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Zehntes Kapitel

Am nächsten Morgen erhielt Douglas einen Brief, der ihn zum Lunch in Mr. Linds Klub einlud. Er hatte den größeren Teil der letzten Nacht mit dem Dichten eines Sonetts ausgefüllt und trug es nun in seiner Tasche nach St. James' Street. Mr. Lind empfing ihn herzlich, hörte seinen Bericht über den Aufenthalt im Ausland an und beschrieb seine eigenen Reisen auf dem Kontinent. Beide Herren fanden es sehr interessant, wenn es sich herausstellte, daß sie zufällig in demselben Hotel gewohnt oder auf derselben Eisenbahnlinie gefahren waren. Als das Frühstück vorüber war, schlug Mr. Lind vor, ins Rauchzimmer zu gehen.

»Ich möchte zuerst noch ein paar Worte mit Ihnen reden, da wir hier allein sind«, sagte Douglas.

»Gewiß«, sagte Mr. Lind und nahm einen Ausdruck würdiger Güte an, da er voraussah, daß er jetzt in seiner Eigenschaft als Vater gefragt wurde. »Gewiß, Sholto.«

»Was ich Ihnen zu sagen habe, wird Sie sicher überraschen, weil es so bald nach meiner langen Abwesenheit kommt. Ich hatte es schon vor meiner Wegreise im Sinne, wurde aber durch Umstände, die jetzt glücklicherweise ihre Bedeutung verloren haben, daran gehindert, es Ihnen mitzuteilen. Wenn ich Ihnen sage, daß sich meine Mitteilung auf Marian bezieht, werden Sie vielleicht deren Sinn erraten.«

»Wirklich!« sagte Mr. Lind und stellte sich höchst erstaunt. »Nun, Sholto, wenn es sich so verhält, Sie haben meine herzlichste Zustimmung. Sie wissen, welch ein einsames Leben ihre Heirat für mich herbeiführt, darum werden Sie einsehen, daß ich meine Einwilligung nicht ohne einiges Bedauern gebe. Aber ich könnte mir keine bessere Verbindung für sie denken. Eines Tages muß sie mich doch verlassen. Ich habe kein Recht, mich zu beklagen.«

»Wir werden hoffentlich nicht sehr weit voneinander sein; und es liegt auch in Marians Natur, viele Verbindungen anzuknüpfen, aber keine zu brechen.«

»Sie ist ein liebenswürdiges Mädchen, meine – mein herziges Kind. Weiß sie etwas hiervon?«

»Sie hat mich ausdrücklich gebeten, hierherzukommen, und es bleibt mir nur noch das Vergnügen, ihre eigene endgültige Zustimmung zu holen, zu der ich sie nicht drängen wollte, bevor ich mir nicht Ihre Zustimmung geholt hatte.«

Abgesehen von einem unwillkürlichen Aufreißen der Augenlider, sah Mr. Lind so aus, als ob er vollständig an Douglas' Respekt vor seinen väterlichen Vorrechten glaubte. »Ganz recht,« sagte er, »ganz recht. Sie haben meine besten Wünsche. Ohne allen Zweifel werden Sie Erfolg haben. Es sind ja natürlich noch ein paar Angelegenheiten in Ordnung zu bringen – es muß für einige Möglichkeiten gesorgt werden – Kinder – Unglücksfälle und so weiter. Es werden natürlich in dieser Sache zwischen uns keine Meinungsverschiedenheiten entstehen, aber wir müssen doch alles erledigen.«

»Ich schlage einen sehr einfachen Weg vor, alles in Ordnung zu bringen. Sie sind ein Ehrenmann und wissen besser in geschäftlichen Dingen Bescheid als ich. Nennen Sie die Summe, die ich Marian aussetzen soll. Geben Sie mir Ihren Rat. Ich werde es sofort meinem Anwalt übermitteln.«

»Das ist gesprochen wie ein Gentleman und ein Douglas, Sholto. Aber ich muß überlegen, bevor ich Ihnen meine Antwort gebe. Sie haben mir die Pflicht auferlegt, sowohl Ihre als auch Marians Lage zu betrachten, und ich darf weder Ihre Großmut mißbrauchen noch Marians Interesse zurückstellen.«

»Sie werden mir trotzdem gestatten, daß ich die Angelegenheit für erledigt halte, da ich sie ganz in Ihre Hände lege.«

»Mein eigenes Vermögen hat ernsthaft gelitten durch die Extravaganzen Reginalds, und wirklich, beide Jungens haben mich viel Geld gekostet. Ich hatte nicht wie Sie das große Glück, der einzige Sohn zu sein. Ich war der vierte Sohn eines jüngeren Sohnes, da blieb wenig für mich übrig. Ich werde Marian so freigebig ausstatten, wie ich kann, aber leider kann ich nichts für sie tun, was sich mit Ihrer eigenen Großmut vergleichen könnte.«

»Gewiß, ich kann ihr genug geben. Ich würde es vorziehen, allein für ihr Wohlergehen verantwortlich zu sein.«

»O nein. Das wäre zu schlecht. O nein, Sholto, ich werde ihr, Gott sei Dank, etwas mitgeben.«

»Wie Sie wünschen, Mister Lind. Wir können das nachher zu Ihrer Befriedigung erledigen. Beabsichtigen Sie, bald nach Westbourne Terrace zurückzukehren?«

»Leider geht es nicht. Ich habe in der City zu tun. Übrigens, Marian wird den ganzen Nachmittag nicht zu Hause sein.«

Douglas zog die Augenbrauen zusammen, aber er sagte nichts.

»Ja,« fuhr Mr. Lind fort, »irgendeine alte Verabredung, glaube ich. Ich muß leider sehr oft von Hause weg sein, und sie tun natürlich, was sie wollen. Wenn Sie so weit mitkommen wollen bis an die City, kann ich Ihnen die Räume der Gesellschaft zeigen und das Arbeiten des Motors. Es ist wohl der Mühe wert, ihn sich anzusehen. Dann können Sie mit nach Terrace zurückkehren und bei uns essen. Nach dem Diner können Sie mit Marian reden.«

Douglas, der nicht wußte, wie er sonst die Zeit verbringen sollte, stimmte zu, und sie gingen nach Queen Victoria Street zu einem Gebäude mit einem Messingschild auf jedem Türpfosten: Londoner Conolly Elektromotor-Gesellschaft m. b. H. In den Büros im ersten Stock wurden sie diensteifrig von einem Angestellten empfangen, der Mr. Lind mitteilte, Mr. Conolly sei im Geschäft. Sie gingen zu einer Tür, auf der der Name des Erfinders stand, und betraten ein hübsch ausgestattetes Büro, das verschiedene Arbeitsmodelle von Maschinen enthielt und einen Schreibtisch, von dem sich Conolly erhob, um die Gäste zu begrüßen.

»Guten Tag, Mister Lind. Wie geht es Ihnen, Mister Douglas?«

»Oh!« sagte Mr. Lind. »Sie kennen sich, das wußte ich gar nicht.«

»Ja,« sagte Conolly, »ich hatte das Vergnügen, Mister Douglas gestern abend in der Akademie zu treffen.«

»Wirklich? Marian hat gar nichts davon erzählt, daß Sie da waren. Nun, können wir uns die Wunder hier ansehen, Mister Conolly, oder stören wir Sie?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete Conolly, indem er sich zu einem der Modelle wandte und seinen Erklärungsvortrag mit beängstigender Fertigkeit begann. »Sie müssen sich klarmachen, Mister Douglas, daß ich keine Maschinen erfinde, sondern sie nur ausbaue. Bisher war, wie Sie ja zweifellos wissen, der Dampf der Elektrizität als Triebkraft überlegen, weil er billiger war. Selbst magnetische Induktionsströme, die billigste bekannte Form elektrischer Energie, kann man nur durch Benutzung der Dampfkraft erhalten. Sie erzeugen Dampf durch Verbrennung von Kohle; Elektrizität, ohne Dampf, nur durch Verbrennung von Metallen. Kohle ist viel billiger als Metall: bedenken Sie die ungeheure Menge Kohle, die man beim Ausschmelzen von Metallen verbraucht – so daß Dampf die bei weitem billigere der beiden Kräfte ist – oder vielmehr war. Ich habe nun eine Elektrizitätsquelle entdeckt, die soviel billiger ist als Kohle, wie Kohle billiger ist als Metall. Ich kann nach dem Gesetz keine Entdeckung patentieren lassen, aber ich ließ mir die Art ihrer Anwendung patentieren, und wir können jetzt Wasser pumpen, Mühlsteine drehen, Eisenbahnen treiben und Aufzüge hoch heben, bei einer Ersparnis an Feuerung und Arbeit von nahezu siebzig Prozent der Kosten für Dampfkraft. Und«, fügte er hinzu, indem er Douglas fest ansah, »da man jetzt einen sechspferdigen Motor in einem Gewicht von weniger als dreißig Pfund bauen kann, einschließlich der Heizstoffe, so ist Fliegen jetzt wirklich möglich.«

»Wie!« sagte Douglas ungläubig. »Zeigt nicht alle glaubwürdige Erfahrung, daß Fliegen ein Traum ist?«

»Das tat es bisher, weil eine Verbindung von großer Kraft mit geringem Gewicht, wie sie zum Beispiel ein Adler besitzt, bisher bei einer Maschine nicht durchgeführt werden konnte. Die leichteste bekannte Dampfmaschine von vier Pferdekräften wiegt nahezu fünfzig Pfund. Mit meinem Motor gibt eine Maschine, die dreißig Pfund wiegt, etwas mehr als sechs Pferdekräfte, oder mit andern Worten, sie entwickelt eine Flugkraft, die viel mehr als ihr eigenes Gewicht trägt. Wenn die Aeronautische Gesellschaft nicht in den nächsten Jahren eine Maschine anfertigt, die Passagiere in weniger als zwei Tagen durch die Luft nach Neuyork trägt, werde ich eine bauen.«

»Wirklich sehr wunderbar«, sagte Douglas höflich und sah ihn etwas von der Seite an.

»Ich versichere Ihnen, es ist nichts wunderbarer, als der Flug eines Sperlings. Wir werden sogleich durch meinen Motor bis zum Dach dieses Gebäudes fahren. Hier haben Sie das Modell einer Lokomotive, das Modell eines Dampfhammers und eine Nähmaschine, die ich alle, wie Sie, in Gang setzen kann. Aber das ist nur für das Ansehen. Sie müssen immer im Kopf behalten, daß das Neue nicht im Arbeiten der Maschinen liegt, sondern in der Billigkeit dieses Arbeitens.«

Douglas hörte den Rest der Vorführung schweigend an. Er verstand nichts von den Einzelheiten, bis es ihm erklärt wurde, und verstand es dann nicht einmal völlig. Es war ihm unangenehm, sich von Conolly belehren zu lassen – zu fühlen, daß es da Dinge gab, von denen Conolly alles und er nichts verstand. Wenn er nur eine oder zwei passende Fragen hätte stellen können, die zeigten, daß er wohl imstande sei, das Gebiet zu beherrschen, wenn er ihm seine Aufmerksamkeit schenken wollte, dann würde er Conollys Belehrung über die Maschinen ebenso gleichgültig aufgenommen haben wie die eines Polizisten über den kürzesten Weg nach irgendeinem Platze, wohin Gentlemen nicht oft hingehen. Aber es fiel ihm keine Frage ein, die scharfsinnig genug war, um auf Conolly Eindruck zu machen, der noch außerdem, wie er glaubte, sich vorbereitet hatte. Voll Ärger hierüber nahm er seine Zuflucht zu seiner gewöhnlichen Zurückhaltung und gab sich Mühe, damit die Vorführung nicht um seinetwillen verlängert werden sollte, nicht mehr Interesse zu zeigen, als unbedingt notwendig war, um Mr. Lind zu befriedigen. Zuletzt war es vorbei, und sie kehrten beide in einem Hansom nach dem Westen zurück.

»Er ist wohl ein Yankee«, sagte Douglas, als ob Erfindungsgabe eine schlechte Gewohnheit sei, die man bei einem Amerikaner ertragen müßte.

»Ja, diese Menschen haben wundervolle Anlagen für so etwas. Der Instinkt für technische Dinge ist doch eine seltsame Geistesrichtung.«

»Es ist eine mir sehr unsympathische. Sie ist meistens der Selbsttäuschung unterworfen, sie sei die allein wertvolle. Diese Mechaniker hassen die Kunst, schlagen mit Eisenstäben auf sie ein und suchen sie unter all den harten und häßlichen Dingen des Lebens zu ersticken. Auf der andern Seite haßt der Künstler jede Art von Maschinerie. Ich fürchte, ich bin ein Künstler.«

»Ich glaube nicht, daß Sie da ganz recht haben, Sholto. Nein. Denken Sie an die Dampfmaschine, die Telegraphie, die – die andern Erfindungen des Jahrhunderts. Wie würden wir ohne die noch fertig werden?«

»Geradesogut, wie Athen ohne sie fertig geworden ist. Unsere mechanischen Erfindungen scheinen uns Dienste zu leisten, aber in Wirklichkeit meistern sie uns, drängen und stoßen die Schönheit aus unserm Leben und machen den Handel zu dem einzig Wertvollen.«

»Ich gebe gewiß zu, daß die roheren Formen des Radikalismus beunruhigende Fortschritte unter dem Einfluß unserer modernen Zivilisation gemacht haben. Aber die Annehmlichkeit der Fortbewegung durch Dampfkraft ist so schwerwiegend, daß ich zweifle, ob wir auf sie verzichten könnten. Auch kann ich als überzeugter Liberaler, als gemäßigter Liberaler, für keine Art Rückschritt eintreten, selbst wenn er sich auf das alte Griechenland hinbewegt.«

Douglas fühlte eine gewisse Ungeduld gegenüber Mr. Lind, der ihm wie ein Mann von guten Manieren vorkam, der aber nichts gelernt und alles vergessen hatte. Indessen machte er keine Einwendungen, sondern sagte nur kühl: »Ich kann nur sagen, ich wollte, das Schicksal hätte mich zu einem alten Athener anstatt zu einem Engländer des neunzehnten Jahrhunderts gemacht.«

Mr. Lind lächelte höflich, er kannte ihn besser, war aber in zu nachgiebiger Stimmung, um es auszusprechen. Es geschah dann nicht mehr viel zwischen ihnen, bis sie Westbourne Terrace erreichten. Marian und Elinor zogen sich gerade zum Diner an. Douglas, der sehr genau in solchen Dingen war, hatte heute keine Gelegenheit gehabt, sich umzuziehen, aber Mr. Lind hielt ihn in höflicher Weise bei Laune, indem er ebenfalls in Straßentoilette blieb. Diese Kleinigkeit milderte auch die förmliche Stimmung, die Douglas' Anwesenheit gewöhnlich in Gesellschaften verbreitete, die klein genug waren, daß sie durch das Benehmen eines einzelnen Herrn beeinflußt wurden.

Als Marian herunterkam, war Douglas von ihrer Schönheit so berührt, daß er etwas aus der Fassung geriet und sie nur mit leiser Stimme begrüßte. Er führte sie zur Tafel und saß schweigend neben ihr, indem er weder auf die Redensarten seines Wirtes noch auf die scharfen Bemerkungen der Miß McQuench zu achten schien.

Mr. Lind machte heute abend keine Umstände. Nachdem er seinen Wein getrunken, machte er ein Schläfchen und erlaubte seinem Gast, allein hinaufzugehen. Douglas hoffte, Elinor würde ebenso rücksichtsvoll sein, zu seinem Mißvergnügen fand er sie aber allein im Gesellschaftszimmer. Sie beeilte sich, ihn aufzuklären.

»Marian sucht sich etwas Musik aus. Sie wird sofort zurück sein.«

Er setzte sich hin und sagte, indem er ein Album vom Tisch nahm: »Haben Sie viele neue Gesichter hier?«

»Ja. Aber wir nehmen niemals alte Bilder für neue heraus. Die alten Gesichter interessieren einen immer am meisten.«

»Dieses von Mister Lind habe ich noch nicht gesehen. Es ist prachtvoll. Ah, hier Ihr Bild ist ein alter Bekannter.«

»Ja. Und was halten Sie von Constances Bild auf der andern Seite?«

»Es sieht aus, als ob sie ein möglichst trauriges Gesicht machen wollte. Was ist das für ein Kleid? Ist das eine Uniform?«

»Ja, sie war Kinderpflegerin. Hat Ihnen das Mistreß Douglas nicht erzählt?«

»Ich glaube. Ich vergaß es. Ging sie nicht in ein Krankenhaus oder so etwas?«

»Sie verließ es wieder, weil einer der Ärzte sie beleidigte. Es war wirklich schrecklich. Er sagte, in zwei Monaten hätte sie mehr für das Sterben der Patienten getan, als er in zwei Jahren. Und er erzählte ihr offen, sie wäre für den Salon erzogen und sollte auch da bleiben. Sie war froh genug, einen Grund zum Fortgehen zu haben, denn sie hatte es herzlich satt, einen Narren aus sich zu machen.«

»Wirklich! Wo ist sie jetzt?«

»Wieder in Hall, wo sie wohl Gesichter schneidet. Das ist Mister Conolly, der Erfinder, der da unter Jasper.«

»Ja, ich sehe es. Wirklich ein tüchtiger Kopf. Eine offene, harte Natur, aber ohne Tiefe. Ist das seine Frau mit dem Schweizer Hut?«

»Seine Frau! Nein, das ist eine Schweizerin, die Tochter eines Führers in Chamounix, die Marian pflegte, als sie sich den Fuß verstaucht hatte. Mister Conolly ist nicht verheiratet.«

»Ich dachte, Menschen seines Schlages heiraten früh.«

»Nein. Er ist verlobt, und zwar verlobt mit einer Dame in sehr guter Stellung.«

»Das verdankt er der krankhaften Gier moderner Frauen nach Berühmtheiten irgendwelcher Art. Ich bewundere nicht den Geschmack der Dame.«

»Das ist auch nicht nötig. Sie bewundern seinen Geschmack. Sie ist eine Schönheit.«

»Ach, ich fürchte, Miß McQuench, unpassende Liebesaffären interessieren mein Geschlecht nicht so wie das Ihrige. – Oh!«

Elinor, die in seinem letzten Ausruf eine versteckte Beleidigung vermutete, achtete nicht darauf. Aber er begann ihn zu erklären, indem er ganz überschwenglich wurde, verglichen mit seiner gewöhnlichen Art. »Es ist ein Bild von Marian! Ich hab' es nie früher gesehen. Es ist wirklich ganz bezaubernd. Wann ist es aufgenommen?«

»Letzten August in Genua. Sie hat es nicht gern – sie hält es für zu kokett.«

»Dann wird sie es mir vielleicht geben.«

»Sie können sie ja darum bitten, wenn Sie wollen. Ich höre sie gerade herunterkommen.«

»Ich kann das Duett nirgendwo finden«, sagte Marian, als sie hereintrat. »Was? Sie sind schon hier oben, Sholto? Wo ist denn Papa?«

»Er schläft etwas im Speisezimmer. Ich fragte gerade Miß McQuench, ob sie dächte, daß Sie mir eine Kopie von diesem Bilde geben würden.«

»Das aus Genua? Es ist doch langweilig, daß alle Leute es bewundern. Es kommt mir immer so vor, als gehörte es zu einer Kollektion beliebter Schönheiten, jedes Stück einen Schilling. Ich glaube nicht, daß ich noch ein anderes habe. Aber Sie können es nehmen, wenn Sie es wollen.«

»Danke«, sagte Douglas und nahm es aus dem Buch.

»Ich glaube, Sie haben jetzt einen Abzug von jeder Photographie, die jemals in meinem Leben von mir aufgenommen wurde«, sagte sie und setzte sich in seine Nähe, indem sie das Album zur Hand nahm. »Ich habe auch verschiedene von Ihnen. Sie müssen sich für mich noch einmal aufnehmen lassen, ich habe Sie noch nicht mit Ihrem Bart. Oben liegt ein kleines Album, das mir Tante Dora zu meinem achten Geburtstag gab. Und das erste Bild darin sind Sie in einem Flanellanzug, einen Stock in der Hand, und für einen elfjährigen Kapitän in Eton sehr finster dreinblickend. Ich hatte damals immer eine große Angst vor Ihnen. Erinnern Sie sich, daß Sie mir einst erzählten, ›Zanoni‹ sei ein prächtiges Buch, und ich sollte es lesen?«

»Pah! Nein. Ich muß ein junger Narr gewesen sein. Aber es scheint, daß ich selbst damals den Geschmack hatte, mich nach Ihrer Gunst zu sehnen.«

»Ich versichere Ihnen, ich habe es sehr ehrfurchtsvoll unten in Wiltshire gelesen, wo Nelly eine ausgewählte Bibliothek von Romanen hielt, die sie unter ihrer Matratze verbarg. Und ich glaubte jedes Wort darin. Nelly und ich waren uns darüber einig, daß Sie genau wie Zanoni seien. Aber sie konnte man schwerlich tadeln, denn sie hatte Sie nie gesehen.«

»Solche Dinge machen einen tiefen Eindruck auf Kinder«, sagte Elinor gedankenvoll. »Sie waren ein Zanoni in meiner Vorstellung Jahre bevor ich Sie sah. Als Sie mich zuerst trafen, behandelten Sie mich unerträglich. Hätten Sie gewußt, welche hohe Stellung Sie in meiner kindlichen Phantasie schon vorher einnahmen, Sie würden mich einer etwas größeren Beachtung gewürdigt haben, und ich hätte Sie vielleicht am Ende des Kapitels für einen Halbgott gehalten. Ich habe Ihnen diese Enttäuschung noch jetzt nicht ganz vergeben.«

»Es tut mir leid«, sagte Sholto sarkastisch. »Ich muß äußerst wenig Ergreifendes an mir gehabt haben. Aber andererseits erinnere ich mich auch, daß Sie mich wenigstens nicht enttäuscht haben. Sie erfüllten vollständig alle Erwartungen, die man mir von Ihnen gemacht hatte.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Elinor. »Trotzdem beteure ich, daß mein Ruf ebenso falsch gewesen ist wie der Ihrige. Aber ich habe meinen Schmerz über diese Ungerechtigkeit verloren und sogar die schlechte Gewohnheit angenommen, vor törichten Leuten gelegentlich ganz nach diesem Ruf zu handeln. Marian, bist du sicher, daß das Duett nicht in meinem Zimmer auf dem Sofa liegt?«

»Oh, das Sofa! Ich habe nur in dem grünen Kasten nachgesehen.«

»Ich will es selbst suchen. Entschuldigen Sie mich für einige Minuten.«

Douglas war froh, daß sie ging. Doch war er verwirrt, als er sich mit Marian allein befand. Er schlenderte nach der Glastüre, hinter der draußen das Dach der Vorhalle durch einen Plan von rotgestreiftem Segeltuch in einen Sommeraufenthalt umgewandelt war. »Das Zelt ist schon aufgespannt«, sagte er. »Ich bemerkte es, als wir ankamen.«

»Ja. Wollen Sie lieber da sitzen? Wir können diesen kleinen Tisch hinaustragen und die Lampe draufsetzen. Es ist gerade Platz für drei Stühle.«

»Wir brauchen uns nicht noch mit dem Tisch zu beengen«, sagte er. »Es wird Licht genug da sein, wir wollen doch nur erzählen.«

»Gut«, sagte Marian und erhob sich. »Wollen Sie mir das wollene Ding da auf dem Sofa geben? Es wird mir als Schal dienen.« Er legte es ihr über die Schultern, und sie gingen hinaus.

»Ich will mich in diese Ecke setzen«, sagte Marian. »Sie sind zu breit für den Feldstuhl. Holen Sie sich lieber einen Sessel. Hier sitze ich gerne. Wenn der rote Schirm über der Lampe ist und Papa schläft in seiner Glut, dann ist es ganz romantisch. Es liegt etwas entzückend Behagliches darin, hier zurückgezogen zu sitzen und es zu beobachten.« Douglas lächelte und setzte sich nach ihrem Wunsch in ihre Nähe mit seiner Schulter gegen die steinerne Lehne.

»Marian,« sagte er nach einer Pause, »Sie erinnern sich, was gestern auf der Akademie zwischen uns vorgefallen ist?«

»Sie meinen unser feierliches Bündnis und Übereinkommen. Ja.«

»Warum haben wir das Übereinkommen nicht früher geschlossen? Das Leben ist nicht so lang, das Glück nicht so alltäglich, daß man zwei Jahre davon verscherzen darf. Ich wollte, Sie hätten mir, als ich das letztemal hierher kam, von jenem alten Bild von mir in Ihrem Album erzählt.«

»Aber es ist doch kein neues Übereinkommen. Wir haben nur ein altes wieder aufgefrischt. Wir sind immer gute Freunde gewesen, bis Sie Streit anfingen und fortliefen.«

»Es war nicht meine Schuld, Marian.«

»Dann muß es meine gewesen sein. Aber das ist jetzt gleich.«

»Sie haben recht. Prometheus ist jetzt entfesselt, und seine Verzweiflung ist nur noch eine Erinnerung, die sein gegenwärtiges Glück bekräftigt. Sie wissen, warum ich Ihren Vater heute früh besucht habe?«

»Um in der City den Elektromotor zu sehen, nicht?«

»Lieber Himmel, Marian,« sagte er, sich erhebend, »welch eine Weiberlaune oder Unglücksgeist verführt Sie eben jetzt, mit mir zu kokettieren?«

»Ich dachte wirklich, das sei der Grund – übrigens wollten Sie sich natürlich auch bei Papa entschuldigen, weil Sie ihn nicht eher nach Ihrer Rückkehr besucht haben.«

»Marian!« sagte er, noch immer erinnernd.

Sie sah ihn mit plötzlicher Furcht an und erkannte den Ausdruck der Liebe in seinem Gesicht.

»Sie wissen so gut wie ich,« fuhr er fort, »daß ich hinging, um seine Zustimmung zu unserm feierlichen Bündnis und Übereinkommen, wie Sie es nennen, zu holen. Wenn dieses Übereinkommen in Ihr Herz hinein geschrieben wäre wie in meines, Sie würden mir diese niedliche kleine Folter nicht zufügen. Ihr Vater hat seine Zustimmung gegeben: er ist entzückt. Soll ich nun auch das selige Geheimnis erraten, von dem Sie mir gestern erzählten mit dem Versprechen, ich sollte es eines Tages erfahren?«

»Halt! Warten Sie«, sagte Marian, äußerst bleich. »Ich muß Ihnen das Geheimnis selbst mitteilen.«

»Still. Seien Sie nicht so erregt. Bedenken Sie, daß Sie Ihr Geheimnis mir nur zuflüstern dürfen.«

»Reden Sie nicht in dem Tone. Es ist alles ein Mißverständnis. Mein Geheimnis hat nichts mit Ihnen zu tun.« Douglas wich etwas zurück.

»Ich bin verlobt.«

»Was meinen Sie?« fragte er ungestüm, indem er einen Schritt vortrat und sie drohend anblickte, die Hand auf seine Stuhllehne gestützt.

»Ich habe gesagt, was ich meine«, antwortete Marian mit Würde. Aber sie erhob sich schnell, sobald sie das gesprochen hatte, und ging hinter ihm vorbei in das Gesellschaftszimmer. Er folgte ihr. Sie wandte sich um und stand ihm mitten im Zimmer gegenüber, noch bleicher als vorher.

»Sie sind mit mir verlobt«, sagte er.

»Das bin ich nicht«, antwortete sie.

»Das ist eine Lüge!« schrie er und gab sich in seiner Wut absichtlich Mühe, die strenge Sitte der Selbstbeherrschung zu durchbrechen. »Es ist eine verdammte Lüge; aber es ist die grausamste Art, mich los zu werden, und darum paßt sie am besten zu Ihrer Herzlosigkeit.«

»Sholto,« sagte Marian – ihre Wangen begannen sich zu röten, »Sie sollten nicht in einem solchen Tone zu mir reden.«

»Ich sage,« schrie er wütend, »das ist eine Lüge!«

»Was ist los?« sagte Elinor, die hastig ins Zimmer kam.

»Sholto hat seine Fassung verloren«, sagte Marian fest, und ihr Unwille überwand jetzt langsam ihre Furcht, da sie nicht mehr länger mit ihm allein war.

»Es ist eine Lüge«, wiederholte Douglas, unfähig, einen neuen Ausdruck zu finden. Elinor und Marian sahen sich in peinlicher Bestürzung an. Dann trat Mr. Lind herein.

»Ruhig, bitte«, sagte er. »Man hört euch durchs ganze Haus. Marian, was ist geschehen?«

Sie gab keine Antwort, aber Douglas gelang es jetzt, nach einigen Anstrengungen zusammenhängende Worte zu finden. »Ihrer Tochter«, sagte er, »ist mit Hilfe ihrer Freundin Mistreß Leith Fairfax und einem hinlänglichen Aufwand direkter Versicherungen von ihrer eigenen Seite der Triumph gelungen, mich ein zweites Mal zu ihren Füßen zu bringen, nachdem ich unglücklicherweise ihre Eitelkeit verwundet hatte, indem ich vor zwei Jahren ihre Fesseln zerbrach.«

»Das ist vollständig unrichtig«, unterbrach Marian voller Erregung.

»Ich behaupte,« sagte Douglas in tieferem Ton und in noch entschlossenerer Weise, »daß sie Mistreß Leith Fairfax mit einer Erzählung ihrer Liebe und des Bedauerns über meine Abwesenheit auf mich gehetzt hat. Sie hat mich mit ihren eigenen Lippen ausdrücklich gebeten, Sie um Ihre Zustimmung zu unserer Verbindung zu bitten. Sie veranlaßte Sie, mir die Einladung zu schreiben, die ich heute morgen erhielt. Sie erzählte mir, durch meine Rückkehr sei ein Traum in Erfüllung gegangen, der ihr zwei Jahre keine Ruhe gegeben. Sie bat mich, ihr das Vergangene zu verzeihen und ihr ein Sonett zu schreiben, dessen sie, wie sie sagte, würdiger sei als Klytämnestra, das sie aber nach meiner Ansicht im besten Falle noch weniger verdient als Cressida.« Er nahm bei diesen Worten ein Papier aus seiner Tasche und zerriß es in Fetzen.

»Das ist sehr merkwürdig«, sagte Mr. Lind unentschlossen. »Ist das ein kindischer Streit oder steckt sonst etwas dahinter? Ich möchte nicht noch mehr von diesen unangenehmen Dingen hören.«

»Meinetwegen brauchen Sie keine Furcht zu haben«, sagte Douglas. »Ich beabsichtige nicht, meine Bekanntschaft mit Miß Lind fortzusetzen.«

»Mister Douglas machte mir einen Heiratsantrag, und ich habe ihn abgewiesen«, sagte Marian. »Er verlor seine Selbstbeherrschung und beschimpfte mich. Ich hoffe, du wirst ihm sagen, daß er sich entfernen soll.«

»Ruhig, Marian, ruhig. Was soll ich nun von alledem glauben?«

»Was ich Ihnen erzählt habe«, sagte Douglas. »Ich versichere es auf meine Ehre, die Sie gegen die Vorspiegelungen zweier meineidiger Weiber abwägen können.«

»Sholto.«

»Ich muß um meiner selbst willen offen sprechen, Mister Lind. Es tut mir leid, daß Sie heute morgen nicht in der Lage waren, mir Ihrer Tochter merkwürdiges Geheimnis mitzuteilen.«

»Wenn es ein Geheimnis ist und Sie sind ein Gentleman, dann haben Sie darüber zu schweigen«, unterbrach ihn Elinor scharf.

»Papa,« sagte Marian, »ich habe mich gestern mit Mister Conolly verlobt. Ich erzählte das Mister Douglas, um ihn abzuhalten, mir seinen Antrag zu machen. Das ist der Grund, weshalb er sich vergessen hat. Ich wollte es dir nicht so plötzlich mitteilen, aber dieses Mißverständnis zwingt mich dazu.«

»Verlobt mit Mister Conolly!« schrie Mr. Lind. »Ich fange an zu fürchten, daß – verlobt –« Er schöpfte Atem und fuhr, gegen Marian gewendet, fort: »Ich verbiete dir, ein solches Verhältnis zu haben. Sholto, wir gewinnen nichts, wenn wir diese Angelegenheit bei heißem Blut besprechen. Es ist eine mädchenhafte Verrücktheit, und Sie haben unrecht, wenn Sie sich dadurch irgendwie aus der Fassung bringen lassen.«

»Ich bitte um Verzeihung, weil ich die Wahrheit der Entschuldigung nicht geglaubt habe«, sagte Douglas; »aber ich sehe jetzt meinen Fehler ein, daß ich Miß Linds innersten Geschmack nicht erkannt habe. Sie werden mich dahin verstehen, Mister Lind, daß ich keinerlei Absichten mehr habe. Ich strebe nicht danach, mit Mister Conolly in Wettbewerb zu treten.«

»Sie sind bereits Mister Conollys erfolgloser Nebenbuhler, und Sie benehmen sich dabei mit sehr wenig Anstand«, sagte Elinor.

»Bitte, schweigen Sie, Miß McQuench«, sagte Mr. Lind. »Diese Angelegenheit geht Sie nichts an. Marian, geh jetzt auf dein Zimmer, ich werde nachher mit dir sprechen.«

Marian errötete und unterdrückte ein Schluchzen. »Ich wollte, ich wäre jetzt unter seinem Schutze«, sagte sie und sah vorwurfsvoll Douglas an, als sie das Zimmer durchschritt.

»Was kannst du von einem Vater verlangen außer Feindseligkeit?« sagte Elinor bitter. »Sie sind ein Feigling wie alle Ihres Geschlechts«, fügte sie, zu Douglas gewandt, hinzu. Dann öffnete sie schnell die Türe und ging mit Marian hinaus, während die Hausmädchen die Treppe hinaufflohen, der Diener in eine Ecke des Treppenabsatzes zurückwich und der Aufwärter hastig die Köchin nach der Küche hinunterzog.

Die beiden Männer saßen einige Augenblicke ganz fassungslos im Gesellschaftszimmer. Dann sagte Mr. Lind, nachdem er zur Vorbereitung ein- oder zweimal gehustet hatte: »Sholto, ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie mich das soeben Gehörte angegriffen hat. Ich bin tief entrüstet über Marian. Ich habe ihr unbedingt vertraut, aber natürlich sehe ich jetzt ein, wie unrecht es war, daß ich ihr soviel Freiheit erlaubte. Es ist offenbar manches vorgekommen, von dem ich keine Vermutung hatte.«

Douglas gab keine Antwort. Sein Groll war ungemindert, aber seine Aufregung legte sich, obgleich sie in Zwischenräumen wiederkam. Aber jetzt, da er nicht länger in leidenschaftlichem Ton reden wollte, wagte er überhaupt nichts zu sagen. Plötzlich brach Mr. Lind in eine Wut aus, die Douglas, trotz seiner eigenen Gedanken, in Erstaunen setzte.

»Dieser – dieser Bursche muß Gelegenheiten gehabt haben, sich in ihre Gesellschaft einzuschleichen, von denen ich nichts weiß. Ich glaube, sie kannte ihn kaum. Und wenn ich es gewußt hätte, würde ich es wohl vermutet haben, sie könnte mit einem schlecht erzogenen Abenteurer intrigieren? Ja, ich hätte es wissen müssen. Meine Erfahrungen hätten mir sagen sollen, daß der böse Keim in ihrem Blute lag. Ihre Mutter hat es genau so gemacht – sie verließ die Stellung, die ich ihr gegeben, um mit einem Quacksalber davonzulaufen. Ohne den Schatten einer Entschuldigung oder eines Grundes beschimpfte sie mich, wenn nicht ihre angeborene Liebe zu allem Niedrigen der Grund war. Ich dachte, Marian wäre anders geworden. Ich war stolz auf sie, ich setzte ein un–unbegrenztes Vertrauen in sie.«

»Sie hat mich schwer getroffen«, sagte Douglas. »Die höllische Verräterei –« Er unterbrach sich selbst und fuhr nach einer Weile in seiner gewöhnlichen förmlichen Art fort: »Ich muß Sie verlassen, Mister Lind. Ich bin jetzt ganz und gar nicht imstande, das Vorgefallene zu besprechen. Konventionelle Worte des Bedauerns würden – Gute Nacht.«

Er verneigte sich und verließ das Zimmer. Mr. Lind war verblüfft und machte keinen Versuch, ihn zurückzuhalten oder nur seine Verbeugung zu erwidern. Er biß sich auf die Lippen und saß mit einem finsteren Gesicht da, das Wut und Drohungen ausdrückte. Als er allein war, durchschritt er mehrere Male das Zimmer. Dann holte er sich etwas Schreibzeug und setzte sich nieder. Er schrieb aber nichts und ging hinauf, nachdem er eine Weile so gesessen hatte. Als er an Marians Zimmer vorbeikam, lauschte er. Die scharfe Stimme und die rastlosen Bewegungen seiner Nichte waren die einzigen Laute, die er hörte. Sie schienen ihn zu entmutigen, denn er stahl sich schnell in sein eigenes Zimmer und ging zu Bett. Selbst hier konnte er von Zeit zu Zeit einen scharfen Laut aus der Unterhaltung hören, die aus dem gegenüberliegenden Zimmer kam. Marian saß dort auf einem Sofa und versuchte, der krampfhaften Erregung Herr zu werden, die von dem Moment an, da sie von dem Balkon geflohen war, in ihr getobt hatte. Elinor saß auf der Kante einer Schublade, die aus dem Toilettetisch herausstand, und sprach unaufhörlich in ihren schärfsten Ausdrücken.

»Von jetzt ab«, sagte sie, »habe ich für Onkel Reginald nur noch die tiefste Verachtung übrig. Seit ich ihn kannte, habe ich auf einen Grund gewartet, ihn zu hassen, und jetzt hat er mir einen gegeben. Er hat – wie ein echter Vater – gegen dich Partei genommen für einen betrunkenen Narren, den er auf die Straße hätte setzen sollen. Er hat mich Miß McQuench genannt und mir gesagt, ich sollte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich werde mit ihm noch einmal darüber abrechnen. Ich bin so rachsüchtig wie ein Elefant. Ich hasse Leute, die nicht rachsüchtig sind; sie sind auch nie dankbar, sie sind nur unfähig eines dauernden Gefühls. Und Douglas! Sholto Douglas! Der Held, der Newdigate Dichter, der hübsche Mann! Welch ein vornehmer Bursche ist er, wenn eine kleine Enttäuschung ihm die Maske abstreift! Ich bin glücklich, daß ich ihm das Wort Feigling ins Gesicht gesagt habe. Ich bin durchaus zufrieden mit mir. Endlich habe ich doch einmal etwas erlebt, bei dem ich das richtige Wort sagen konnte! Niemals lernt man die Menschen so in ihrer Selbstsucht kennen, als wenn sie vorgeben, uns zu lieben. Du siehst, was du deinem liebenden Freier, Sholto Douglas, verdankst! Du siehst auch, was du deinem liebenden Vater, Reginald Lind, verdankst.«

»Nie hätte ich es geglaubt, daß mein Vater mich auffordern würde, das Zimmer zu verlassen«, sagte Marian. »Sholto hätte anstatt meiner gehen müssen.«

»Mister Lind, der so plötzlich und so wohlverdient vom ›Papa‹ zu ›meinem Vater‹ herabgesunken ist, hat es klugerweise mit der stärkeren Partei gehalten. Es war wünschenswert, daß ihr beide getrennt wurdet. Und da Douglas es vielleicht vorgezogen hätte, nicht zu gehen – denke nur daran, daß er ein so hervorragender Athlet ist! – nun, da mußten wir eben gehen.«

»Nelly, ich werde nach diesem Vorgang so unglücklich sein, wie Sholto es nur wünschen kann. Ich bin sehr böse auf Papa und habe doch kein Recht dazu. Ich glaube, das ist, weil ich unrecht gehandelt habe. Ich täuschte ihn über die Verlobung.«

»Unsinn! Du hast ihm nichts gesagt, weil du wußtest, daß du ihm nicht trauen durftest. Und jetzt siehst du ein, wie sehr du recht hattest.«

»Selbst so, Nelly, darf ich nicht all seine frühere Sorge wegen eines einzelnen Kummers vergessen.«

»Welche Sorge hat er jemals wegen deiner gehabt? Du warst kaum besser mit ihm bekannt, als ich es war, da kamst du her, übernahmst seinen Haushalt und machtest dich nützlich. Natürlich, er mußte für dein Essen, dein Wohnen und deine Erziehung bezahlen. Die Polizei würde ihm nicht erlaubt haben, dich der Gemeinde zu überlassen. Nebenbei war er stolz, über eine solche hübsche, feine Tochter verfügen zu können. Du durftest solange von Herzen glücklich sein, als du dabei nur nach seinen Wünschen handeltest. Aber im Augenblick, wo du deine Unabhängigkeit als erwachsene Frau verlangtest – im Augenblick, wo du versuchtest, selbst über dich zu verfügen, statt ihn das tun zu lassen – Pah! Ich wäre auch meines Vaters Schoßkind gewesen, wenn ich keinen eigenen Willen gehabt hätte. So aber gab er sich alle Mühe, mich unglücklich zu machen; und da ich nur ein hilfloser kleiner Teufel von einem Mädchen war, gelang es ihm auch nach Herzenslust. Onkel Reginald wird morgen genau dasselbe versuchen. Er wird kommen und dir drohen, anstatt daß er sich entschuldigt, wie er es tun müßte. Warte, ob er es nicht tut!«

»Wenn ich soviel Anlaß wie du hätte, mich über meine Kinderzeit zu beklagen, würde mich sein heutiges Benehmen vielleicht nicht so schmerzlich getroffen haben. Er hätte mir gewiß zu Hilfe kommen müssen, als er mich in dieser Weise angegriffen sah.«

»Jeder Fremde würde es getan haben. Der Diener würde es getan haben, wenn du ihn gefragt hättest. Aber James ist ja auch nicht dein Vater.«

»Es scheint eine Kleinigkeit zu sein, wenn man gebeten wird, das Zimmer zu verlassen. Aber ich möchte mich nicht noch einmal dieser Möglichkeit aussetzen.«

»Ganz recht. Aber was willst du jetzt tun, denn wenn auch die Liebe eines Vaters eine Täuschung ist, seine Autorität ist eine Tatsache.«

»Ich werde mich verheiraten.«

»Aus der Bratpfanne in das Feuer. Gewiß, wenn du entschlossen bist, zu heiraten, kannst du es zu jeder Zeit und jetzt am gelegensten tun. Aber es müssen gesetzliche Formalitäten erfüllt werden. Du kannst nicht in die erste beste Kirche gehen und dich da ohne weiteres trauen lassen.«

»Ned muß für das alles sorgen. Ich bin bitter enttäuscht und gekränkt, Nelly.«

»Die Zeit wird dich wie alles heilen, und es wird gut für dich sein, wenn du etwas lernst. Übrigens, was meinte Sholto mit Mistreß Fairfax?«

»Ich weiß es nicht.«

»Mistreß Leith Fairfax hat ihm offenbar lauter Lügen erzählt. Erinnerst du dich ihrer Andeutungen über ihn gestern beim Lunch? Ich zweifle nicht im mindesten, sie hat ihm gesagt, du seist wahnsinnig in ihn verliebt. Sie hat dir ja dasselbe über ihn erzählt.«

»Oh, sie ist nicht fähig, so etwas zu tun.«

»Nicht? Wir werden ja sehen.«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Marian verzagt. »Ich dachte immer, ihr beide, du und Ned, hättet eine zu geringe Meinung von den übrigen Menschen; aber es scheint nun, als ob die ganze Welt nichts als ein Morast von Bosheit und Falschheit sei. Und Sholto auch! Wer würde geglaubt haben, daß er sich in einer so rohen Weise ergehen könnte? Erinnerst du dich des Tages, als Fleming, der Kutscher, unten in Hall Tante gegenüber seine Ruhe verlor. Sholto war genau wie er, nicht ein bißchen feiner oder würdiger. Ich bin voll Ekel, Schmerz und Kummer.«

»Sholto war eher schlimmer. Laß uns zu Bett gehen. Wir verzehren uns heute abend nur und denken an morgen. Besser schlafen gehen. Groll raubt mir nicht den Schlaf, das kann ich versichern. Vor einer Weile hörte ich Onkel Reginald in sein Zimmer gehen. Ich werde auch müde, obgleich mir die Aufregung gut tut.«

»Gut. Also zu Bett«, sagte Marian. »Bitte, knöpfe mir die drei obersten Knöpfe an meinem Kleid auf, die andern kann ich selbst erreichen.«


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