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Fünftes Kapitel

Als der Herbst zu Ende ging, machte man in Hall Cottage Vorbereitungen zum Empfang eines andern Besuchers. Der Pfarrer George Lind wollte kommen. Jasper fuhr mit dem Wagen zur Station und traf ihn auf dem Bahnsteig.

»Wie geht es, lieber Junge?« schrie der Geistliche und schüttelte Lord Jaspers Hand. »Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, herauszufahren? Ich hätte einen Mietswagen nehmen können. Es ist wirklich sehr gütig von Ihnen. Wie geht es Ihrer lieben Mutter? Und Constance – wie geht es ihr

»Danke, sie sind alle wohl. Zeigen Sie nur eben meinem Diener Ihre Sachen, er wird sie besorgen.«

»Oh, er braucht sich nicht zu bemühen. Ich selbst oder ein Dienstmann – oh, wirklich, ich danke Ihnen. Der Braune mit G. L. darauf – und der kleine grüne Metallkasten dazu, wenn Sie so gut sein wollen. Danke Ihnen vielmals. Und wie geht es Ihnen, Jasper, wenn ich Sie so nennen darf? Noch immer eifrig, wie? Hoffentlich nimmt er sich in acht mit der Kiste. Nein, sagen Sie ihm kein Wort. Bitte, es macht durchaus nichts. Welch ein prachtvoller, leichter Wagen! Diese Luft! Sie sind ein glücklicher Mann, Jasper! Diese Felder sind besser als geschlossene Chorgänge und Zimmer, in denen ich mich wegen meines Berufs aufhalten muß.«

»Steigen Sie auf!«

»Danke! Und wie geht es Marian?«

»Danke, sehr gut. Jedermann fühlt sich wohl. Die Mädchen sind bei einer Tennispartie, sonst wären sie mitgekommen, um Sie abzuholen. Sie baten mich noch ausdrücklich, sie zu entschuldigen.«

»Oh, das ist überflüssig, höchst überflüssig. Warum sollen sie sich nicht amüsieren? Welch eine Landschaft! Die strahlende Naturschönheit auf dem Lande ist wie ein – wie eine Botschaft an uns. Das ist wirklich eine entzückende Fahrt.«

»Ja, es ist ein famoser Traber, mein Gaul. Was halten Sie von ihm?«

»Ein elegantes Tier, Jasper. Obgleich ich mich nie viel mit Pferden abgegeben habe, selbst in der Studentenzeit nicht, ich verstehe es, doch gelegentlich ein feuriges Roß zu bewundern. Zwar ich selbst pflege mich bei meinen Besuchen eines bescheideneren Beförderungsmittels zu bedienen. Ein armer Pfarrer kann seine Freunde nicht so bewirten wie ein Magnat, gleich Ihnen. Ist sonst ein Besuch da außer den Mädchen?«

»Nein. Ich fürchte, der Aufenthalt wird für Sie sehr langweilig sein.«

»Durchaus nicht, mein lieber Junge, durchaus nicht. Ich werde unter allen Umständen zufrieden und dankbar sein.«

»Wir haben den letzten Monat ein eintöniges Leben geführt. Marian und Elinor machen jetzt in meinem Laboratorium wissenschaftliche Studien. Jeden Tag kommen sie auf eine Stunde dorthin arbeiten und besprechen die neuesten Fortschritte der physikalischen Forschung.«

»Wirklich! Für Marian wird das Studium der Natur zweifellos sehr nützlich sein. Es ist sehr gütig von Ihnen, daß Sie ihr erlauben, Sie zu belästigen.«

»Ich beschäftige mich selbst hauptsächlich mit Nelly McQuench. Marian ist die Schülerin meines Gehilfen, und er hat aus ihr schon eine sehr tüchtige Arbeiterin gemacht. Mit etwas Hilfe kann sie eine Maschine ebensogut zusammensetzen wie ich selbst.«

»Das ist ja prächtig. Und die liebe Nelly?«

»Oh, die liebe Nelly fliegt über den Gegenstand in einer höchst launigen Weise her und ist ein wenig vertrauenswerter Gehilfe. Aber sie ist sehr amüsant.«

»Ach, Jasper! Ach! Eine unstete Natur ist sie, eine unstete Natur! Ich fürchte, Elinor hat keine feste Erziehung gehabt. Sie müßte einmal trübe Erfahrungen durchmachen.«

»Ohne Zweifel. Das wäre den meisten von uns gut.«

»Und die liebe Constance? Studiert sie?«

»Nein.«

»Ach! Ein – haben Sie –? Das ist St. Mildred da drüben, nicht wahr?«

»Ja. Sie haben eine neue Glocke in den Turm gehängt, die ungefähr sechzig Pfund wert ist. Dabei haben sie, glaube ich, ungefähr hundertfünfzig Pfund zu dem Zwecke gesammelt. Aber Sie wollten noch etwas anderes sagen.«

»Nein. Höchstens, ich wollte Sie wegen Marmaduke fragen. Ich hörte, er wollte herkommen.«

»Ich weiß nicht, was er macht. Vor einigen Wochen schrieb er uns, daß er gerade aus Paris zurückgekehrt sei. Aber zufällig wußte ich, daß er schon längere Zeit zurück war. Er hat seitdem zweimal versprochen, zu kommen, und sich jedesmal im letzten Augenblick entschuldigt. Er soll jetzt machen, was er will. Ich wollte, er erklärte definitiv, daß er nicht kommen will, anstatt von Woche zu Woche zu zögern. Hallo, Prentice, sind die Damen schon zurück?« Dies galt dem Mann in dem Pförtnerhäuschen, an dem sie jetzt angekommen waren. Er antwortete, die Damen seien noch nicht zurückgekommen.

»Dann«, sagte Lord Jasper, »ist es am besten, wenn wir hinuntergehen und über die Wiese schlendern. Aber vielleicht sind Sie müde?«

»Durchaus nicht. Ich bin gern dabei. Welche prachtvolle Allee! Welch ein Rasen! Wie –«

»Wir sprachen über Marmaduke. Wissen Sie, was er jetzt macht? Er schreibt, er sei so beschäftigt und hätte keinen Moment freie Zeit. Ich verstehe es, wenn ein Junggeselle ohne Beschäftigung im Juni oder Juli keinen Augenblick frei hat, aber was Marmaduke in London im September zu tun haben sollte, das ist mehr, als ich mir einbilden kann.«

»Ich gehe nicht gerne auf diese Dinge genauer ein. Ich hatte mir vorgenommen, mit Ihnen über die Angelegenheit zu reden. Sie wissen vermutlich, daß Marmaduke in West Kensington ein Haus gemietet hat.«

»Ein Haus in West Kensington! Nein, das wußte ich nicht. Weshalb hat er das getan?«

»Ich fürchte, er war mir gegenüber in der Sache etwas unaufrichtig. Ich glaube, er wollte es verhindern, daß die Angelegenheit mir zu Ohren kam, und als ich ihn darüber befragte, wich er mir offenbar aus – tatsächlich aber ließ er mich, es schmerzt mich, das sagen zu müssen, unter dem Eindruck, er habe das Haus gemietet, weil er die liebe Constance heiraten und mit ihr dort wohnen wollte. Ich drückte mein Erstaunen aus, daß er so weit aus der Stadt zöge, aber er schien keine weitere Auseinandersetzung zu wünschen, und so verließen wir den Gegenstand.« Der Pfarrer George schwieg hier und fuhr dann in leiserem Tone fort: »Kurz darauf traf ich ihn des Abends sehr spät. Er hatte vielleicht etwas zu tief in den Becher geschaut, denn er sprach zu mir im schrecklichsten Zynismus. Er lud mich ein, mit ihm in seinem Hause zur Nacht zu speisen, und warf mir tatsächlich vor, ich wüßte ganz genau die schreckliche Geschichte, weshalb er da wohne. Er versicherte mir, daß sie – damit meinte er vermutlich die unglückselige Person, mit der er dort wohnt – außerordentlich anziehend sei. Und ich habe seitdem erfahren, daß sie in Verbindung mit dem Theater steht und sehr bekannt ist. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie schrecklich mir das alles ist, Jasper, aber nach meiner besten Meinung, die ich durch ernstes Gebet um Erleuchtung gestärkt habe, ist es für mich eine gebieterische Pflicht, Ihnen alles zu sagen.«

»Der Lump! Es kommt genau, wie ich es immer gesagt habe. Constance ist zu harmlos für ihn. Er schert sich den T –«

»Jasper, lieber Junge, ruhig«, sagte der Geistliche und drückte seinen Arm.

»Das ist alles sehr gut, Lind, aber ein Mann darf solche Verbindungen nicht eingehen, nachdem er sich mit einem Mädchen verlobt hat.«

»Er darf es überhaupt nicht. Sünde darf niemals blühen – und doch blüht sie das ganze Jahr, wenn der Teufel Meister geworden.«

»Dem Heiratsplan zwischen Constance und ihm muß jetzt ein für allemal ein Ende gemacht werden.«

»Lassen Sie uns nicht zu hastig sein, Jasper, wer weiß –«

»Es gibt keine Entschuldigung mehr für ein Zaudern. Sie müssen es heute abend noch meiner Mutter mitteilen. Sie ist lange genug blind gewesen; vielleicht genügt ihr das zur Einsicht, daß ich auch nicht ohne Urteilsfähigkeit bin. Er hat mit uns ein schönes Spiel gespielt! Wie er mit uns umgesprungen ist.«

»Ruhig, Jasper. Lassen Sie sich Zeit. Er hat eine schreckliche Sünde begangen, noch mehr – einen schmählichen Schimpf verübt. Aber wir haben kein Recht, über ihn zu richten. Ach! Ich glaube, ich höre den Wagen kommen – da ist er. Die liebe Lady Sunbury hat uns schon erkannt und winkt mit der Hand.« Der Pfarrer George stand auf den Zehenspitzen, als er das sagte, und schwenkte seinen niedrigen, weichen Hut.

Während der jetzt folgenden Begrüßungen stand Lord Jasper schweigend da und sah mit einer Miene nach den Pferden, die den Kutscher unruhig machte. Beim Diner aß er wenig und überließ die Aufgabe, den Gast zu unterhalten, seiner Mutter und den Mädchen. Dem Geistlichen mangelte es nicht an Gesprächsstoff. Er war entzückt von dem Diner, entzückt von dem Hause, entzückt, als er hörte, daß der Graf sich in Zypern amüsierte, entzückt, weil die Gräfin so gut aussah, und entzückt, weil die heutige Tennispartie so hübsch verlaufen war. Lord Jasper lauschte ungeduldig und war froh, als seine Mutter sich erhob. Bevor sie das Eßzimmer verließ, gab er ihr ein Zeichen, und sie kehrte bald zurück, indem sie Marian, Constance und Elinor im Wohnzimmer ließ.

»Hoffentlich werden Sie es mir nicht verübeln, wenn ich eine kleine Stärkung zu mir nehme, George«, sagte sie, als sie ihren Platz wieder eingenommen hatte.

»Eine entzückende Gewohnheit und ein vorzüglicher Tropfen«, sagte der Pfarrer George. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen die Flasche hinüberreiche. Haha!«

»Danke sehr, nein«, sagte die Gräfin. »Wein trinke ich niemals.« Sie betonte das so, als ob sie nach etwas anderm verlangte.

»Willst du Kognak trinken?« fragte Lord Jasper unvermittelt.

Lady Sunbury senkte zum Protest ihre Augenlider. Dann sagte sie: »Bitte, nur ein ganz wenig, Jasper. Ich darf keinen Wein berühren«, fuhr sie, gegen den Geistlichen gewendet, fort. »Ich bin der Sklave meines Arztes in allem, was meine unglückselige Digestion angeht.«

»Mutter,« sagte Jasper, »George hat uns da wirklich hübsche Nachrichten über dein Schoßkind Marmaduke gebracht.«

Der Geistliche wurde ernst und blickte beharrlich in sein Glas.

»Ich weiß nicht, ob es fein ist, ihn einfach mein Schoßkind zu nennen«, sagte die Gräfin, etwas beunruhigt. »Ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes geschehen.«

»Oh, nichts! Er hat einen Haushalt gegründet in einer Wohnung in West Kensington, das ist alles.«

»Was! Verheiratet!«

»Unglücklicherweise,« sagte der Pfarrer George, »nein, nicht verheiratet.«

»Oh!« sagte die Gräfin langsam mit einem Ausdruck der Erleichterung. »Es ist natürlich ganz entsetzlich; ein wirkliches Unrecht. Junge Männer tun so etwas. Es ist besonders töricht in Marmadukes Fall, denn er kann wirklich nicht die Abfindung aufbringen, die solchen Verbindungen immer folgt, wenn man sie auflösen will. Laß davon nur gar nichts Constance zu Ohren kommen. Es paßt sich nicht, daß ein Mädchen davon erfährt. Außerdem würde es nur Unheil bewirken.«

»Was im Himmel fällt dir ein, Mutter?« sagte Lord Jasper. »Es ist doch sehr leicht, Constance mitzuteilen, daß der Bursche ein Lump ist, und –«

»O Jasper, Jasper! Sprich nicht so roh. Du kennst gar nichts von ihm. Alle tun sie so etwas. Ich bin sehr zornig auf ihn, weil er auf solche Weise sein Einkommen schmälert, aber er wird diese Person so billig wie möglich abfinden, damit sie ihm entsagt, wenn er eine andere Verbindung eingeht. Was ich am meisten fürchte, ist, daß er sich beschwatzen läßt, seine Heirat zu lange hinauszuschieben. Aber man kann nichts daran ändern.«

»Wirklich,« sagte Lord Jasper erstaunt und ärgerlich, »du betrachtest es als eine ganz natürliche und passende Lebensführung für den Gatten deiner Tochter.«

»Bitte, mäßige dich etwas, Jasper. Ich liebe es nicht, wenn du in einem solchen Tone zu mir sprichst. Um die wirklich große Verantwortung zu tragen, die auf einer Mutter lastet, muß ich die Welt so nehmen, wie ich sie finde, und wissen, daß man gewisse sehr beklagenswerte Neigungen dulden muß. Du hast in der Einsamkeit deines Laboratoriums einen gewissen idealen Zustand der Dinge vor Augen, nach dem wir ja sicherlich alle verlangen, der aber unglücklicherweise nicht existiert. Ich habe mich niemals um Marmadukes Privatleben gekümmert, und du hättest es auch nicht tun sollen. Ich will mich ja auch nicht darüber täuschen, daß er möglicherweise eine solche Verbindung eingegangen ist, wie du sie da vorhin angedeutet hast.«

Lord Jasper versank in trübes Nachdenken und gab keine Antwort.

»Sie müssen sicherlich auch fühlen, George, daß es unbedingt notwendig ist, daß die Sache unter uns bleibt.«

Der Pfarrer George blickte ängstlich nach Lord Jasper hinüber und sagte ernst: »Ich sehe es auch tatsächlich nicht ein, daß unsere Einmischung in diese unaussprechlich schreckliche Geschichte eine segensreiche sein kann. Marmaduke muß es mit seinem eigenen Gewissen abmachen.«

»Ganz richtig!« sagte die Gräfin und zuckte ihre Schultern, als ob sie diese Bekräftigung seines Urteils deutlicher machen wollte. »Ist es nicht lächerlich von Jasper, wegen einer solchen Sache von einem Abbrechen der Verbindung zu reden?«

»Ich glaube, ich verstehe Jaspers Gefühle ganz gut. Eine offene Natur schreckt natürlich vor jeder Zweideutigkeit zurück. Aber alle unsere Handlungen müssen sich auf Liebe aufbauen, und wenn wir daran denken, müssen wir uns hüten, daß unsere Nachsicht gegen andere nicht ins Schwanken gerät. Wer weiß, ob nicht die Verbindung mit Ihrer reinen und lieblichen Tochter gerade das besondere Mittel ist, um ihn aus seiner gegenwärtigen Lage zu befreien.«

»Ich glaube, das ist sehr wohl möglich«, sagte die Gräfin. »Übrigens sind solche Sachen bekannt, obgleich man nicht darüber spricht. Keine Dame darf schicklicherweise behaupten, daß solche Verhältnisse möglich sind, trotzdem wird sie diese niemals als Grund bezeichnen, eine Verlobung abzubrechen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte der Pfarrer George; »aber kann diese weltliche Betrachtungsweise irgendwie das Urteil unseres Gewissens beeinflussen? Ich denke nicht. Wir wollen unser eigenes Urteil in dieser Sache dem Himmel überlassen. Dann, was auch die Welt denken mag, wird alles sicherlich zu einem guten Ende gelangen.«

»Ich hoffe, Jasper stimmt mit uns überein«, sagte Lady Sunbury.

»Ich habe mich noch nicht entschlossen«, sagte er, indem er sich erhob. »Ich werde zu den Mädchen gehen, sobald Sie fertig sind, Lind. Etwas frische Luft wird mir jetzt, glaube ich, gut tun.«

»Ich hoffe bestimmt, daß du so vernünftig bist und nicht nutzloserweise Schaden anstiftest, Jasper«, sagte die Gräfin aufbrechend. »Ich denke, wir wollen auf den peinlichen Gegenstand nicht mehr zurückkommen.«

»Ich bin vollständig Ihrer Meinung, vollständig«, sagte der Pfarrer George. »Äußerst peinlich. Erlauben Sie!«

Sie gingen in das Wohnzimmer und fanden es verlassen. Die Damen waren auf der Veranda. Die Gräfin nahm die Zeitung auf und setzte sich für ein Schläfchen zurecht. George ging in die Vorhalle, wo die Mädchen, nachdem sie den Sonnenuntergang angesehen hatten, nun das zunehmende Dunkel zwischen den Bäumen betrachteten, die am Rande der Wiese standen. Marian schlug eine Wanderung durch die Anpflanzung vor, solange noch etwas Licht da sei, und der Geistliche stimmte ihr bereitwillig zu. Lord Jasper ging auf den Flur, wie um seinen Hut zu holen; aber anstatt nach der Veranda zurückzukehren, ging er durch das Landhaus in sein Laboratorium und schlenderte von da, indem er die Terrasse durch die Glastür verließ, allein durch die Dunkelheit. In einem Feld nahe bei der Anpflanzung sah er einen Mann, der sich über den Drahtzaun lehnte.

»Hallo, Conolly!«

Conolly wandte sich um und rief »Hallo«.

»Wollen Sie verreisen?«

»Ja. Die Aussicht, wieder einmal in den Londoner Rauch unterzutauchen, gibt einem Abend wie diesem einen besonderen Reiz.«

»Haben Sie sich schon entschieden, an welchem Tage Sie fahren?«

»Ich denke, morgen abend.«

»Sie sollten eine kleine Tour unternehmen und sich erholen.«

»Danke, Feiertage halte ich nicht aus. Wenn ich nichts tue, werde ich krank. Nein, ich werde in einer Woche oder spätestens in zehn Tagen zurück sein.«

Sie gingen eine Zeitlang in Schweigen. Conolly blickte zuversichtlich über die Landschaft nach dem Horizont, während Lord Jasper mit traurigem Blick neben ihm herschlenderte.

»Conolly.«

»Ja.«

»Was halten Sie eigentlich von der Frau?«

»Eine schlechte Kopie des Mannes.«

»Was! Alle?«

»Alle. Nicht, daß Sie nicht ein gutes Exemplar des weiblichen Geschlechtes finden, das über einem schlechten des männlichen steht; aber im allgemeinen sind die Männer mehr wert. Sie werden dazu erzogen.«

»Ich bin nicht sicher, daß ich ganz die Konsequenzen verstehe, die aus Ihren Ansichten folgen. Zum Beispiel müßten Sie dann nach Ihrer Theorie keinen Respekt vor irgendeiner Frau haben.«

»Ich habe einen gewissen Respekt vor einem Hunde. Respekt ist ein sehr unbestimmter Begriff.«

»Ich meine, Sie lassen sich in Ihrem Urteil nicht durch das einer Frau bestimmen.«

»Sie muß mich überzeugen, daß ich im Irrtum bin.«

»Aber wenn Sie nicht überzeugt wären, würden Sie Ihr Urteil dem ihrigen aus Respekt oder aus einem Pflichtgefühl unterwerfen?«

»Ganz gewiß nicht, auch nicht dem eines Mannes. Wozu brauchen Sie ein Urteil zu haben, wenn Sie es an die Seite legen und sich fremdem Verstand fügen?«

»Gut, wollen wir das Verallgemeinern sein lassen und einen besonderen Fall betrachten. Nehmen Sie zum Beispiel an, ein Mann stimmt nicht mit seiner Mutter überein in einer Familienangelegenheit: würde er nicht verbunden sein, sich ihr zu fügen?«

»Es würde darauf ankommen. Wenn die Familienangelegenheit ihn selbst anginge, wenn er die Verantwortung dafür trüge, müßte er als vernünftiger Mann so handeln, wie er es für richtig hielte, ohne auf ihre Ansichten zu achten. Wenn es sie aber anginge, sollte er sie ruhig ihren eigenen Weg wählen lassen, ohne sich hineinzumischen, höchstens daß er ihr einen Rat gäbe. Nicht als ob sie sich danach richten müßte, wenn er ihr nicht gefiele, aber er könnte ihn doch anbieten.«

»Aber würden Sie die Frauen Ihrer eigenen Familie genau so schätzen, wie Sie es nach Ihren Erfahrungen der übrigen Welt tun?«

»Natürlich. Warum sollte die Frau, die mir das Leben gegeben hat, eine Ausnahme von der allgemeinen Regel machen. Geradeso glaubt der gewöhnliche Patriot, ein gewisses Land sei das beste auf der Welt, nur weil er darin geboren ist.«

»Aber ist es nicht gefährlich, mit der natürlichen Anhänglichkeit an Heimat und Familie zu spielen? Sicherlich haben viele der besten Seiten in unserer Natur ihre Wurzeln in diesen Gefühlen.«

»Ich glaube es nicht. Nur Schädliches kann aus dem Unvernünftigen entsprießen. Ich glaube auch nicht, daß die meisten Menschen ihre Eltern und ihr Vaterland lieben. Sie würden für das baufälligste und häßlichste Haus, das je errichtet worden, eine zärtliche Empfindung bewahren, wenn Sie darin Ihre Kinderjahre verbracht hätten.«

Während Conolly sprach, betraten sie die Anpflanzung, in der es jetzt ganz dunkel war. Lord Jasper ging schweigend und in Gedanken vorwärts. Er wurde durch einen Ausruf seines Begleiters aufgeschreckt, der einen Moment still stand und vorsichtig etwas weiter ging.

»Was gibt es?« fragte Lord Jasper.

»Wilddiebe, glaube ich«, antwortete Conolly gleichgültig. »Da stehen drei oder vier Menschen unter den Bäumen und warten. Hoffentlich halten sie mich nicht für einen Wildhüter, besonders da ich die Jagdgesetze so hasse.«

»Verzeihung«, rief jetzt die Stimme von Pfarrer George von der Stelle herüber, die Conolly bezeichnet hatte; »aber man kann nie wissen, was aus einer Täuschung entsteht, so unschuldig sie auch sein mag.« Mit diesen Worten verließ er sein Versteck, gefolgt von drei jungen Damen.

»Wir hätten dich erschreckt, wenn nicht George gewesen wäre«, sagte Constance, als Lord Jasper herantrat.

»Ja«, sagte Elinor. »Sobald er Ihre Stimme hörte, schlug ihm das Gewissen, weil er Sie täuschen wollte. Wir hielten Sie zuerst für eine Gesellschaft Wilddiebe.«

»Wir haben dasselbe von Ihnen gedacht. Ich wollte Sie schon mit Conollys Hilfe arretieren«, sagte Lord Jasper. »Ein Geistlicher, der wegen Wildfrevel arretiert würde, wäre ein Ereignis.«

»Oh, ich glaube, ich hatte schon das Vergnügen, Herrn Conolly kennenzulernen«, sagte der Pfarrer George förmlich. »Sehr erfreut, Sie zu sehen.«

»Danke sehr«, sagte Conolly. »Wenn die Damen wie gewöhnlich leichte Schuhe anhaben, ist es besser, wir gehen hier weiter.«

»Da wir Damen zufällig unsere Stiefel anhaben,« sagte Marian, »werden wir solange bleiben, wie wir Lust haben.«

Sie wandten sich aber doch heimwärts, und da der Pfad eng war, gingen sie paarweise. Der Geistliche und Constance gingen voran. Lord Jasper folgte mit Elinor. Conolly und Marian kamen zuletzt.

»Wohnt dieser junge Mann – Mister Conolly – in Hall?« fragte der Pfarrer George Constance.

»Nein. Er hat Rose Cottage, das kleine Haus auf Quilters Farm, ganz für sich allein.«

»So! Dann hat er es ja ganz gut hier.«

»Viel zu gut. Jasper läßt ihn mit sich reden, als wäre er ihm gleichgestellt. Aber ich denke, Jasper weiß selbst am besten, was er tut.«

»Ich habe bemerkt, daß er sich sehr leicht beeinflussen läßt. Das ist für einen jungen Mann ein schlechtes Zeichen und wird ihm, wie ich fürchte, bei seinen Plänen viel schaden.«

»Conolly ist Amerikaner und hält es, glaube ich, für eine feine Sache, Republikaner zu sein. Aber Jasper ist selbst schuld. Er verwöhnt ihn. Einmal wollte er ihn sogar abends im Salon haben, um Begleitungen zu spielen, aber Mama weigerte sich ausdrücklich, es zu gestatten. Jasper ist sehr eigensinnig, und wenn er auch keinen Streit anfing, so gewöhnte er sich doch an, nach Rose Cottage hinüber zu gehen und dort die Abende mit Singen und Spielen zu verbringen. Alle hier am Platz merkten das natürlich, und Mama war sehr beleidigt. Sie kann das gewöhnliche Volk nicht ausstehen.«

»Finden Sie ihn unangenehm – ich meine, persönlich?«

»Ich! Lieber Himmel! Im Traum denke ich nicht daran, mit ihm zu sprechen. Seine Anwesenheit hier ist unangenehm, weil er einen schlechten Einfluß auf Jasper ausübt. Nur aus diesem Grunde wäre ich froh, wenn er ginge.«

»Ich hoffe, Marian gibt sich Mühe, dem Verkehr mit ihm möglichst auszuweichen.«

»Nun, Marian lernt Elektrotechnik von ihm, und das macht natürlich einen Unterschied. Ich mache mir nicht viel aus solchen Sachen und gehe nie in das Laboratorium, wenn er da ist, und so weiß ich natürlich nicht, ob er den Versuch macht, mit ihr vertrauter zu werden oder nicht. Ich zweifle nicht daran, daß er tatsächlich dazu imstande ist. Und dann kann er vermutlich auch wie ein Musiklehrer oder eine französische Gouvernante mit seiner Schülerin weniger zeremoniös sprechen, als er es dürfte, wenn er mit ihr auf die gewöhnliche Art zusammen wäre.«

»Es ist eine seltsame Idee für Mädchen, wissenschaftliche Studien zu treiben.«

»Tatsächlich, ich weiß nicht, warum sie es tun. Es ist auch ein großer Unsinn von Jasper, sich damit zu beschäftigen. Er wird niemals seine Stellung, wie es sich schickt, ausfüllen, wenn er nicht diese dumme Werkstätte schließt. Er sollte jagen und schießen und sich viel mehr der Gesellschaft widmen, als er es jetzt tut. Papa ist immer in London oder im Ausland, so daß wir hierin ganz auf Jasper angewiesen sind. Ich glaube, er ist ganz verrückt.«

»Nicht verrückt. Sagen Sie das nicht. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen eine kleine Belehrung gebe; aber Sie dürfen, selbst ohne sich dabei etwas zu denken, von Ihrem Bruder nicht als einem Verrückten sprechen. Er ist zweifellos etwas unbesonnen, aber alle Menschen haben nicht dieselben Neigungen.«

»Wenn Leute eine gewisse Stellung einnehmen, müssen sie sich entschließen, den Anforderungen dieser Stellung gerecht zu werden, ob sie dazu Neigung haben oder nicht.«

Der Pfarrer George, der den Respekt vermißte, mit dem Damen, die nicht mit ihm verwandt waren, gewöhnlich seine Ermahnungen aufnahmen, wechselte den Gesprächsgegenstand.

Unterdessen waren Conolly und Marian, da sie langsamer gingen als die übrigen, weit zurückgeblieben. Anfangs schwiegen sie. Marian schien bedrückt zu sein. Sie sah ihn ein paarmal unsicher an und sagte dann:

»Haben Sie beschlossen, morgen nach London zu gehen, oder warten Sie bis Freitag?«

»Morgen, Miß Lind. Kann ich für Sie etwas in der Stadt besorgen?«

Marian schwieg in verlegenem Nachdenken.

»Glauben Sie nicht, daß Sie mir sehr viele Mühe machen«, sagte er. »Ich bin so daran gewöhnt, den Transport von Maschinen zu überwachen, die so schwer wie Koffer und so zerbrechlich wie Hutschachteln sind, daß die Sorge für ein Hausvoll gewöhnlichem Gepäck nur eine Unterhaltung für mich ist.«

»Danke sehr, aber das ist es nicht. Ich dachte nur – glauben Sie, daß Sie meinen Vetter treffen, Mister Marmaduke Lind, während Sie in London sind?«

»N–nein. Oder ich müßte ihn aufsuchen, wozu ich keinen Vorwand habe.«

»Oh, ich dachte, Sie wären mit ihm bekannt.«

»Ich lernte ihn auf dem Konzert kennen.«

»Aber ich dachte, Sie gingen öfter mit ihm aus. Wenigstens habe ich ihn so verstanden, Sie wären zusammen im Theater gewesen.«

»Das waren wir; aber nur einmal, wir gingen nach dem Konzert dahin, und seitdem hab' ich ihn nicht mehr getroffen.«

»Oh, wirklich! Dann habe ich mich gänzlich geirrt.«

»Wenn Sie aus irgendeinem besonderen Grunde wünschen, daß ich ihn besuche, will ich es tun. Ich kann es versuchen auf Grund unserer früheren Bekanntschaft und Ihrer Empfehlung.«

»Nein, o nein. Ich wollte – daß ihm nur indirekt durch einen guten Freund etwas mitgeteilt werden sollte – durch jemand, der einen Einfluß auf ihn ausübt. Mehr ein Wink als sonst etwas. Aber es macht nichts aus. Schließlich kann ich es nicht ändern.«

Conolly sprach kein Wort, bis sie einige dreißig Meter im Schweigen so gegangen waren. Dann sagte er: »Wenn Ihnen die Angelegenheit wirklich wichtig ist, Miß Lind, so kann ich es wohl so einrichten, daß ihm die Botschaft durch jemand übermittelt wird, der einen Einfluß auf ihn ausübt. Ich bin nicht absolut sicher, daß ich es kann, aber ich hoffe doch, daß es mir ohne Schwierigkeit gelingen wird.«

Marian sah ihn etwas erstaunt an. »Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll«, sagte sie unentschlossen.

»Dann tun Sie gar nichts«, antwortete Conolly einfach. »Oder wenn Sie diesem Herrn etwas mitteilen wollen, schreiben Sie es ihm.«

»Aber ich weiß nicht seine Adresse, und mein Bruder sagt, ich dürfe ihm nicht schreiben. Ich glaube auch nicht, daß ich es darf. Aber ich möchte ihm etwas mitteilen, was viel Unheil verhüten kann. Es scheint so gefühllos, sich ruhig hinzusetzen und zu sagen: ›Es ist nicht meine Sache, einzugreifen, wenn man das Unglück so leicht verhindern kann.‹«

»Ich rate Ihnen, sehr vorsichtig zu sein, Miß Lind. Für anderer Leute Glück zu sorgen, ist eine undankbare und gefährliche Sache. Sie wissen nicht die Adresse Ihres Vetters, sagten Sie?«

»Nein. Ich glaubte, Sie wüßten sie.«

Conolly schüttelte den Kopf. »Wer weiß sie denn?« fragte er.

»Mein Bruder George weiß sie. Aber er weigert sich, sie mir zu sagen. Ich werde ihn nicht noch einmal danach fragen.«

»Natürlich nicht. Ich kann sie für Sie ausfindig machen. Aber was soll das nützen, wenn Sie glauben, Sie dürften ihm nicht schreiben?«

»Ich versichere Ihnen, Mister Conolly, wenn es mich allein anginge, würde ich Ihnen ohne weiteres alles erzählen und Sie um Rat fragen. Sie würden mir sicher den rechten Weg zeigen. Aber dies ist eine Angelegenheit, die nur andere Leute angeht.«

»Dann will ich Ihnen meinen Rat geben, ohne daß Sie es mir sagen. Mischen Sie sich nicht hinein.«

»Aber –«

»Aber was?«

»Schließlich: was ich tun möchte, könnte kein Unheil herbeiführen. Wenn man Marmaduke einen Wink geben könnte, sofort hierherzukommen – er ist eingeladen und hat seinen Besuch von Woche zu Woche hinausgeschoben – würde es genügen. Er wird Verdruß haben, wenn er sich noch länger entschuldigt. Und er kann alles in Ordnung bringen, wenn er nur herkommt.«

»Es wird schwierig sein, ihm eine solche unbestimmte Warnung zu geben, wenn man es ihm nicht als eine private Nachricht von Ihnen sagen kann. Und sind Sie sicher, daß sein Herkommen auf die Dauer gute Folgen hat? Wenn – entschuldigen Sie die Annahme – sein Erscheinen nur über die augenblicklichen Schwierigkeiten hinweghilft, wird es vielleicht für ihn besser sein, wenn er fortbleibt und das Übel zur Entscheidung kommen läßt, solange es jung und klein ist, als wenn er es in die Länge zieht, bis es größeren Umfang angenommen.«

»Nein, Sie irren sich. Es gilt weniger, über eine augenblickliche Schwierigkeit wegzukommen, als ihn einem schlechten Einfluß zu entziehen, der ihn ruiniert. Da ist eine Person in London, von der er auf alle Fälle ablassen muß. Wenn Sie nur wüßten – ich wollte, Sie wüßten es.«

»Vielleicht weiß ich mehr, als Sie vermuten. Sehen Sie, Miß Lind, wir wollen einander verstehen. Ihre Familie wünscht, daß Ihr Vetter Lady Constance heiratet. Ich weiß das. Sie hat nichts dagegen, das weiß ich auch. Wohl aber er.«

»Oh,« rief Marian, »da irren Sie sich. Er ist nicht dagegen.«

»Immerhin«, fuhr Conolly fort, »benimmt er sich mit einem gewissen Grad von Gleichgültigkeit gegen sie – kommt zum Beispiel jetzt nicht her. Ich vermute, daß der schlechte Einfluß, den Sie erwähnt haben, die Ursache seines Fernbleibens ist.«

»Ja, da haben Sie recht. Nur, da Sie die Angelegenheit nicht genau kennen, irren Sie sich über Marmadukes Charakter. Er kommt leicht auf Abwege und achtet sowenig auf diese kleinen Aufmerksamkeiten, die soviel bei Frauen gelten. Aber er ist durchaus ehrenhaft und unfähig, mit Lady Constance zu spielen. Unglücklicherweise ist er leicht zu täuschen und schnell einer Gesellschaft müde, in der er sich nicht ein wenig austoben kann. Ich fürchte, irgend jemand hat diese Seite seines Charakters benutzt, um eine große Gewalt über ihn zu erlangen. Ich« – hier wurde Marian nervös und konnte nur schwer ihre Stimme beherrschen – »ich sah diese Person einmal im Theater, und ich kann mir denken, wie sie Marmaduke fasziniert. Sie war so fein, so hübsch und so – und so schrecklich gemein. Ich war böse auf Marmaduke, weil er uns dorthin gebracht hatte, und ich erinnere mich jetzt, daß er böse auf mich war, weil ich sagte, sie machte mich schaudern.«

»Das kann ich mir wohl vorstellen, Miß Lind: ich kenne sie zufällig. Gerade durch sie wollte ich seine Adresse ausfindig machen.«

»Aber ihre Adresse ist jetzt auch seine Adresse, Mister Conolly. Ich glaube, er ist irgendwo in West Kensington.«

Conolly blieb plötzlich stehen. Dann fragte er sie, als er sich langsam gesammelt und eine Haltung angenommen hatte, mit unnatürlicher Höflichkeit:

»Verstehe ich Sie recht: Sie sagten, diese Person – verzeihen Sie, wenn ich auch nur einen Augenblick den Anschein erweckte, als ob ich von ihrer Existenz wüßte – lebt jetzt mit Mister Lind zusammen?«

Marian wich einen Schritt zurück, zitterte und sagte: »Ja.«

»Seit wann, wenn ich fragen darf?«

»Erst seit kurzem, glaube ich. Ich weiß es nicht.«

Einen Moment sahen sie sich fest an, und sie bedauerte ernstlich, daß sie so weit hinter ihren Gefährten zurückgeblieben war. Er marschierte endlich in seinem gewohnten Schritt weiter, aber es wurde kein Wort mehr zwischen ihnen gewechselt, bis sie in das Mondlicht dicht bei der Veranda heraustraten. Dann blieb er wieder stehen und zog seinen Hut ab.

»Gestatten Sie, daß ich Sie jetzt verlasse«, sagte er sanft. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, stammelte Marian.

Er ging mit schwerem Schritt fort. Sie eilte auf die Veranda, wo sie Jasper und Elinor fand. Das andere Paar war in den Salon gegangen.

»Hallo!« sagte Jasper, »wo ist Conolly? Ich wollte ihm vor dem Fortgehen noch etwas sagen.«

»Er ist gerade gegangen«, sagte Marian und zeigte über den Rasen. Lord Jasper rannte sofort in dieser Richtung davon und ließ die beiden Kusinen allein.

»Na, Marian,« sagte Elinor, »weißt du, daß du mehr als eine Viertelstunde länger gegangen bist von der Anpflanzung bis hier, als wir gebrauchten, und daß du sehr erschrocken aussiehst? Unsere liebe Constance, wie der Pfarrer sie nennt, hat einige hübsche Bemerkungen darüber gemacht.«

»Seh' ich verstört aus? Hoffentlich bemerkt es Tante nicht. Ich wollte, ich könnte gleich zu Bett gehen, ohne noch jemand zu sehen.«

»Warum? Was ist geschehen?«

»Ich erzähl' es dir heute abend, wenn du zu mir hereinkommst. Ich ärgere mich über mich selbst; und ich glaube, Conolly ist verrückt.«

»Verrückt!«

»Auf mein Wort, ich glaube, Conolly ist verrückt geworden«, sagte Lord Jasper, der in diesem Augenblick außer Atem und lachend zurückkam.

Elinor stutzte und sah Marian an.

»Er marschierte ganz verständig nach dem Zaun hin an dem gelben Feld, als ich ihn einholte. Gerade wollte ich ihn anrufen, da starrte er auf und setzte mit einem flinken Satz über den Zaun. Ich kletterte hinüber und versuchte, ihn einzuholen, aber er eilte in einem wütenden Tempo davon, indem er mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und lachte, als ob er sich über einen ungewöhnlich guten Witz freute. Ich weiß nicht sicher, ob ich ihn nicht auch Solo tanzen sah, aber da es so dunkel war, will ich es nicht verschwören.«

»Schwören Sie nicht«, sagte Elinor skeptisch. »Laßt uns hineingehen. Und bitte, verleiten Sie George nicht zum Reden. Ich habe Kopfschmerzen und möchte zu Bett gehen.«

»In Anbetracht Ihrer Kopfschmerzen sind Sie in sehr guter Stimmung gewesen«, antwortete er in demselben Tone. »Er ist sehr plötzlich gekommen, Ihr Kopfschmerz.«

Als sie in den Salon eintraten, fanden sie, daß Constance schon ihre Mutter aufgeweckt und ihr einen Bericht über den Spaziergang gegeben hatte. Jasper erzählte dann noch, was er soeben gesehen hatte. »Ich habe seit langer Zeit nicht mehr so gelacht«, sagte er schließlich. »Er ist sonst immer so ein ernsthafter Bursche.«

»Ich finde nichts Amüsantes in den Possen eines betrunkenen Arbeiters«, sagte die Gräfin. »Wie du Marian auch nur einen Augenblick seiner Gesellschaft anvertrauen konntest, das kann ich nicht begreifen.«

»Er war wirklich nicht betrunken«, sagte Marian.

»Natürlich nicht«, meinte Lord Jasper. »Ich bin mit ihm spazieren gegangen, kurz bevor wir die Mädchen trafen. Sie sind sehr blaß, Marian, haben Sie auch Kopfschmerzen?«

»Ich habe den ganzen Tag Tennis gespielt und bin äußerst müde.«

Bald darauf, als Marian zu Bett war und Miß McQuench nach ihrer allabendlichen Gewohnheit auf der Bettdecke saß, um sich mit ihr zu unterhalten, besprachen sie das Ereignis sehr ernsthaft.

»Ich muß sagen, ich verstehe ihn überhaupt nicht«, sagte Elinor, als Marian berichtet hatte, was in der Anpflanzung geschehen war. »War es nicht sehr unvorsichtig, ihn in eine so delikate Angelegenheit einzuweihen?«

»Deshalb schäme ich mich ja so außerordentlich. Er hätte wissen müssen, daß ich es nur gut gemeint. Und dann glaubte ich auch, er sei gänzlich ohne falsche Empfindlichkeit.«

»Das meine ich nicht. Woher weißt du, daß die Geschichte wahr ist? Du hast sie doch nur aus Mistreß Leith Fairfax' letztem Brief, und sie ist vielleicht die größte Lügnerin auf der Welt.«

»Oh, Nelly, du solltest nicht so starke Ausdrücke über andere gebrauchen. Sie würde es nie wagen, mir über Marmaduke eine erfundene Geschichte zu erzählen.«

»Nach meiner Meinung würde sie jedermann alles mögliche erzählen, nur um ihre Zunge oder Feder zu gebrauchen.«

»Man findet so schwer, was man tun soll. Es war doch niemand da, dem ich mich anvertrauen konnte. Jasper würde sich mit Marmaduke gezankt haben, und Constance stand natürlich ganz außer Frage. Da war noch Tante, aber der wollte ich es auch nicht gerne erzählen.«

»Weil sie ein böses altes Weib ist, mit der eine feinfühlende Dame über so etwas nicht reden würde«, sagte Elinor und gab dem Bett einen Stoß mit ihren Fersen.

»Still, Nelly. Ich lebe immer im Schrecken, du möchtest so etwas einmal vor andern Leuten sagen, aus lauter Gewohnheit.«

»Keine Angst. Du sagtest, du hattest keine Möglichkeit, Duke eine Warnung zu übermitteln, außer durch Conolly. Und jetzt zeigt es sich, daß sie durchaus nicht intim miteinander sind.«

»Ganz und gar nicht. Sie sind nur das eine Mal zusammen im Theater gewesen. Ich glaubte, ich hätte den Gegenstand fallen lassen müssen, als er mir das erzählte. Aber es schien mir so unmanierlich und mißtrauisch, so zu handeln, daß ich mich dazu verleiten ließ, ihm alles zu erzählen. Übrigens wußte er es ebensogut wie ich.«

»Nun, du hast getan, was du konntest. Ich glaube, es war ganz recht, und wenn er deine Motive nicht zu würdigen weiß, ist er eben noch schlechter, als es die Lady Sunbury glaubt. Es ist zwecklos, etwas zu bereuen, was man nicht mehr ändern kann. Du kannst dich nicht auf den Schutz des Konventionellen verlassen, wenn du voll Selbstachtung aufrichtig wirst. Übrigens erinnerst du dich, daß Jasper, seine teure Mama und George nach dem Essen eine Familienberatung hatten? Du kannst sicher sein, George hat ihnen alles erzählt.«

»Was! Dann war ja mein unglückseliger Versuch, Marmaduke eine Warnung zu senden, nutzlos. Oh, Nelly, das ist zu schlimm. Glaubst du es wirklich? Als ich ihm vor dem Essen erzählte, was Mistreß Leith Fairfax schrieb, sagte er nur, er fürchte, es sei wahr, und weigerte sich, mir die Adresse zu sagen.«

»Und so sankst du herab bis auf Conolly. Es ist gut, daß George die Verantwortung trägt. Er wußte sehr gut, daß es wahr war, denn er hatte es ja gerade Jasper erzählt. Ich schließe das daraus, weil Jasper mir erzählte, ihn bedrücke etwas. Mister George hat kein Recht, dein Bruder zu sein. Er ist schlimmer wie einer, der nicht zur Hochkirche gehört. Dissidenten versuchen wenigstens Gentlemen zu sein; aber George hat in dem Punkt über sich keine Zweifel, so kann er seine ganze Energie auf sein Pfarrertum werfen. Er ist ein Erzheuchler.«

»Ich glaube nicht, daß er ein Heuchler ist. Ich denke, er glaubt aufrichtig, seine Pflicht gegen die Hochkirche erfordert es, daß er sich so benimmt.«

»Dann ist er ein Esel, was noch schlimmer ist.«

»Ich wollte, er wäre nur etwas natürlicher in seinem Benehmen.«

»Er ist natürlich genug. Es ist stets dasselbe mit Geistlichen: ›sie sind nun halt mal so.‹ Es wird sehr kalt hier außerhalb des Betts. Gute Nacht.«


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