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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Eines Tages kam Eliza aufgebracht zu Mrs. Myers und sagte: »Es ist was los, Madame, kommen Sie doch herauf zu Miß Conolly und sprechen Sie mit ihr. Sie macht oben Lärm.«

»O mein Gott, mein Gott!« sagte Mrs. Myers. »Können Sie sie denn nicht ruhig halten?«

»Aber wie kann ich sie ruhig halten, wenn sie jammert und schreit, daß sie verlassen stirbt?«

»Bitten Sie Mistreß Forster, daß sie hineingeht und ihr zuredet, still zu sein.«

»Mistreß Forster ist in die Stadt gegangen. Still! Das ist sie wieder, sie ruft mich. Sie müssen zu ihr hinaufgehen, Madame. Wahrhaftig, ich könnte nicht an sie herantreten.«

»Aber es hat keinen Zweck, wenn ich gehe, Eliza. Was kann ich tun?«

Eliza wußte keinen Rat. »Sicher, Madame,« warf sie ein, »wenn sie nicht auf Sie hört, hört sie auch nicht auf mich – es ist doch ein schlechtes Benehmen von ihr.«

Mrs. Myers überlegte. Die Mieterin wurde noch lauter.

»Ich glaube, ich muß gehen«, sagte Mrs. Myers klagend. Sie ging hinauf und fand Susanna stöhnend auf dem Sofa liegen, im Morgenrock und mit einem paar schweren Schuhen an den Füßen.

»Was ist denn nur mit Ihnen, Miß Susan? Sie bekommen Anfälle, daß die ganze Straße in Aufruhr kommt.«

»Um Gottes willen holen Sie mir etwas. Der Doktor soll etwas tun. Ich verdurste. Ich muß vergiftet sein.«

»Gott bewahre uns.«

»Sehen Sie mich an. Ich kann nichts essen. Oh, ich kann selbst nichts trinken. Ich sage Ihnen, ich sterbe vor Durst.«

»Nun, Miß Susan, da ist genug für Sie da zum Essen und zum Trinken.«

»Was nützt mir das, wenn ich weder essen noch trinken kann? Ich behalte nichts im Leibe. Wenn ich doch nur Kognak schlucken könnte, es wäre mir gleich. Ich glaube, ich könnte betrunken sterben. Oh, Eliza soll etwas Laudanum holen. Ich kann es nicht aushalten, lieber töte ich mich.«

»Seien Sie ruhig, Miß Susan, Sie werden bald besser werden. Was hat es für einen Zweck, nach dem Doktor zu rufen? Er sagt, Sie würden auf Tage hinaus nicht imstande sein, etwas zu trinken, und so wieder gesund werden. Sie schaden sich nur, wenn Sie so schreien, und Sie bringen mich und mein Haus in Verruf.«

»Sie denken nur an Ihr Haus, verflucht! Ich hoffe, Sie sterben ebenso verlassen wie ich. Gehen Sie nicht fort. Liebe Tante Sally, Sie wollen mich doch hier nicht allein lassen? Wenn Sie es tun, schrei' ich wie hundert Teufel.«

»Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll«, sagte Mrs. Myers weinend. »Ich werde noch ebenso verrückt wie Sie. Warum habe ich Sie doch nur ins Haus gelassen?«

»Oh, zum Henker, fangen Sie jetzt an zu heulen? Haben Sie keine Sardinen oder etwas Pikantes? Ich glaube, ich könnte etwas Geräuchertes essen. Nein, ich könnte es doch nicht, holen Sie den Doktor. Es muß doch etwas geben, was mir gut tut. Was nützt er mir, wenn er mich nicht kurieren kann. Ich will nur wieder imstande sein, eine Flasche Kognak zu trinken.«

»Der Himmel steh' uns bei! Gott sei Dank, da kommt Mistreß Forster herauf. Was soll sie von Ihnen denken, wenn Sie so weiter jammern? Mistreß Forster, wollen Sie nicht hereinkommen und versuchen, sie etwas zu beruhigen? Sie ist vollständig verrückt.«

»Kommen Sie hierher«, schrie Susanna, als Marian eintrat. »Setzen Sie sich hier neben mich. Sie alte Katze können hinausgehen, ich mag Sie nicht länger.«

»Bitte, stille«, sagte Marian, indem sie ihren Hut ablegte und sich neben das Sofa hinsetzte. »Was ist denn?«

»Es ist genau so wie gestern abend, nur viel schlimmer«, sagte Susanna, indem sie die Augen schloß und das Gesicht wegwandte. »Diesmal geht es mit mir zu Ende, Mistreß Ned. Ich sterbe, nicht vom Trinken, sondern weil ich nicht trinken kann. Ist dieser Teufel von einem Weib fort?«

»Ja. Sie brauchten sie nicht so zu kränken, wie Sie es taten. Sie ist sehr gütig gegen Sie gewesen.«

»Das ist mir gleich. O mein Gott, wie lange soll das dauern!«

»Soll ich den Doktor holen?«

»Nein, was kann er machen? Bleiben Sie hier. Ich wollte, ich könnte schlafen oder essen.«

»Sie werden sich bald besser fühlen. Der Doktor sagt, die Natur macht einen Versuch, Sie von Ihrer Gewohnheit zu heilen, indem sie Ihnen das Trinken unmöglich macht. Versuchen Sie einmal geduldig zu sein. Wollen Sie nicht diese schweren Schuhe ablegen.«

»Nein, ich fühle sonst meine Beine nicht. Ich werde nie wieder besser werden«, sagte Susanna und krümmte sich ungeduldig. »Ich bin fertig. Wie alt sind Sie? Sie können es mir ruhig sagen. Ich werde bald so weit sein, daß ich es nicht mehr weitererzählen kann.«

»Ich bin letzten Juni fünfundzwanzig Jahre alt geworden.«

»Ich bin nur neunundzwanzig alt. Ich begann mit achtzehn und erreichte sieben Jahre später meinen Höhepunkt. Es ging schneller bergab als bergauf. Ohne mein Champagnertrinken hätte ich es leicht noch fünfzehn Jahre weitertreiben können. Wenn ich doch mein Leben noch einmal leben könnte. Sie würden mich nicht Possen spielen sehen. Wenn sich mir nur die Gelegenheit geboten hätte, ich weiß, ich würde ernste Sachen oder wirkliche italienische Opern besser gespielt haben als all das seichte Zeug, das mir so leicht wurde. Das heißt verhältnismäßig leicht, denn anfangs mußte ich hart arbeiten, und sie werden meinen Platz nicht leicht ausfüllen. Das ist ein Trost. Mein Talent war mein Untergang. Ned lernte nicht halb so schnell. Er brauchte Monate, um Dinge zu lernen, die ich aus dem Stegreif erfaßte, und doch sehen Sie, wie viel weiter er gekommen ist.«

»Sie quälen sich nur mit vergeblicher Reue. Denken Sie an etwas anderes. Wollen wir über Marmaduke reden?«

»Nein, daraus mache ich mir nichts Besonderes. In meiner Lage denkt man am liebsten an sich selbst oder an weit zurückliegende Dinge. Menschen, die ich später kennenlernte wie Bob, scheinen einem zu entgleiten. Da war ein Bariton in der Truppe meines Vaters, ein schrecklicher Mann, mit glänzenden schwarzen Augen und einer Stimme, die Sie betäubte, wenn Sie dicht bei ihm standen. Er muß zuletzt wenigstens sechzig Jahre alt gewesen sein, und er war sehr dick. Aber er war der würdevollste Mann, den ich jemals gesehen habe. Sie sollten ihn als Herzog in ›Lucrezia Borgia‹ gesehen oder sein ›Pro peccatis‹ aus Rossinis ›Stabat Mater‹ gehört haben! Ich war zehn Jahre alt, als er bei uns war, und ich hatte einen mächtigen Ehrgeiz, wenn ich größer geworden, mit ihm singen zu können. Er würde den Kopf schütteln, wenn er Susanna jetzt sähe. Ich würde lieber drei Takte von ihm singen hören, als zehn Besuche von Bob bekommen. O Himmel! Ich dachte, diese verwünschte Qual ließe nach, aber sie ist schlimmer als je.«

»Versuchen Sie doch, nicht daran zu denken. Ich habe mich oft gewundert, daß Sie niemals von Ihrem Kinde sprachen. Ich habe von meiner Freundin in London gehört, daß es sich sehr wohl und glücklich fühlt.«

»Oh, Sie meinen Lucy. Es war ein munteres kleines Ding.«

»Möchten Sie sie nicht wiedersehen?«

»Nein, danke. Sie ist hoffentlich gut versorgt, und ich bin froh, daß sie aus meinen Händen ist. Sie war mir lästig, und ich bin kein erhebendes Vorbild für sie. Weshalb soll ich da Verlangen haben, sie zu sehen?«

»Ich wollte, ich hätte das Glück, Mutter zu sein.«

Susanna lachte. »Verschwören Sie nichts, Mistreß Ned. Sie wissen nicht, was Ihnen noch begegnen kann. Da haben wir's. Ich weiß, ohne meine Augen aufzumachen, daß Sie entsetzt sind. Solch ein Zartgefühl haben Sie. Wie glauben Sie, daß ich durch die Welt gekommen wäre, wenn ich eine zarte Haut gehabt hätte. Was haben Sie dadurch erreicht? Sie grämen sich hier in dieser Höhle zu Tode. Sie winden sich, wenn Mistreß Myers versucht, freundlich gegen Sie zu sein, und ich lache manchmal über Ihren Gesichtsausdruck, wenn Eliza Ihnen eine kleine Schmeichelei über Ihre Schönheit sagt. Nun, ich würde mit ihr eben so gerne schwatzen und schimpfen, wie ich mit der Königin zum Tee ginge.«

»Ich bin durchaus nicht entsetzt. Sie sehen mit geschlossenen Augen ebenso schlecht als andere Leute.«

»Sie werden bald für immer geschlossen sein. Ich wollte halb und halb, sie täten es sofort. Ich möchte nur wissen, ob ich noch einmal die Schmerzen loswerde, bevor es zu Ende geht.«

»Vielleicht, wenn es hier mit Ihnen zu Ende geht, fängt für Sie ein besseres Leben an, Susanna.«

»Oder ein schlechteres. Nun, viel schlimmer als jetzt kann es wohl nicht werden. Jedenfalls muß ich es darauf ankommen lassen.«

»Möchten Sie nicht einen Geistlichen haben? Ich will Sie nicht beunruhigen. Ich bin sicher, daß es besser wird, der Doktor hat mir so gesagt. Aber wenn Sie wollen, geh ich einen holen.«

»Nein, ich will das Geschwätz nicht haben, wenigstens jetzt noch nicht. Übrigens, ich hasse die Geistlichen, nur Ihren Bruder ausgenommen, den Doktor, der sich in mich verliebte.«

»Nun gut. Ich hab' es auch nur erwähnt, falls Sie sich unbehaglich fühlen.«

»Ich fühle mich nicht sehr behaglich, aber soviel Aufheben will ich doch nicht darüber machen. Es wird Zeit genug sein, wenn ich wirklich am Sterben bin. Ich kann nur sagen: wenn es wirklich in der andern Welt einen Ort gibt, wo man bestraft wird, dann ist das sehr ungerecht – wir haben hier schon genug gelitten. Ich habe weder mich noch meine Umgebung geschaffen. Ich will versuchen, etwas zu schlafen. Ich bin halbtot vor Schmerz und Müdigkeit. Gehen Sie nicht weg, bevor ich eingeschlafen bin.«

»Gewiß nicht. Ich will Ihnen ein anderes Kissen geben.«

»Nein,« sagte Susanna schläfrig, »rühren Sie mich nicht an.«

Marian lauschte fast eine halbe Stunde lang ihren stöhnenden Atemzügen. Dann ging sie in ihr eigenes Zimmer, um ihren Schreibkasten zu holen, denn sie hatte noch einige Briefe zu schreiben. Während sie noch nach ihrer Feder suchte, die sie verlegt hatte, hörte sie Susanna aufspringen. Der Fußboden knarrte, und es gab ein Geräusch, als ob eine Flasche geöffnet würde. Einen Augenblick später wurde Marian, die mit wachsender Unruhe lauschte, durch einen schweren Fall und das gleichzeitige Klirren zerbrechenden Glases aufgeschreckt. Sie rannte zurück in das andere Zimmer und kam gerade dazu, als Susanna, die auf ihren Händen und Knien nahe beim Ofen lag, ihr bleiches Antlitz für einen Moment erhob und eine blutende Wunde an ihrer Schläfe zeigte. Dann sank sie wieder nach vorn und fiel glatt auf den Teppich hin. Marian sah dies, und die Wände des Zimmers begannen sich um sie zu drehen. Auf dem Sofa, das sie gerade noch erreichte, fiel sie in Ohnmacht.

Als sie wieder zu sich kam, stand der Doktor neben ihr, und Eliza las die Stücke von dem zerbrochenen Glase auf. Der Geruch des verschütteten Kognaks erinnerte sie daran, was geschehen war.

»Wo ist Miß Conolly?« fragte sie und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. »Ich fürchte, ich wurde gerade ohnmächtig, als meine Hilfe am meisten nötig war.«

»Schon recht«, sagte der Doktor. »Bleiben Sie ruhig, Sie werden sich sofort besser fühlen. Aber reden Sie jetzt nicht.«

Marian gehorchte, und der Doktor, der sehr freundlich war, obgleich er in seinem Benehmen gar nicht den Londoner Ärzten glich, an die sie gewöhnt war, verließ kurz darauf das Zimmer und ging hinauf. Eliza weinte.

»Hat sich Miß Conolly ernstlich verletzt?«

»O lieber Himmel, getötet hat sie sich. Ihr Kopf trieft von Blut.«

Marian schauderte und war nahe daran, von neuem ohnmächtig zu werden.

»Gott soll uns bewahren«, fuhr Eliza fort. »Ich weiß nicht, wie sie es überhaupt nur gemacht hat. Sie muß gegen den Ofen gefallen sein. Es ist nur das schreckliche Trinken, das sie so weit gebracht hat. Ich weiß, daß ihr die kleine Flasche Kognak nichts schaden konnte, sonst hätte sie keinen Tropfen von mir bekommen.«

»Es war sehr unrecht, daß Sie ihn geholt haben, Eliza.«

»Was konnte ich tun, da sie mich darum bat?«

»Sie brauchen jetzt nicht darüber zu jammern. Sie hätten ihr einen besseren Dienst erwiesen, wenn Sie ihr nicht gehorcht hätten.«

»Ich weiß, Sie haben recht. Manchmal sagte ich es ihr auch. Aber sie konnte das Blaue vom Himmel herunter reden, und es schien mir so hart, es ihr zu verweigern. Der Herr erlöse sie von allem Übel!«

Der Doktor kam jetzt zurück. »Wie geht es Ihnen?« fragte er.

»Ich denke, besser. Bitte, sorgen Sie sich nicht um mich. Wie geht es ihr?«

»Es ist vorbei. Hallo! Miß Biddy, Sie gehen in die Küche und weinen dort«, fügte er hinzu und drängte Eliza, die anfing laut zu jammern, aus dem Zimmer.

»Wie entsetzlich!« sagte Marian betäubt. »Sind Sie auch ganz sicher? Heute morgen ging es ihr doch besser.«

»Ganz sicher«, sagte der Doktor und lächelte grimmig über ihre Frage. »Das arme Mädchen war schon mehr tot als lebendig, als wir es hinauftrugen. Man kann einen Menschen leichter töten als Sie denken, Mistreß Forster, obgleich sie sich viele und schwere Mühe gegeben hat, ohne es zu erreichen. Aber sie hätte es durchgeführt. Sie hätte gedurstet, bis sie gesund geworden, nur um sich von neuem zu Tode zu trinken, und ihr Ende wäre ein schreckliches gewesen. Weit besser, daß es so gekommen ist.«

»Doktor, ich muß gehen und die Nachricht nach London telegraphieren. Ich kenne einen von ihren dortigen Verwandten.«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wenn es Ihnen recht ist, werde ich für Sie telegraphieren, aber Sie müssen hierbleiben. Sie sind noch nicht imstande, auszugehen.«

»Ich fürchte, ich bin in der letzten Zeit etwas unpäßlich gewesen«, sagte Marian. »Ich möchte Sie deswegen gern um Rat fragen – jetzt natürlich nicht, nachdem dies geschehen ist, aber später einmal, wenn Sie Zeit zu einem Besuch haben.«

»Sie können mich natürlich jederzeit konsultieren, aber das Vorgefallene ist kein Grund, warum Sie es nicht gleich tun sollten. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, je schneller Sie sich Rat holen – Sie können sich natürlich jeden Arzt dazu wählen –, desto besser.«

Auf diese Ermutigung hin beschrieb ihm Marian ihren Gesundheitszustand. Er schien ein wenig amüsiert zu sein, er stellte ein paar Fragen und sagte ihr dann kühl, sie würde wohl im Spätherbst Mutter werden. Sie machte ein so entsetztes Gesicht, daß er begann, sie streng anzusehen, um sie davon abzuschrecken, ihn um seine Hilfe zu bitten. Er hatte schon oft eine solche Bitte zurückweisen müssen, ohne daß es ihm je gelungen war, eine Frau zu überzeugen, daß er das nicht dürfe, und daß ihr Begehren unmoralisch sei. Aber Marian ersparte ihm das. Sie war überwältigt von der frischen Gewißheit, daß jetzt eine Aussöhnung mit ihrem Gatten nicht mehr möglich war. Ihre Verzweiflung über die Entdeckung zeigte ihr zum erstenmal, welches Heimweh sie hatte.

Als der Doktor gegangen war, kam Mrs. Myers und erzählte, weinte und schwätzte, bis zwei Polizeibeamte ankamen. Marian berichtete ihnen, was sie von dem Vorfall gesehen hatte, und war unwillig über die anscheinende Ungläubigkeit, mit der sie sie ausfragten und das Zimmer besichtigten. Nach ihrem Fortgehen kam Eliza und bat Marian, hinaufzukommen und Susannas Leiche zu sehen. Sie weigerte sich voll Entsetzen, aber als sie sah, daß das Mädchen verletzt und erstaunt war, kam ihr der Gedanke, Conolly würde wohl darin einen Mangel an Mitgefühl gegen seine Schwester sehen, wenn er es zufällig erführe. So überwand sie ihren Widerwillen und ging mit Eliza hinauf. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, und der Toilettentisch war mit einem weißen Tuch bedeckt, auf dem eine Muttergottesstatue von Gips stand mit zwei brennenden Kerzen davor. Um Eliza, die das offenbar alles hergerichtet hatte, eine Freude zu machen, flüsterte Marian einige anerkennende Worte und wandte sich neugierig zu dem Bett. Der Anblick bereitete ihr Unbehagen. Der Körper war schmucklos hingelegt, die verwundete Stirne mit einer Binde umwickelt. Auf der Brust lag Elizas Rosenkranz und Kruzifix. Aber er gab Marian doch nicht, wie sie gehofft hatte, den Eindruck von Friede und Schlaf. Es war nicht Susanna selbst, sondern eine leere Hülle, die einst mit ihr verbunden gewesen und die, jetzt von ihr getrennt, grausig aussah.

»Sie starb wenigstens als gute Katholikin. Gott gebe ihr seine Gnade!« sagte Eliza schluchzend, aber sie sprach so, als ob sie Marian im Verdacht hätte, ihr widersprechen zu wollen.

»Amen«, sagte Marian.

»Es ist sicher und gewiß, von den Conollys war noch nie einer protestantisch.«

Marian verließ das Zimmer und beschloß, diesen Anblick in Zukunft zu meiden. Mrs. Myers wartete unten begierig, die Unterhaltung wieder aufzunehmen, die der Besuch der Polizeibeamten unterbrochen hatte. Marian konnte das nicht ertragen. Um ihr zu entgehen, verließ sie das Haus und ging zu ihrer einzigen Freundin in Neuyork, zu Mrs. Crawford, deren häufige Besuche sie bisher nie zu erwidern gewagt hatte. Sie erzählte ihr die Ereignisse des heutigen Tages und die Mitteilungen, die ihr der Doktor gemacht hatte.

»Ich hätte die Wahrheit schon früher ahnen müssen«, sagte Marian. »Aber durch eine seltsame Verkehrung meiner Gedanken kam ich niemals darauf. Ich denke,« fügte sie in klagendem Tone hinzu, »es war wohl, weil ich das doch noch nie durchgemacht habe.«

Mrs. Crawford begann zu lachen. »Ich habe es schon längst vermutet und gab Ihnen ein- oder zweimal einen Wink. Aber Sie verstanden ihn nicht. Die Geschichte von dem armen Mädchen, das sich selbst getötet hat, ist schrecklich, obgleich jetzt vielleicht Ihr Gatte herüberkommt und Ihnen Gelegenheit gibt, sich mit ihm zu versöhnen.«

»Wenn er das tut, muß ich Neuyork verlassen, Mistreß Crawford.«

»Wovor fürchten Sie sich? Wenn er ein guter Mensch ist, wie Sie sagen, so sollten Sie froh sein, ihn zu sehen. Er will Sie sicher wieder aufnehmen. Verlassen Sie sich darauf, er hat sich all diese Zeit über nach Ihnen gesehnt, und wenn er Sie wiedersieht, so schön wie jemals, dann wird er Ihnen seine Arme öffnen. Er wird Sie nicht weniger gern haben, weil Sie nach Ihrer Flucht etwas ängstlich geworden sind.«

»Ich möchte ihn um alles in der Welt nicht wiedersehen. Nach dem, was mir der Doktor heute gesagt hat, würde ich mich, glaube ich, aus dem Fenster stürzen, wenn ich ihn die Treppe heraufkommen hörte. Ich möchte ihn sehen, wenn ich irgendwo stände, wo er mich nicht sehen könnte, aber ihm gegenübertreten, das könnte ich nicht.«

»Wissen Sie, liebes Kind, das ist recht töricht von Ihnen, obgleich der kleine Fremdling – es wird ein richtiger Fremdling sein – eine Schwierigkeit ist. Doch es gibt nur einen Weg in dieser Sache.«

»Ich habe übrigens hierüber schon in meinem Zimmer nachgedacht, und ich glaube, es ist besser für ihn, wenn er frei ist. Ich weiß, daß ich ihn enttäuscht habe, denn er ist nicht der Mann, der sich durch eine so unwissende Frau, wie ich es bin, fesseln läßt.«

»Was erwartet er denn von einer Frau? Wenn Sie ihm nicht gut genug sind, muß er sehr schwer zu befriedigen sein.«

Marian schüttelte den Kopf. »Er ist imstande und bringt mir Mitleid und Nachsicht entgegen, ich weiß das. Aber ich zweifle, ob es so angenehm ist, bemitleidet und geduldet zu werden. Es liegt etwas Demütigendes darin. Ich glaube, Sie haben recht, ich bin stolz. Ich möchte das unter den Frauen sein, was er unter den Männern ist, und nur auf mich selbst angewiesen sein. Selbst in den drei letzten Wochen habe ich in meiner Einsamkeit gefühlt, wie ich unabhängiger wurde. Anfangs fürchtete ich mich, allein durch die Straßen zu gehen. Jetzt bin ich schon ganz tapfer. Es war gut, daß ich dieses unglückselige Weib kennenlernte. Ich sorgte für sie, und da sie sich soviel auf mich verließ, lernte ich es, selbst für mich zu sorgen. Über Verlassenheit brauchte ich mich ja, dank Ihren Besuchen, nicht zu beklagen. Und doch war ich manchmal so entsetzlich niedergeschlagen. Ich weiß nicht, was das beste ist. Oft denke ich, Unabhängigkeit ist all die einsamen Kämpfe wert, die sie kostet. Dann aber erinnere ich mich wieder, wie frei von jeder wirklichen Sorge ich zu Hause war, und sehne mich danach, wieder zurück zu sein. Es ist so schwer zu erkennen, was man tun sollte.«

»Sie haben viel mehr Leben bekommen, seit Sie auf Ihr Telegramm eine so befriedigende Antwort erhielten. Ich wollte auch, der General gäbe mir mein eigenes Geld, und zwar noch einmal soviel wie ich brauchte. Nicht als ob der arme Kerl geizig wäre, o nein! Das erinnert mich übrigens daran, Sie müssen heute abend hierbleiben. Er will Sie sehen, so lästig es Ihnen auch ist – er bittet mich immer, Sie doch einmal mitzubringen, wenn er zu Hause ist. Sie dürfen sich nicht weigern, der General läßt Sie sicher wieder nach Hause bringen.«

»Aber wenn Besucher kommen, Mistreß Crawford?«

»Es kommt niemand. Und wenn schon, sie werden sich freuen, Sie zu sehen. Was wissen sie von Ihnen? Sie können doch nicht ewig wie ein Einsiedler leben.«

Marian zog es vor, zu bleiben, anstatt zu Mrs. Myers zurückzugehen, und der Abend verlief sehr angenehm, obgleich drei Besucher kamen, ein Herr mit seiner Frau und seinem Bruder. Die Dame, wenn sie nicht aß oder eine Frage von Mrs. Crawford beantwortete, tat nichts, als Marians Kleidung bewundern und ihrer Unterhaltung lauschen. Ihr Mann war sehr höflich, aber Marian fand ihn doch im Vergleich mit den englischen Herren ihrer Bekanntschaft etwas übertrieben ehrfurchtsvoll und zu oberflächlich in der Unterhaltung. Er war in London gewesen und beschrieb in korrektem Erzählerstil seine Eindrücke von der Sankt-Pauls-Kirche, vom Tower und vom Westminster Palast. Sein Bruder verliebte sich in Mrs. Forster auf den ersten Blick und saß schweigend da, bis sie bemerkte, wie seltsam die Hotelomnibusse den altenglischen Kutschen glichen. Nun begann er mit einem Male übersprudelnd zu reden und überzeugte sie bald, daß die amerikanische Gesellschaft eine ebenso ausgewählte Menge von Ungebundenheit und Tollheit hervorbrachte wie die Londoner. Sie vergaß bald gänzlich ihre Furcht vor Fremden und wurde recht fröhlich nach ihrer langen Abschließung. Nur ein oder zweimal, wenn die Erinnerung an die tote Susanna über sie kam, schämte sie sich ihrer Munterkeit.

Niemand war auf bei Mrs. Myers, als sie zurückkehrte. Man hatte für sie eine Lampe im Flur stehenlassen, und sie nahm sie mit hinauf, indem sie so leise wie möglich ging, um niemand aufzuwecken. Sie brauchte jetzt nicht mehr zu fürchten, daß Susanna kam und sie bat, mit ihr etwas zu plaudern, denn Susanna lebte nicht mehr. Marian versuchte, nicht an den Leichnam zu denken, der oben im Zimmer lag. Obgleich sie frei von jener Furcht war, die jetzt gerade die zitternde und weinende Eliza um ihren Schlaf brachte, so bereitete ihr der Leichnam doch um so mehr Abscheu, da sie ihn nicht mehr mit der Gestorbenen in Verbindung brachte – ein Gedanke, der dem irischen Bauernmädchen ganz fern lag. Sie setzte sich hin und begann nachzudenken. Die Crawfords und ihre Freunde waren sehr liebenswürdig gegen sie gewesen. Zwar die Dame wäre nicht so höflich gewesen, hätte sie alles gewußt, und dann war sie auch eine närrische Person. Die Leute schienen überhaupt nicht das zu sein, was Marian für die feinste Gesellschaft hielt, doch Neuyork war nicht London. Bei Mrs. Myers würde sie nicht bleiben, ihr Einkommen erlaubte ihr ein viel vornehmeres Wohnen. Wenn sie selbst eine Wohnung ausstattete, würde sie jene Vorhänge kaufen, die sie neulich gesehen hatte, als sie mit Mrs. Crawford durch die Läden ging. Sie würden sehr fein aussehen –

Ein Geräusch in dem Zimmer über ihr – in dem Zimmer, in dem Susannas Leiche lag! Marian fuhr auf und erinnerte sich der ersten Worte, die sie von Eliza gehört hatte, »Sie haben mich zu Tod erschrocken!« Sie lauschte voller Qual und hörte ihr Herz schlagen. Das Geräusch kam von neuem – ein Fußtritt oder ein Stuhl, der zurückgeschoben wurde, oder – sie konnte es nicht genau unterscheiden. Ob wohl Mrs. Myers dort am Bett wachte? Das war zu unwahrscheinlich, vielleicht war Susanna wieder zu sich gekommen – hatte sich als Leiche ausgestellt gefunden und kämpfte dort allein für ihr Leben. Das würde schrecklich sein, das war gar nicht wünschenswert – Marian vergaß ganz, daß ihre impulsive Ansicht häßlich und gefühllos war. Aber immerhin, sie mußte hinaufgehen und, wenn nötig, Hilfe leisten. Sie hätte gerne noch jemand bei sich gehabt, aber sie schämte sich, Eliza zu rufen, und Mrs. Myers, das fühlte sie, würde ihr soviel helfen, als ob sie gar nicht dabei wäre. Es blieb ihr nichts übrig, als eine Kerze zu nehmen und allein zu gehen. Als sie den oberen Flur erreichte, war sie so weit beruhigt, daß sie ihre Idee, dort jemand – Susanna – zu finden, für töricht hielt. Was sie als Furcht überfallen hatte, entschwand nun als getäuschte Hoffnung.

Sie wagte es zuerst nicht, die Tür zu öffnen. Schließlich biß sie die Zähne zusammen und machte sie schnell auf, wie um jemand darinnen zu überraschen. Sie überraschte auch jemand – ihren eigenen Mann. Er saß neben der Leiche seiner Schwester, und Marian sah ihn zum ersten Male bewegt und ohne seine Maske. Er fuhr heftig zurück, als er sie sah, und erhob sich. Sie schloß ganz mechanisch die Tür, ohne sich umzuwenden, und lehnte sich dagegen, die Hand auf dem Rücken und ihn mit offenem Munde anstarrend.

»Marian«, sagte er. »Ich kam hierher, um eine hübsche Szene mit dir zu machen und dich mit nach Hause zu nehmen. Aber hier« – er zeigte auf den Körper, der auf dem Bette lag – »endet aller Spott, wir wollen nicht den edelmütigen, beleidigten Gatten und das verirrte, aber reuige Weib spielen. Wir sind ein Mann und ein Weib, nichts mehr und nichts weniger. Nach unserer Verheiratung wolltest du von einer so gearteten Verbindung nichts wissen, und ich nahm dir zu Gefallen deine Ansichten an. Jetzt lehne ich alle herkömmlichen Sitten ab, du hast sie selbst gebrochen. Wenn du die Wahrheit zwischen uns nicht willst, dann meide mich, bis ich meine alte Fassung wiedergewonnen habe. So, nun habe ich es gesagt!« fügte er schmerzlich hinzu. »Erröte doch nicht. Weshalb brauchst du zu erröten? Es war die einzige anständige Sache, die du je getan hast.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Wie solltest du auch? Du hast mich nie verstanden und wirst es auch nie tun.«

»Wenn du mir vorwerfen willst, ich hätte dich getäuscht,« sagte Marian und war sehr erleichtert und ermutigt durch ein Gefühl, daß ihr jetzt unrecht getan wurde, »so irrst du dich. Ich entschuldige mich nicht wegen meines schlechten Benehmens, aber ich habe dich niemals hintergangen oder dir die Unwahrheit gesagt. Niemals. Als er mir zum erstenmal etwas Ungehöriges sagte, habe ich es dir sofort erzählt, und du machtest dir nichts daraus.«

»Keinen Strohhalm! Es war mir gleich, ob er dich liebte: die Frage war nur, ob du ihn liebtest. Wenn nicht, dann hatte ich auch nichts zu fürchten – wenn ja, dann hatte ich nichts zu verlieren, da ich dich schon verloren hatte. Aber du hast meine Absicht nicht verstanden. Eine absichtliche Lüge ist etwas anderes als eine kleine Notlüge. Du logst nie – ausgenommen die zwei oder drei dutzendmal in der Woche, wenn es die gewöhnliche Höflichkeit verlangte, und du dachtest nie daran, so etwas zu zählen. Aber du sagtest mir nie die Wahrheit, Marian, weil du sie dir selber nicht sagtest. Du gestandest mir, was du dir selbst gestandest, das gebe ich zu – und so warst du dir keiner Täuschung bewußt. Ich mache dir darüber keinen Vorwurf. Ich darf dir doch sicher sagen, was sich jeder ehrliche Mensch täglich sagen muß?«

»Ich glaube, ich habe es verdient«, sagte Marian. »Aber unfreundliche Worte von dir sind mir eine neue Erfahrung. Du gleichst heute gar nicht dir selber.«

»Im Gegenteil, ich hoffe, ich bin sehr aufrichtig. Ich nahm deine Art an, lieber freundlich als wahrhaftig zu sein, weil dich die Wahrheit von mir zurückschreckte. Wie ich soeben sagte, ich will nicht mehr auf einem solchen Fuße mit dir leben. Denn ich habe auf die Dauer dir damit nichts Gutes erwiesen.«

»Zu ihr hast du offen genug geredet«, sagte Marian mit einem flüchtigen Blick auf das Bett. »Und auf die Dauer war auch das nicht gut für sie.«

»Sie würde mich ausgelacht haben, wenn ich etwas beschönigt hätte, denn sie gab sich nie einer Selbsttäuschung hin. Die Gesellschaft hat sie mit ihrem Geld gezwungen, eine Tänzerin zu werden, und hinderte sie, die höhere Laufbahn einzuschlagen, zu der sie ebensogut veranlagt war. Bedrückt und verführt, wie sie war, wie hätte sie sich glücklich fühlen können, wenn sie das Trinken nicht gehabt hätte. Es war ihr eigenes, direktes Interesse, zu trinken. Es war ihr Geschäftsinteresse, und alle verleiteten sie dazu. Sie war tüchtig, gutmütig, anhänglicher in ihren Neigungen, als du gewesen bist, eine Quelle unschuldigen Vergnügens als Tänzerin und Schauspielerin – und nun liegt sie hier, nachdem sie mutwillig ihr Talent in Aufführungen vergeudet hat, die zu albern für die Hölle und zu niedrig für einen besseren Platz waren. Das Übel, woran sie starb, konnte verhindert werden, aber die meisten Leute, mit denen sie zusammenkam, hatten ein direktes Geldinteresse, sie zu verderben und zu vergiften. Da liegt sie mit dem Kreuz auf der Brust. Von dem Platz, wo sie ihren Spiegel stehen hatte, als sie noch lebte, blickt sie eine Madonna an, und die Leute draußen sagen selbstgefällig, ›es geschieht ihr recht!‹«

Marian fürchtete einen Augenblick, er würde Elizas Altar zerstören, indem er den Stuhl dagegen schleuderte. »Tu es nicht, Ned«, sagte sie ängstlich, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte.

»Was tun?« fragte er und fuhr zurück. Sie zog ihre Hand weg und wich einen Schritt zur Seite, indem sie über ihre Freiheit, ihn anzufassen, errötete. »Verzeihung. Ich dachte – ich dachte, du wolltest das Kreuz wegnehmen. Nein,« fügte sie schnell hinzu, denn er war dabei, zu sprechen, und sie wollte einen Ausbruch seines Spottes verhindern, »deshalb sag' ich das nicht. Aber das Dienstmädchen ist eine Irländerin, sie ist katholisch. Sie hat es hierhin gestellt, und sie meinte es gut. Sie wird verletzt sein, wenn man es fortnimmt.«

»Und du glaubst, es ist besser, wenn sie in Unwissenheit darüber bleibt, was gebildete Menschen über ihren Aberglauben denken, als daß sie den Schmerz erfährt und lernt, daß ihre Ansichten nicht die der ganzen Welt sind! Doch ich hatte nicht diese Absicht. Elizas Idol ist ebenso verehrungswürdig wie jedes andere.«

Es folgte eine Pause. Dann sagte Marian: »Es muß etwas Schreckliches für dich gewesen sein, als du kamst und sahst, was geschehen war. Es tut mir so leid. Aber sollen wir nicht besser hinuntergehen? Es scheint etwas gefühllos, zu sprechen, ohne an ihrer Gegenwart Anstoß zu nehmen. Vielleicht erscheine ich dir lächerlich, aber ich glaube, auch du bist etwas aus der Fassung.«

»Bemerkst du an mir eine Veränderung?«

»Du bist nicht ganz wie sonst.«

»Sicher? In den alten Zeiten, da mußte ich mich stets zusammennehmen. Aber jetzt, da ich reich und berühmt bin, kann ich mich schon einmal gehen lassen. Setz' einen Bettler nur auf ein Pferd – du weißt ja. Es scheint übrigens nicht, als ob dir der wirkliche Mann lieber ist als der scheinbare – ich fürchte, du willst mich in keiner Art haben. Aber wir wollen hinuntergehen, wenn dir das lieber ist.«

»Oh, nur wenn dir es auch recht ist«, sagte Marian etwas verwirrt.

Er nahm die Kerze und ging voran, ohne noch etwas zu sagen oder einen Blick auf das Bett zu werfen. Als er an der Treppe stehenblieb, um ihr den Vortritt zu geben, wurde Marian plötzlich von der Idee ergriffen, er wolle sie töten. Sie beherrschte sich so weit, daß sie nicht eilte oder umsah, aber sie fühlte sich erst sicher, als sie in ihrem Zimmer waren und er nicht mehr hinter ihr stand.

»Setze dich hin«, sagte er und stellte die Kerze auf den Kaminsims. Sie nahm an dem Tische Platz, und er stand auf dem Kaminteppich. »Nun wollen wir über die Zukunft reden«, sagte er. »Kommst du zurück? Willst du es mit dem Leben in Holland Park noch einmal versuchen?«

»Ich kann nicht«, sagte sie und neigte ihren Kopf fast bis auf ihre Hände nieder. »Ich würde dich entehren. Und ich habe auch noch einen andern Grund.«

»Weder du noch ganz London sind imstande, mich zu entehren, wenn ich mich selbst nicht entehrt fühle. Es hat keinen Zweck, zu sagen, du kannst nicht. Wenn du sagst, ich will nicht, dann ist alles in Ordnung. Was ist der andere Grund?«

Marian fiel mit einem Male ein, wie sie es ihm erzählen konnte.

»Er ist noch nicht auf der Welt,« sagte sie, »aber er wird zur Welt kommen.«

»Das ist kein Grund für mich. Glaubst du, ich würde für das Kind ein schlechterer Vater sein, als er es gewesen wäre?«

»Nein, gewiß nicht. Aber es würde unbillig gegen dich sein.« Er machte eine ungeduldige Bewegung. »Ich verstehe dich nicht, Ned. Möchtest du nicht lieber frei sein?«

»Freiheit ist ein Traum für Narren. Wenn du geschieden bist, bist du frei – unabhängig – deine eigene Herrin – der unbeschränkte Besitzer deines Kindes – alles, wonach sich verheiratete Frauen und Mädchen sehnen. Du hast jetzt ein Vorgefühl dieser Freiheit. Was ist sie wert? Ein oder zwei Dinge mehr oder weniger, mit denen du zu rechnen hast, das ist alles. Natur und Gesellschaft halten dich hart und fest umschlungen, und ihre Hauptgesetze darfst du nicht übertreten.«

»Ich denke, es ist eine gute Sache, frei zu sein«, sagte Marian furchtsam.

»Das heißt, du willst nicht.«

»Nicht, ich will nicht, aber es ist besser so.«

»Eine echt weibliche Unterscheidung, Marian. Auch ich dachte einst wie du, Freiheit sei eine Bedingung, die man unter allen Umständen und um jeden Preis erlangen müßte. Mein Lieblingspsalm war der Unsinn von John Hay:

›Aus deinen Augen, Freiheit, strahlt ein Schein
Von jenem Licht, das alle Welt erlöst:
Und wenn du tötest uns, dir glauben wir.‹

Und sie tötet uns. Jetzt strebe ich nach größtmöglicher Gerechtigkeit, die wenigstens eine erträgliche Freiheit mit sich bringt. Du siehst das jetzt noch nicht ein. Aber gut: du hast Freiheit – Freiheit, dir selbst Schmerz zu bereiten. Und du hast recht, wenn du versuchst, ob das dich nicht glücklicher macht, als es die Ehe getan hat.«

»Es war nicht deine Schuld, und ich weiß, daß es sehr gut von dir ist, daß du mir anbietest, mich zurückzunehmen. Wird dich meine Ablehnung wirklich enttäuschen, Ned?«

»Ich bin darauf vorbereitet. Du magst ablehnen oder annehmen, ich weiß voraus, wie ich mich in beiden Fällen verhalten werde.«

»Ja, das vergaß ich. Du siehst alles voraus«, sagte Marian etwas bitter.

»Ich fürchte, ich tat dir einmal unrecht, weil ich nicht voraussah, daß ich nicht die Zärtlichkeit eines Liebenden mit der Unbarmherzigkeit eines Denkers vereinigen könnte. Mein Gefühl für die Macht des Gedankens war mir ein schlechter Wegweiser durch die Illusionen der Liebe. Die Ehe war für mich eine Inkonsequenz, ich hätte deiner entsagen sollen. Jetzt fühlst du dich veranlaßt, meiner zu entsagen. Du hast recht: warum solltest du auf einem Felsen Anker werfen? Lebewohl. Sieh nicht so ängstlich drein. Wir werden uns morgen wieder treffen, und wie ich hoffe, noch oftmals später. Aber für heute wollen wir ein Ende mit der törichten Verbindung machen.«

»Gute Nacht«, sagte Marian nach einer Pause ganz unglücklich und streckte ihm ihre Hand hin.

»Noch eine Torheit«, sagte er, und er nahm sie in seine Arme und küßte sie. Sie wehrte ihn nicht ab. »Wenn ein solcher Augenblick ewig dauern könnte, wir würden niemals Lebewohl sagen. So aber sind wir weise und versuchen nicht das Glück, indem wir es um einen weiteren bitten.«

»Du bist zu weise, Ned«, sagte sie und ließ sich von ihm sanft in den Stuhl hinsetzen.

»Es ist unmöglich, zu weise zu sein, Liebste«, sagte er, und ohne Zaudern wandte er sich um und verließ sie.


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