagt. Verstehen Sie, ich und Sie« . . . hier zeigte er mit dem Finger hin und her zwischen den Persönlichkeiten und zwinkerte schalkhaft – »Gefahren der Liebe . . . Alexi Schutzgeist . . .«

Ein kleiner Klaps erfolgte, dann sagte sie mit Würde: »Nun, das ist ganz recht und ist erst recht nobel!«

»Kosten . . . Kleinigkeiten! Ganz hier der Mann!« Er klopfte auf seine Brust.

»Und Alexi hat auch einen Zivilrock und braucht keine Livree,« sagte Madame Trullemaier sehr gesprächig. »Ich habe ihm schon lange einen im Vorrath gekauft, auf Wachsen berechnet, und jetzt muß er ihm passen wie einem Engel. Und einen Hut . . . Ja keinen Hut . . .«

»Gelassen! Ist sein liverirter was werth?«

»Nicht viel, der wilde Junge balgt ja so viel!«

»Thut nichts! Mein Wochentaghut genommen, das Band abgehoben und ein anderes hingegeben, großartig für Alexi, ganz nobel – rein ausgebürstet!«

»Der Junge hat ja einen Kopf wie ein Großer, und der Hut wird ihm passen.«

»Wie dem Thurm das Dach. Nur Philosophie!«

»Ganz recht! Na, und was an mir ist . . .« Ein sehr werthvoller Blick. 28

Soll die Welt staunen! Hoch, es lebe der morgige Sonntag!« Er warf dabei den Hut in die Höhe und fing ihn geschickt, mit dem Kopfe so wieder auf, daß er sogleich darauf fest saß.

Was die beiden Spaziergänger noch miteinander abmachten, welche Vergnügungspläne sie schmiedeten, welche Wunder Poll von den »Buden« voraussagte, wo er lauter Bekannte habe und Madame Trullemaier zur Beschauung selbst der raresten Wunder aufführen wolle, das würde uns zu weit führen. Madame zeigte ihre längst nicht benützten, außerordentlichen Prachtstücke und ließ sie bewundern. Selbst Alexi's schwarzen Rock mit tausend Krümpen hob sie aus der Schublade. Und Poll zu sehen, wie er ihn an der Schlinge hob und ihn, in die Luft frei vor sich hinhaltend bewunderte, war schon ein heiteres Familienereigniß.

Schwach hatte seine Zustimmung gegeben; Alexi war ausgebeten, geholt, gewaschen, gestriegelt und geputzt; die Stunde des Ereignisses stand vor der Thüre.

Poll mit Alexi mußten vorausgehen und an einer bestimmten Straßenecke warten, um die Würde der Dame nicht zu sehr vor allen Nachbarn und nähern Bekannten zu kompromittiren. An der Straßenecke traf Madame Trullemaier, nach kurzer Zeit, mit dem Galanten und der Sauf-Garde zusammen.

Da gingen sie, die drei Vereinten, den Weg entlang, »unter die Buden,« an das ersehnte Ziel!

Madame Trullemaier vor Allem!

Wären glücklicherweise die Geheimnisse der Frauenwelt nicht so rücksichtslos von den Wäscherinnen und Modewarenhändlern den Augen Aller täglich ausgesetzt – es wäre ein erschreckendes Ereigniß gewesen, Madame Trullemaier, 29 die man von gestern gekannt, heute zu begegnen. Dreimal so umfangreich, nahm sie den dreifach entsprechenden Raum ein. Doch jeden Schreck über naturstörende Anhäufungen mußte ein zweiter Blick beschwichtigen. Wie leicht, wie graziös, wie holdselig blickend hing sie an Poll's Arm, während ihr Haupt leise wackelte, wie etwa eine Zitterrose von Leinwand, die an geschnörkeltem Draht hängt! Dies Haupt war ferner von den unvergleichbar wirksamen feuerfarbenen Haubenbändern umkreist, und das Kinn-Ende mit zwei Schleifen besetzt, in denen zwei Wachtelpare ganz bequem hätten Familien-Nester anlegen können. In der Hand hielt sie, nebst dem Schnupftuch, noch einen Beutel, der gegen ihren einstigen berühmten nur ein verächtlicher Zwerg war. Sie schwebte auf den Zehen, so daß ihre Ganzheit die Frage an die herankommende Menschheit zu stellen schien: bin ich nicht herzerquickend, und wo ist noch eine zweite Dame, gleich mir?

Poll, in einem Rocke von sehr bemerkenswerther franzblauer Farbe, dessen Kragen sich hinten sehr hoch hob und an seinen Hinterkopf drückte, war galant sonder Gleichen. Dazu trugen, nebst seinem luftig zwischen Wirbel und Augenbrauen schwebenden Hute, wesentlich die weißen Baumwollhandschuhe bei, die er, Damenwünschen nachgebend, über seine Finger bestülpt. Und wenn sein rundes Gesicht mit den klaren Augen immer einen heiteren Anblick gewährte; so besaß es doch heute einen solche Beigabe von würdigem Ernst, daß dieser erst allmälig von seinem eigensten Selbst überwunden werden mußte.

Aber Alexi, Alexius war in seiner Art der Größte! Er selbst war wol nicht so groß; aber Poll's Hut, der eine geziemende Höhe besaß und mit Zeitungspapiereinlagen an 30 des neuen Trägers Haupt geschmiedet worden war, vermittelte sehr viel. Das Schuhwerk, welches Schnepselmann lieferte, war sicher um fünf Jahre zu früh für Alexi zur Welt gekommen, aber aus großmüthigen Rücksichten, demselben doch vor der Zeit zur Benützung hingegeben.

Auf die ganze Höhe eines Tagesereignisses hoben aber Alexius empor, ein sehr schwarzer langer Rock, der wol seines Großpapa Leben, Bratenabenteuer und Kirchenfahrten im schauerlich dunkeln Gedächtnisse haben mochte; ferner eine himmelblaue Sammtweste mit Bronce-Knöpfen, welche, da sie seine früheste Jugend gesehen hatte, in entschiedener Abneigung gegen den Magen, sich stets ober demselben verhielt; zuletzt noch ein breiter Hemdkragen und ein Schnupftuch von zweifellosester Weiße! – Daß das Schnupftuch sich nicht begnügte, dem ereignißvollen Tage, in der Tasche, zurückgezogen beizuwohnen, sondern vielmehr aus der Oeffnung, in der Gegend der Waden, ein erschrecklich langes und steifes Ohr mit rastloser Neugierde in die Welt zu strecken beharrte – war eine vollendende Zugabe.

Nebstdem die Blicke Alexi's und sein Gang! Das großjährige Ansehen, das er sich, vor den Beiden gehend, zu geben suchte! Er that, als wäre er gänzlich allein, während die Nachfolgenden, besonders Mama, den »Kleinen« zu protegiren suchten, und ihm über Haltung, Weg, Kleider, allerlei Weisungen zukommen ließen, die er nobel verachtete! Alle Drei bildeten eine herrliche Gruppe, welche kein Stereoskopist hätte graziöser zusammenzustellen vermocht.

Bei dem Eingange in den grünen Plan, auf dem die Hütten oder Buden sich befinden, stand ein alter Mann, mit einem kräftigen grauen Schnurbarte, militärischer Haltung, einer tiefen Narbe über Stirn und Wangen, und einem 31 Stelzfuße. Der Invalide mit dem Kreuzlein im Knopfloche, drehte einen alten, gebrechlichen Leierkasten.

Poll blieb vor ihm stehen und sah ihm ins Gesicht.

»Ist . . . seid Ihr . . . ist das nicht Poll Hinze!?«

»Grüß Gott, Vater Brunk!«

Madame Trullemaier stützte sich auf Poll und blickte, als ließe sie es sich aus »nobler Passion« gefallen, daß ihr Begleiter sich zu einem solchen gemeinen Teufel herablasse.

»Poll, Ihr seht ja wie ein Oberst in Zivile!« Dabei hörte der Alte auf zu drehen und ging zu seinem Bekannten hervor, welche Intimität Alexis, alle Würde vergessend, sofort benützte, um die Drehorgel zu beschäftigen und sich als Virtuose zu versuchen. – Kaum waren die ersten Töne zu Alexi's vollkommener Zufriedenheit gelungen, so rief ihn schon seine Mutter abwehrend an.

»Ei, lassen Sie ihn,« sagte Brunk lächelnd; »er verdirbt nichts mehr!« Dann wendete er sich wieder zu Poll und blickte sehr freundlich auf Madame.

»Geheirathet Poll? Junges Ehepar?«

Madame erröthete sehr kunstvoll und knixte sehr graziös, den Kopf wegwendend.

»Nicht im Geringsten!« sagte Poll. »Ehre vorzuführen meine hochgeehrte Madame Haushälterin bei Herrn Schwach, wo ich zu dienen die Ehre genieße.«

»Ah, doch noch der frühere Herr, von dem Ihr erzähltet, der gute Mann?«

Poll bejahte.

»Nun, tausendmal willkommen!« sagte erfreut Brunk. Und er nahm ohne Weiteres der Dame Hand und drückte sie recht herzlich. »So ein guter Herr hat gewiß nur 32 vortreffliche Leute! Und was meinen Poll betrifft – ich lasse nichts auf ihn kommen!«

Jetzt tauchten in Madame, welche die verletzte Noblesse immer mehr und mehr zu überwinden schien, durch diese trauliche Rede, Erinnerungen an eine Erzählung Poll's auf.

»Ist das nicht der Invalide . . .«

»Vom Paradies, Liese's Mann? – Das ist der Vater Brunk!« sagte Poll erfreut.

»Ah!« – Die Trullemaier machte ihm jetzt einen rechten Knix und drückte ihm mit Herzlichkeit die Hand.

»Danke, danke schön für die Erinnerung! Stehe in Poll's Schuld, werd's nie vergessen. Mein Leben, eine Schlacht für ihn! – Das ist ein Mann! Wäre ich ein Frauenzimmer . . . Doch da darf ich nicht d'rein reden!«

»Warum sind Sie noch gar nicht in unsere Nähe gekommen? Hab immer gedacht, müßte Sie einmal sehen.«

»Glauben Sie Madame, der stützköpfige Poll hätte mir die Adresse gesagt? Nicht um die Welt! Dachte sicher an Dank! Aber wenn Sie mir selbe sagen, eine Kugel soll mir das andere Bein wegreißen, wenn ich nicht wenigstens wöchentlich einmal meine Besten aufspiele!«

Und Madame Trullemaier beschrieb Straße und Haus genau; Brunk versprach ein baldiges Erscheinen.

»Was macht Liese? Ich sehe sie ja nicht,« sagte Poll, und seine Begleiterin stimmte mit einer ähnlichen Frage um Frau Liese ein.

»Na lassen wir das,« sagte Brunk abwehrend; »nicht gerade am allerbesten; aber auch nicht . . . na, was kümmert Ihr Euch um Dinge, die Euch heute gar nicht angehen! – Fort zur Unterhaltung, junges Volk!« rief er, seine eigene Laune anspornend. »Lustig, es ist nicht alle Tage 33 Sonntag und man geht nicht alle Sonntage spazieren!« Dabei drängte er Poll fort und machte Anstalt wieder hinter seinen alten Leierkasten zu humpeln.

Alexi hatte indessen seine Virtuosität weiter ausgebildet, und zu einem Grade, namentlich in Begleitung von Grimassen, daß die wandelnden Jungen stehen blieben und sich um ihren Herrn, Meister und Kollegen sofort lieblich scharten. Schon begannen sie sogar Tänze, als zu rechter Zeit Brunk an der Kurbel erschien. »Ah,« sagte er lächelnd, »Sohn?«

Poll nickte.

»Gut, Junge! Lustig, Kourage! – Nun ich rede kein Wort mehr; ich finde Euch Alle schon; gute Unterhaltung!« Und er zog an der Spindel seines Kastens, brachte seinen besten Marsch hervor und spielte ihn auf, während Poll, Madame und Alexi sich gezwungen sahen von ihm zu scheiden und nach dessen Takten fortzuwandern. Das freundliche Zurückwinken wurde mit Lächeln erwidert.

Eine gute That zeigt fortwährend Gutes, wie entgegengesetzt eine böse That Böses; und die wohlthuenden Gemüthsbewegungen in allen diesen Menschen waren Zeuge davon.

Unsere Spaziergänger gelangten nun immer näher dem eigentlichen Schauplatze der Lustbarkeiten. – Welch' Gewirr'! Ein Toben, Trommeln, Ausrufen, Trompeten, Rasseln von Ringelspielen, Gelächter über Bajazzi, Kreischen, Brüllen und Heulen von Menageriebewohnern, Klimpern von Harfen, Piepen von Drehorgeln, Schießen in Waffenbuden, Bellen sich durch die Massen hetzender Hunde, Vogelpfeifen sich amüsirender Jungen, und Tohuwabohu ähnlicher lieblicher Töne! – Welche Merkwürdigkeiten waren da zu sehen! – Ein Ochs mit sechs Beinen und ein Mensch mit gar keinen 34 Beinen, Riesen und Zwerge, gelehrte Hunde, Seelöwen, Landbären, Vögel, Elefanten und Pferde, Affen und Kunstreiter, Panoramen der ganzen Welt und noch einiger Dörfer dazu, Kraftmeßmaschinen, Nebelbilder, Wachsfiguren, Feueresser, Zauberer und Messerverschlucker, die ganze Welt schien aus den Angeln getreten und bisher ungekannten Auswüchsen, Gliederverrenkungen, philosophischen Viehern, Ungeheuerlichkeiten und Kassen-Sitzenden Platz gemacht zu haben. Was da Alles gemalt war! Schlachten mit mehr Blut als Schlachtfeld; Ueberschwemmungen mit mehr Wasser als Himmel und Erde; feuerspeiende Berge, die Zinnober zentnerweise auswarfen; Krokodille, die sehr merkwürdige Neger auf einen Bissen verschluckten wie einen Löffel Suppe; Flotten, die mit erstaunlicher Segelwäsche auf großen grünen Zuckerhüten Schwebe hielten, welche vermuthlich Meereswellen sein sollten; Thiere, die nie erschaffen doch naturgetreu abgebildet waren; Gegenden die nie über Meeresfläche gewesen, doch sehr bekannte Namen trugen; und Admirale, Generale, Kriminale, Intellektuale, Royale, Loyale und Illoyale, kurz allerlei »Ale«, welche eine erschreckliche Menschen-Kenntniß hätten besitzen müssen, um sich in diesen Porträts selbst wieder zu erkennen. Dies Alles war umweht von Wimpeln, Stricken, Fahnen, Flaggen, Anschlagzetteln und losgerissener Leinwand – im Gesammt sehr harmonisch für Augen und Ohren!

Der Eintrittspreis – herein meine Herren und Damen – dies war Hauptsache von Allem! Hier war etwas nur noch heute, dort nur noch das Letztemal, dort das Allerletztemal zu sehen, hier fing man gleich an, dort wollte man so eben anfangen, hier hatte man so eben angefangen, dort war der Anfang, hier war immer der Anfang, dort fing 35 es mit jedem Augenblicke an! – Alexi wußte nicht was er zuerst thun solle. Kaum hatte er hier ein äußerst kostbares Bildniß beschaut, so mußte er schon dort durch ein Loch ins Innere einer Bude blicken und mit den Jungen, seine Würde vergessend, um den Gratisplatz balgen. Hatte hier ein Pelikan seine zarte Aufmerksamkeit gefesselt, oder ein Affe seine geistreichen Gestikulationen herausgefordert, so war dort schon wieder ein Vorhang, der aufgehoben, oder eine Trommel, die mit den Knöcheln gerührt, oder eine Wachsfigur, deren Nase näher untersucht werden wollte. Wenn auch Alexi's Mutter sammt Poll, diesem seinem innern Berufsdrange nicht nachgeben, vielmehr durch ermahnendes Anrufen hinderlich sein wollten, so fand er es doch für gemessenste Pflicht, jeden Augenblick zu entschlüpfen und der geheimen Schicksalsstimme, die ihm gebietend rief, treulich nachzufolgen.

Poll schritt durch diese Wunder mit einer Gleichgiltigkeit, als wären sie ihm alltäglich. Was er aber, aus ehemaliger berufsmäßiger Mitwissenschaft, gegen die Wunder vernachlässigte, ersetzte er sattsam in zarter Aufmerksamkeit gegen seine Dame.

Eines konnte er sich doch trotzdem enthalten auszurufen: »Abgerichtete Kaninchen haben sie doch nicht! – Das ist mein Stolz!«

»Hat der Poll denn auch hier mitgespielt?«

»Allerdings, das habe ich. Aber Gott sei Dank, daß ich's los bin! Denn, meine beste Madame, Sie können es mir wirklich kaum glauben, was da für ein Elend steckt! Die Jungen und die Alten, die Sie da in Sammt und Flimmern glänzen sehen, haben oft kaum das Brod und selten ganze Hemden!« 36

»Was, die schönen Leute?«

»Wie ich Ihnen sage. Und wenn das Lumpenleben nicht eine solche, eine solche . . . wie sage ich nur . . . . anziehende, verführerische Geschichte in sich hätte, viele arme Teufel wären längst in die Stricke, oder ins Wasser gerannt. Gottlob ich bin draußen und hab's über's Herz gebracht. Vielleicht könnten Sie mich sonst heute sehen mit meiner Rosine!«

»Da muß aber doch viel Geld eingekommen sein?«

»Ja; und die Bude, und der Zettel, und die Steuer, und die Woche, in der man nichts gehabt, fressen es rein auf; wenn man nur für morgen was im Sack behält. – Alexi ärgere den Mann nicht! – Ach Gott, was habe ich mit den Jungens ausgestanden; das allein ist doppelten Tagelohn werth! – Alexi bohre kein Loch in die Leinwand!«

»Alexi, mußt Du Deinen Hut dem Affen hinhalten? Wenn er ihn faßt!« Und schon hatte der Affe Alexi's Hut, und bearbeitete denselben zum allgemeinen Gelächter, bis ihm Alexius den zarten Gegenstand, mit einem sehr humoristischen Klaps auf den Kopf, wegriß.

»Sehen Sie,« fuhr Poll nach dem erledigten Zwischenstücke wieder fort, »jenen langen hagern Mann mit dem blauen zugeknöpften Rocke, dem wachsfärbigen Gesichte und den feuchten großen Augen, die herumglotzen, jenen Mann dort vor dem Panorama? Hören Sie ihn ›meine Herrschaften!‹ rufen und die merkwürdigen Gegenstände aufzählen, die da zu sehen sind? – Wenn der Mann um fünf Groschen Lunge in seinem Körper hat, so heiße ich meinetwegen Rosine, und wenn ein Groschenbrod nicht oft bei seinen Kindern zu den seltensten Gegenden gehört, noch seltener wie die Gegenden in seinem Panorama, so, so will 37 ich selbst wieder Kaninchendirektor werden. – Alexi reiße den Zettel nicht herunter!«

»Ich habe oft gedacht,« sagte Madame Trullemaier, »wo diese Leute nur stecken mögen? Hab' in meinem Leben nie Einen von ihnen wohnen gesehen und nicht einmal erfahren, daß Einer irgendwo gewohnt hätte. Ist doch sonderbar. Woher kommt das?«

»Das ist sehr einfach! Die Leute wohnen in solchen elenden Spelunken, oder abgelegenen Gegenden, daß selten ein bürgerlicher Mensch hinkommt. Aber am Sonntag müssen Sie rein dastehen, wenn nicht gar im Glanze.«

»Halloh!« unterbrach er sich plötzlich, sich selbst vergessend, »ist das nicht die Kranz'sche Gesellschaft? Wahrhaftig, das sind die Jungens!« Und er zog, neubelebt, Madame Trullemaier vorwärts, zu einem großen Reiter-Zirkus, dem elegantesten Schauplatze der Buden. Alexi war vorausgeeilt, stand bereits nahe an einem Manne mit einem krebsrothen goldbetreßten Fracke, hohen glänzenden Reiterstiefeln und eisenfresserischem Ansehen. Die weißen, rothen und blauen Fahnen in seiner Nähe, gaben ihm einen sehr romantischen Hintergrund. »Wahrhaftig, die Kranz's sind da; die müssen wir sehen!« rief Poll, und Madame Trullemaier lächelte, bei dem Gedanken an Kunstreiter, sehr vergnügt. Die Feuerfarbigen kamen in lebhaft nickende Bewegung.

Poll zog seine Dame lebhaft mit sich, und nach wenigen Augenblicken stand er vor den Reiterstiefeln, derem Träger fest in's Gesicht blickend.

Der Schnurbart hob und senkte sich. »Hi – Hi – Hinze! Seh' ich recht?« rollte die rauhe Stimme des Kranz'schen Stallmeisters hervor. 38

»Bin's, Gott zum Gruß, Hermann Krulle!«

»Ei der Tausend! Wo hat der Wind den Hinze seit lange hingeweht?«

»Schicksal, Schicksal, mein Gutester! Alles gesund? Die Famosa, die Belluna, der Samson und der Negus?«

»Na, soso! Kann man Euch später sprechen? Wollt Ihr hinein zu uns?«

»Natürlich, als Gast.« Und Poll griff in die Tasche.

»Donner und Wetter, seht mir die Noblesse an! Tausend Trampolins eher überspringen, als Ihr einen Heller bezahlen dürft! – Fräulein Klaire!« rief er der an der Kassa sitzenden Schönen zu: »Dieser Herr sammt Gesellschaft, Sperrsitze!« Dabei schlug er die Stiefelröhren militärisch an einander, daß sie klappten, und salutirte, sehr gemessen, vor Madame Trullemaier. Diese knixte.

Alexi, welcher sehr forschende Blicke auf die glänzende Stiefelwichse, wie auf den Krebsrothen geworfen hatte, ergriff mit gieriger Hand die Billets, damit ja keine Widerrufung, plötzliche Heiserkeit oder Schicksalstücke, die heißersehnte Vorstellung aufschiebe.

Sie gingen in das Innere des bretternen Zauber-Palastes.

Madame Trullemaier anlangen zu sehen im ersten Range, zu bemerken, welches Nicken durch die Feuerfarbigen ging, als die drei Sitze auf die Bank niederklappten, war einen erhöhten Eintrittspreis werth. Und wie Alexius Platz nahm! Wie er Sorge hatte, daß das Kleid der Mama sich nicht auf seinen Sperrsitz herüberlege und die geringste ihm zugehörende Gränze verkümmere! Anfangs schwamm Alles vor seinen Augen durcheinander, Musikbande, Fahnen, Lampen, Zuschauer, Trampolins, Barrieren und 39 Sägespäne, all das war Eins geworden und unmöglich genau auseinander zu bringen. Dann aber, als er über sich, die Begebenheit, den Sperrsitz und manche andere kleine Nebendinge im Reinen war, glotzte er so würdevoll, so verächtlich nach andern Plätzen, als wollte er sagen: zu gemein für mich – hier ist die noble Welt! – Auf dem letzten Platze ritt jedoch, quer über einem Balken, ein Junge, der mit Alexius schon nähere Beziehungen gehabt haben mußte; denn der Junge winkte, grimassirte, zischelte nach ihm und rief endlich, erst leise »Alexi,« dann immer stärker und stärker, bis der angerufene Würdenträger, obwol nicht genau vernehmend, doch gleichsam instinktiv, endlich seinen Kopf nach der Gegend wendete. Niemand Andern bemerkte er erstaunt da, als seinen Busenfreund, den photographirten Schusterjungen! Ein erfreutes Grinsen entfuhr ihm unwillkührlich, dann aber zog er sich wieder in das Bewußtsein seiner Ersten-Platz-Würde zurück, welche Verachtung den Photographirten aber dermaßen kränkte, daß er die Zunge stets gegen ihn herausstreckte, wenn er nicht die zehn Finger vor die Nase brachte, und so in die Luft trillerte.

Die Musik spielte, und die Märsche und Quadrilles rasselten mit einer Freigebigkeit der Kesselpauken, großen Trommeln und Cinellen, daß das tiefstzurückgezogene Gemüth erwachen und an den markirten Takten theilnehmen mußte. Madame horchte entzückt, Alexius sammelte Stoff zu künftigen freien Straßen-Pfiff-Konzerten, nur Poll saß ruhig.

Die Sperrsitze waren in der Nähe des Entrees der Künstler, gerade wie es einem Kollegen gebührte; und der Stallgeruch, das Peitschengeknall, Glockengeklingel, die 40 Fahnen, Reife, Tücher, die Kostumes und das Pferdegewieher kamen dort von der ersten Quelle. – Natürlich drängten und trieben sich auch dort die Pferdekenner, Roßkavaliere, Roßkünstlerinen-Amateurs herum, und jene Gecken, welche andere Plätze keck überspringend, stets sich unberufen hier einfinden, um ein großartiges Roßkenner-Air und Kavalier-Ansehen anzunehmen, trotzdem sie meist nichts als Ellen in ihrem Leben geritten.

Die Vorstellung begann. Ein sehr elegant bestiefelter Stallmeister, vielleicht Kranz selbst, kündigte an: »Der kleine fünfjährige Julius, die Tour der Engel, zu Pferde!«

Der kleine Julius erschien, mit fleischfarbigen Trikots, rothgestrichenen Wangen, pappendeckelnen Flügeln und silberpapierener Stirnbinde. Er wurde auf's große, starke Pferd gehoben und ritt. Die kleinen, dünnen Glieder zitterten und klammerten sich ängstlich an den Zügeln; doch als »Engel« mußte er, vermuthlich weil's im Himmel so Sitte ist, ein Bein nach dem andern heben und, mit einer zügelfreien Hand nach der andern, Küsschen auswerfen. Der Stallmeister folgte ihm in der ganzen Runde mit den strengen Blicken und wendete kein Auge von ihm ab, während er die Peitsche knallen ließ. – Armer Junge! Das Publikum rief »Bravo,« die Damen in den Logen, deren Kinder x Ammen, x Kindswärterinen hatten und in kostbare Schals eingehüllt wurden, damit sie sich bei dem leisesten Lüftchen ja nicht verkühlten, blickten durch ihre goldenen Lorgnons und lispelten vergnügt: »Welch' lieber kleiner Engel!« ja warfen ihm sogar, zur Entschädigung, eine Düte Bonbons zu.

Beifall – Abspringen – Handküsschen – 41 Hinaushüpfen – Wiederrufen – Erscheinen an der Hand des Stallmeisters – ein Riß in die Höhe, vom Publikum gehalten für einen Engelssprung – Verschwinden.

Ein anderer Künstler.

Während der neue Künstler sich auf die mannigfaltigste Weise den Hals zu brechen suchte, was aber nie gelang und zu fortgesetzten Anstrengungen für dieses edle Ziel ermunterte; – während das Publikum darüber entzückt war; – hätte ein aufmerksamer Beobachter, der sein Ohr mehr nach der Stallgegend gerichtet haben würde, Worte vernehmen können, wie etwa: »Verdammter Junge, mit Deinen steifen Knochen! Wie hieltst Du heute wieder die Zügel? Was waren das wieder für Pas? Standest ja oben wie eine Vogelscheuche! Die Angst, welche der verdammte Junge hat! Ich schlage Dir ein andermal die Knochen entzwei! Beim Davonlaufen und Spielen bist Du; aber lernen willst Du nichts – warte nur!« Ob ein derber Schlag nachgefolgt, oder nicht, war natürlich nicht genau zu unterscheiden; aber etwas gleich einem kindlichen Schluchzen, hätte ein aufmerksamer Hörer vernehmen können. – –

Alexi war indeß entzückt von dem Halsbrecherischen. Er hätte sofort von seinem Sperrsitze springen, das schnaubende Pferd erfassen und sich darauf, kreuz und quer, Kopf oben und unten, herumbalgen mögen, noch ärger als der Andere. – Das wäre eine Himmelsfreude für ihn gewesen! Er lechzte nach der Wonne, Trikots anzuhaben, so verführerisch geschminkt und mit Flittern besetzt zu sein! Als aber gar die Famosa ihr »hopp, hopp!« dem Pferde zuquietschte und mit Schal, Fahnen und Blumen die Sirenen-lockenden Schwenkungen und Leibesbewegungen machte, da war in seinem Innern Alles aus den Fugen! Er 42 verachtete und verdammte den Zeisiggrünen, Sämmtliches, was d'rum und d'ran hing, und war überzeugt: sein eigenster, innerlichster und unzweideutigster Beruf sei Kunstreiterei, es habe nur dieses großartigsten Momentes bedurft, um seine einzige, wahrhaftige, von der Vorsehung festgesetzte Bestimmung zum Durchbruche kommen zu lassen! –

Nun kamen die »ikarischen Spiele,« jene schändliche Kinderverachtung, wobei der Erwachsene (Vater?) auf dem Boden liegend, seine beiden Kinder, oder ein einziges Kind, mit den Füßen in die Luft schleudert und wieder auffängt. Eine einzige solche Erschütterung für das Gehirn eines andern Kindes, und es müßte blödsinnig oder ganz vernichtet werden! Bei diesen von dem Amerikaner Risley aufgebrachten Spielen, wird aber das Kind, vom zartesten Alter an, täglich kopfüber gestürzt, geschleudert, aufgefangen und wieder mehrere Klafter weit geworfen – und daß dies nur Blödsinnigkeit und eine unausbleibliche Zerstörung der Brust für die kommenden Jahre, mithin einen baldigen Tod nach sich ziehen kann, ist klar! – Das Publikum jedoch war entzückt, konnte sein Auge gar nicht von dem eklatanten Schauspiele, einen lebendigen flitterglitzernden Klumpen durch die lampenbestrahlete Luft fliegen zu sehen, abwenden, und schrie »Bravo Bravissimo!« Die kleinen und großen »Alexis«, die vorhanden waren, kamen außer sich vor Wonne; und wenn der Kleine fiel, oder etwas schlecht machte, und der bengelhafte Papa den Kleinen doppelt so kräftig erfaßte, nochmals so rasch wendete und schleuderte, um den Fehler durch größere »Leichtigkeit« auszubessern, so schrie das Publikum noch stärker »Bravooo!«–Der kleine Junge ächzte aber und bangte in seinem Innern, obschon er lächelte. Ein Bischen zu viel oder zu ungeschickt gestoßen, und aus seinen kleinen 43 gebrochenen Aermchen, oder Füßchen, erwüchse das elendeste Krüppelleben, denn Niemand belohnete, bezahlete, bemitleidete ihn später für die – »Dummheit!«

Poll sah düster vor sich hin.

Während der »Clown« oder Bajazzo sich eben bemühte, so wenig Mensch und so viel Orangutang als möglich zu sein, und das Publikum entzückt sich in diesem Menschenspiegel sah, legte sich plötzlich eine Hand auf Poll's Schulter.

Er wendete sich um, und vor ihm stand, in einem schwarzen Mantel eingehüllt, der unverkennbar ein Kostüm zu decken hatte, ein junger Mann mit sehr lebhaften Augen und sehr bleichen Wangen, auf denen die eilends weggewischte Schminke sich noch ein Wenig verrieth.

»Solger, Du bists?«

Es war der kühne Reiter im silberglänzenden Gewande von vorhin, der einen spanischen oder französischen Namen auf dem Zettel besaß und besonders Alexius so entzückt hatte.

»Ja Poll. – Ich hab' nicht lange Zeit,« sprach er; »es geht gleich wieder los; Mazeppa von großer Gesellschaft geritten. Kann ich Dich zu Ende noch hier finden? Ich möchte gerne wieder mit Dir reden.«

»Ich warte.«

»Gut.« Und der Kunstreiter verschwand gegen die geheimnißvollen Räume, aus denen ursprünglich alle die Wunder kamen.

Wenn das Publikum stets wüßte, was für Wunder dort zu schauen, wol nicht Silber-glitzernd und Sammt-, Seide- und Flitter-schillernd, aber ganz anderer, weit mehr erstaunlicher und gemütherregender Art!

Madame Trullemaier hatte den Reiter sofort erkannt und war stolz auf Poll's Intimität mit solchen 44 wunderbaren Männern. »Was Sie doch für Bekanntschaften haben!« rief sie nun, entzückt, so plötzlich mitten in die ungeahnten Wunder der Kunstwelt hineingelangt zu sein, aus der sie früher gänzlich ausgeschlossen war.

Poll lächelte ihr nur still, mit einem Auge zwinkernd, zu, um ihre Freude nicht zu stören; was er aber dachte, hatte mit dem Lächeln sehr wenig zu thun.

Und es ritten noch Künstler, und es brachen sich die Künstlerinen noch immer nicht den Hals. Zwei Herkulesse spielten sogar zu Pferde mit dem kleinen Jungen, und alle Drei kamen heute ebenfalls glücklicherweise mit ganzen Gliedern davon. Es kamen Pferde, die so klug wie Menschen, und Menschen, die so klug wie Pferde waren. Sie lächelten, glitzerten, hopsten, drehten, schwangen, sprangen und verrenkten sich nach allen nur möglichen Weisen, immer zur Entzückung des Publikums, das für einige Groschen so viele brechbare Hälse und Glieder zur Entgegennahme hatte.

Gegen Schluß der Vorstellung war Poll näher dem Entree der Künstler gegangen; Madame nebst hoffnungsreichem Sohn begleiteten ihn getreulich und waren ungeheuer geschmeichelt, in das Sanktuarium zu dringen, das nur so wenigen Auserwählten zugänglich war. Poll sprach mit Stallmeistern, Künstlern und Künstlerinen in sehr kordialer Weise. Er kannte Alle und sagte Allen Schönheiten; er machte Alle heiter, ward eben so freundlich bewillkommt und um sein Schicksal befragt; er war da ganz wie daheim.

Alexius erkannte es für seine ernsteste Pflicht, jeden Künstler und jede Künstlerin jetzt noch genauest anzustarren, ob sie wirkliche Menschen und nicht etwa überirdische Gestalten seien. Er suchte sie auch gelegentlich rund zu umgehen, oder zu betasten. Als er sich des seltsamen Genusses 45 und der Leibhaftigkeit zur Genüge überzeugt, stand es in ihm bombenfest, daß auch er ein solches wunderbares Genie und von allen andern Menschen so angestaunt werden müsse! Und wenn er erst Kunstreiter sei, so solle die Welt erst sehen, was man eigentlich leisten könne! Er machte schon im Geiste die niedagewesensten Kapriolen, und nahm sich vor, zu untersuchen, ob man nicht eigentlich auch auf des Pferdes Nase, oder auf dessen steifem Ohr und dem ausgestreckten Schwanze reiten und tanzen könne. Von Alexius' Zeiten an, sollte die neue Epoche der Kunstreiterei beginnen!

Die geehrte Frau Mama trug ganze Lasten von Gesprächen und Erzählungen im Kopfe, die sie den Nachbarinen über den »Circus gumilasticus« überhaupt, und über ihre Verbindungen mit den wunderbaren Künstlern und Künstlerinen insbesondere, vortragen wollte.

Nach einem ungeheuren Durcheinander von Pferden und Menschen, war der Lärm zu Ende, sämmtliche Rosse, Reiter, Trommler und Trompeter verschwanden, die Lampen wurden ausgelöscht, die Fahnen, Reife, Bänder, Tücher eingesammelt, und die hölzernen Sitze rings gähnten so erschrecklich leer, so gespenstig, die wenigen rückgebliebenen Anwesenden an, daß ein eigenthümlicher Drang, den noch vor Kurzem so belebten Raum los zu werden, Jeden ergreifen mußte.

Unsere drei Freunde waren unter den sehr wenigen Letzten.

Endlich erschien der junge blasse Mann, in sehr alltäglicher Kleidung und mit nicht tadellosem Hute. Er reichte Poll die Hand und dieser drückte sie lebhaft.

»Freundin?« fragte Solger, sehr flegmatisch aber nicht unfein, nach der Dame zeigend. Poll erklärte ihm in 46 kurzen Worten das Verhältniß und setzte seine ganze Gegenwart auseinander.

Sie verließen insgesammt die hehren Hallen und beschloßen, einen kleinen Spaziergang zu machen.



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