Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Eines Samstagnachmittags im September saßen Marian und Elinor zusammen beim Tee im Gesellschaftszimmer in Holland Park. Elinor war als Nachmittagsbesuch da, sie wohnte nicht mehr bei Conollys. Marian hatte gerade eine lahme Entschuldigung gegeben, weil sie Elinors letztes Buch noch nicht gelesen.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Elinor. »Ich erinnere mich noch der Zeit, in der du dich aus einer Art Pflichtgefühl gezwungen hättest, es zu lesen. Ich bin entzückt, daß die Angst, du könntest meine Eitelkeit verletzen, jetzt aus dir entschwunden ist. Nein, sage nichts mehr, Liebste, du kannst es immer noch lesen, wenn du einmal Lust bekommst. Bruder George las es und war entsetzt, weil die Heldin den Halunken liebt und es ihm sagt, ohne auf seine Erklärung zu warten. Es ist merkwürdig, schon vor langer Zeit, als ich noch so inbrünstig an die zärtliche Liebe glaubte, konnte ich niemals eine echte, glühende Liebesgeschichte schreiben.«

»Fange nicht in dieser Weise an«, sagte Marian ärgerlich. »Es gibt wirklich Menschen, die sich verlieben, und es ist ihr Glück. Es mag unvernünftig sein und ein übles Ende nehmen. Aber es gibt dem Leben einen Inhalt, den ihm alle abgestandene Philosophie und aller Spott von der Welt nicht geben kann. Glaubst du wohl, ich würde nicht lieber den Verlust einer Liebe beklagen, als mich grämen, weil ich feige genug der Liebe überhaupt ausgewichen bin. Ich bin der festen Ansicht, die Enttäuschungen der Liebe erwärmen das Herz mehr als alle Triumphe der Gefühllosigkeit.«

»Schatten der verstorbenen Marian Lind,« sagte Elinor, »höre diese Worte.«

»Die verstorbene Marian Lind war so verzweifelt klug, daß sie die ausgezeichnete Vorschrift vernachlässigte, ›Sei nicht allzu gerecht, noch mache dich überklug: warum willst du dich selbst verderben?‹ Ich habe gestern abend zum erstenmal seit meiner Verheiratung in die Bibel gesehen, und ich dachte: was für Narren sind wir zwei doch gewesen, da wir beschlossen, allen Fehlern, Torheiten und Leidenschaften der andern Menschen aus dem Wege zu gehen und auf einem höheren und vernünftigeren Standpunkt zu stehen. ›Wer an den Wind denkt, wird nicht säen wollen, wer die Wolken fürchtet, wird nicht ernten.‹ Das ist vollständig wahr trotz allem, was Ned sagt – und selbst er liest das ganz gerne. Wir waren sehr geschickt, jeden Wind zu bemerken und auf jede Wolke zu achten – aber hatten wir es dadurch besser? Ich möchte wissen, wie oft wir uns selbst einen unheilbaren Schaden zufügten, indem wir mit unserer kleinen Weisheit alle unsere großen Instinkte erstickten. Sieh die Leute an, die so ganz anders sind als wir, und die wir sosehr verachteten: wie glücklich sind die, trotzdem sie immer nur dem Trieb ihres Herzens gefolgt sind.«

»Ich glaube, wir sind mindestens ebenso gut daran wie die andern Leute. Ich weiß das sogar. Sicherlich war es einer unserer Lieblingssätze, die Ehe sei ein Übel, und ich muß dir zugeben, du hast es jetzt geradeso gut wie ich, da du deinem Gefühl folgend dich verheiratet hast. Aber ich sehe nicht ein, was es uns geschadet hat, daß wir ein wenig nachgedacht haben.«

»Nelly, du weißt, daß ich bei meiner Heirat nicht meinem Gefühl gefolgt bin. Ich habe ganz gleichgültig einen Mann geheiratet, zu dem ich Vertrauen hatte. Ich war damals überzeugt, daß die große Liebe eine Narrheit sei.«

»Und was glaubst du jetzt?«

»Ich glaube, ich wußte nicht, worüber ich sprach.«

»Ich glaube, du liebtest Ned, als du ihn heiratetest, und du tatest es schon lange vorher.«

»Natürlich liebte ich ihn, ich liebe ihn noch jetzt.«

»Wirklich? Wenn man dich hört, sollte man meinen, du hättest nur Vertrauen zu ihm.«

»Du hast kein Recht, das zu sagen. Du verstehst das nicht.«

»Vielleicht nicht, aber ich habe meine Vermutungen. Willst du es mir nicht erklären?«

»Ich meine gar nichts Besonderes, es gibt nur zwei Arten von Liebe. Da ist eine, die durch die gute Sitte gebilligt ist – eine Art anständiger Zuneigung –«

Elinor lachte. »Weiter«, sagte sie. »Wie ist die andere Art?«

»Die andere Art hat nichts mit der guten Sitte zu tun. Sie ist ein überwältigender Drang – ein Verlangen – ein Glaube, der auf keine Vernunft hören will – etwas, nach dem sich deine Gefühle in der Jugend gesehnt haben, woran du mit brennendem Herzen im Alter zurückdenkst.«

»Wirklich! Scheint der Unterschied zwischen den beiden nicht derselbe zu sein wie der Unterschied zwischen deiner alten und deiner neuen Liebe.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Ich sage, ich will noch eine Tasse Tee. Du brauchst nicht so gegen mich loszufahren, ich meinte es nicht so.«

»Verzeihung, ich wollte nicht gegen dich losfahren.«

»Wenn wir so weitermachen, werden wir uns gleich mit Miß McQuench und Mistreß Conolly anreden.«

Marian wandte sich zum Kamin und schwieg.

»Hör' mich an, Marian. Du bist schlechter Laune. Warum gehst du nicht zu Ned und erzählst ihm, du seiest unglücklich, und er bekümmere sich nicht so um dich, wie du es wohl gern hättest? Sprich dich einmal mit ihm aus, und alles wird gut werden.«

»Du hast gut reden. Ich könnte nicht zu ihm hingehen und mich lächerlich machen, die Worte würden mir im Munde steckenbleiben. Übrigens bin ich nicht unglücklich.«

»Welch eine Lüge! Du abscheuliches Weib! Vor einem Moment hast du noch alle Vorsicht verdammt, und jetzt willst du deine Gedanken nicht sagen, weil du Angst hast, dich lächerlich zu machen. Ich möchte wissen, was das anderes ist, als nach dem Wind ausschauen und die Wolken beobachten.«

»Ich wollte, du sprächest auch im Scherz nicht in einem solchen Tone zu mir. Das verletzt mich.«

»Ich wollte, du machtest mir keine Vorwürfe, denn was ich sagte, war nicht mehr als recht und billig. Doch meinetwegen laß uns von etwas anderm reden. Woher hast du diese Blumen?«

»Douglas hat sie geschickt. Ich gehe nachher zum Theater und brauche ein Bukett.«

»Das ist sehr freundlich von ihm. Ich wundere mich, warum er sie nicht selbst gebracht hat. Er läßt sich doch sonst keine Gelegenheit, hierherzukommen, entgehen.«

»Wie kannst du das nur sagen, Nelly? Er kommt sehr selten hierher, nur Sonntags. Und das ist eine regelmäßige Sache wie dein Kommen auch.«

»Er war Dienstag hier. Mittwochs hast du ihn bei Mistreß Saunders getroffen. Am Donnerstag war er auf deinem Empfangsabend, und am Samstag schickt er dir ein Bukett.«

»Ich kann doch nicht dafür, wenn ich ihn treffe, und zu meinem Empfangsabend muß ich ihn einladen, wenn ich ihn nicht schneiden will. Willst du auch gehässig werden wie Mistreß Leith Fairfax?«

»Marian, du bist heute mit dem verkehrten Bein aufgestanden, und das ist dir seit deiner Rückkehr von Sark öfter passiert als früher in deinem ganzen Leben. Douglas ist ein träger Nichtsnutz geworden, und er kommt hier viel zu oft hin. Anstatt ihn zu ermutigen, dir in dieser Weise nachzulaufen, solltest du dafür sorgen, daß er sich am Gericht oder im Parlament einen Wirkungskreis sucht oder sonst etwas arbeitet.«

»Nelly!«

»Hör' auf mit deinem Nelly! Es ist wahr, und du weißt das so gut wie ich.«

»Ich kann nicht dafür, wenn er sich in mich verliebt.«

»Du kannst ihn hindern, dir überallhin nachzulaufen.«

»Das kann ich nicht. Er läuft mir auch gar nicht nach. Warum sagt Ned nichts? Er weiß, daß Sholto in mich verliebt ist, und bekümmert sich nicht darum.«

»Ich glaube, er kümmert sich wohl darum, aber er läßt sich nicht herab, es dir zu zeigen. Es klopft an die Haustür; das kommt gerade rechtzeitig, um uns zu hindern, aufeinander loszustürzen. Ich weiß auch, wer da geklopft hat.«

Marian war bei dem Laut leicht errötet, und Elinor, die die Beine vorgestreckt hatte und mit ihren Absätzen unruhig auf dem Teppich hämmerte, beobachtete ihre Kusine scharf, als Douglas eintrat. Er war im Gesellschaftsanzug.

»Oh«, sagte Elinor. »Sie gehen auch ins Theater?«

»Wieso?« entgegnete Douglas. »Geht noch jemand mit uns? Haben wir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft?«

»Nein«, antwortete Elinor trocken. »Ich dachte, Mister Conolly würde mit Ihnen gehen.«

»Es wird mich sicherlich sehr freuen, wenn er mitkommen will«, sagte Douglas.

»Er wird nicht wollen«, sagte Marian. »Ich zweifle, ob wir ihn vor dem Fortgehen sehen.«

»Ich sehe, meine Blumen sind gut angekommen.«

»Ja, ich danke auch. Sie sind sehr schön.«

»Das müssen sie sein, da Sie sie tragen.«

»Ich denke, ich gehe jetzt«, bemerkte Elinor. »Hoffentlich können Sie mich entbehren. Marian war durchaus nicht liebenswürdig, aber wenn Sie ihr Komplimente machen, werde ich bald so böse sein wie sie. Adieu.«

Douglas begleitete sie höflich zur Tür. Sie sah ihn streng an und schnitt beim Abschied fast eine Grimasse, aber sie sagte nichts.

»Ich bin froh, daß sie fort ist«, sagte Marian, als Douglas zurückkam. »Sie quält mich. Alles quält mich.«

»Sie führen hier ein unmögliches Leben, Marian«, sagte er, indem er seine Hand auf ihren Stuhl legte und sich über sie neigte. »Sie müssen auf die Dauer von allem gequält werden. Und ich, der ich den letzten Blutstropfen hingeben würde, wenn ich Ihnen dadurch auch nur einen Augenblick Schmerz ersparen könnte, ich werde nie die Seligkeit genießen, Sie glücklich zu sehen.«

»Welches andere Leben kann ich führen?«

Douglas machte eine unwillkürliche Bewegung, als ob er antworten wollte, aber er überlegte und schwieg. Marian sah ihn nicht an, sie starrte ins Feuer.

»Sholto,« sagte sie nach längerem Stillschweigen, »Sie dürfen nicht mehr hierherkommen.«

»Was?«

»Sie sind zu müßig. Sie kommen zu oft. Warum werden Sie nicht Anwalt, oder gehen ins Parlament, oder schreiben wenigstens Bücher? Wenn Nelly als Autor Erfolg gehabt hat, dann werden Sie es sicherlich auch haben.«

»Ich habe das alles aufgegeben. Mein Leben ist verfehlt, Sie wissen ja, warum. Wir wollen nicht mehr darüber reden.«

»Sprechen Sie nicht so«, sagte Marian ärgerlich. »Ich liebe das nicht.«

»Ich fürchte, ich darf gar nichts mehr sagen oder tun, wenn Sie so leicht verdrießlich werden.«

»Ja, ich weiß, ich bin ganz abscheulich. Elinor sagte es mir auch. Ich denke, Sie müssen mit mir Nachsicht haben, Sholto.« Hier erhob sie sich und brach in Tränen aus. »Wenn mein ganzes Leben nur eine schreckliche Folge von Elend ist, kann ich nicht immer geduldig bleiben. Ich habe auch oft Nachsicht mit Ihnen gehabt.«

Douglas war zuerst erschrocken, denn er hatte sie noch niemals weinen gesehen. Dann, als sie sich wieder setzte und ihr Gesicht mit ihrem Taschentuch bedeckte, trat er näher, um niederzuknien und den Arm um sie zu legen. Aber es fehlte ihm der Mut. Er zog nur seinen Stuhl an das Feuer heran, neigte sich über sie, bis sein Gesicht dicht an ihrem war, und sagte: »Es kommt alles nur durch Ihre törichte Heirat. Bis dahin waren Sie glücklich. Ich habe stets darüber geschwiegen, aber jetzt, da ich Sie weinen sehe, kann ich mich nicht länger zurückhalten. Hören Sie mich an, Marian. Sie fragten mich vorhin, welches andere Leben Sie führen könnten. Es gibt ein besseres Leben. Verlassen Sie mit mir England, und – und –« Marian hatte ihr Gesicht erhoben, und da sie ihn fest ansah, stockte er, und seine Lippen wurden blaß.

»Sprechen Sie weiter«, sagte sie. »Ich bin nicht böse. Was ist noch?«

»Nichts mehr, außer daß wir dann glücklich sein werden. Sie können dieses Leben nicht mehr so weiterführen, es ist verfehlt wie mein eigenes. Was wollen Sie noch überlegen? Sie wissen, wie selten der Weg der Pflicht zu Glück führt, wie selten er der richtige ist. Sie können mein verfehltes Dasein retten. Sie können Ihr eigenes Herz vor diesem schrecklichen, langsamen Aufgehen im häuslichen Elend bewahren. Ihn wird es nicht kümmern, ihn kümmert gar nichts, er ermordet Sie moralisch. Sie brauchen an keine Kinder zu denken. Ich liebe Sie, und Sie dürfen sich die schönsten Plätze der Welt aussuchen, um dort Ihre Zukunft zu verbringen. Mein Schutz sichert Ihnen ein ruhiges und bequemes Leben, wo Sie nur wollen. Sie wissen, wie hohl die herkömmliche Tugendhaftigkeit ist. Wer sind die tugendhaften Menschen in Ihrer Umgebung? Mistreß Leith Fairfax und ihresgleichen. Wenn Sie mich lieben, dann müssen Sie wissen, daß Sie ein Verbrechen gegen die Natur begehen, indem Sie so mit einem Mann zusammen leben, der in jedem menschlichen Gefühl ebenso weit von Ihnen entfernt ist wie sein Laboratorium vom Himmel. Sie haben vergebens versucht, Ihre Pflicht gegen ihn zu erfüllen. Er ist deshalb nicht glücklicher, wir aber sind unaussprechlich viel elender geworden. Wir wollen ein neues Leben anfangen. Ich habe hier immer in der Gesellschaft gelebt und gefunden, daß sie nichts taugt, daß sie völlig selbstsüchtig und lasterhaft ist. Ich möchte frei sein – den Staub Londons von meinen Füßen schütteln und ganz der Liebe leben. Sie können eine solche Sehnsucht erfüllen, und auch Sie müssen nach einem reinen und freien Leben verlangen. Sie können es erreichen, Sie brauchen nur Ihre Hand auszustrecken. Sagen Sie doch etwas. Hören Sie mich an?«

»Es scheint unbegreiflich, daß ich Sie so ruhig anhöre, obgleich Sie mir etwas vorschlagen, was die Welt für eine schändliche Sache hält.«

»Was stört es uns, was die Welt denkt? Ich würde niemals, selbst wenn ich dadurch mein verwüstetes Leben retten könnte, Ihnen zu einem Schritt raten, der Sie wirklich entehrt. Aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Sie eines Tages auf eine trostlose Vergangenheit zurückblicken und einsehen, daß Sie Ihr Glück einem Idol – der Konvention geopfert haben. Erinnern Sie sich, wie wir letzten Sonntag das bittere Wort besprachen, daß Frauen, die ihre Gefühle den Gesetzen der Gesellschaft geopfert haben, doch heimlich wissen, daß sie für all ihre Schmerzen nur Narren gewesen sind? Er leugnete es nicht, und Sie konnten für die gegenteilige Ansicht nichts Stichhaltiges vorbringen. Sie wissen ja auch, daß es wahr ist, und ich Sie nur vor diesem vergeblichen Bedauern bewahren möchte. Sie haben es gezeigt, daß Sie der Welt mit Anstand und Würde gehorchen können, wenn die Welt recht hat. Zeigen Sie jetzt, daß Sie sie furchtlos verachten, wenn sie tyrannisch ist. Folgen Sie Ihrem Herzen, Marian – meine liebe Marian: folge deinem Herzen – und meinem.«

»Für wieviel Uhr haben Sie den Wagen bestellt?«

»Den Wagen! Das ist alles, was Sie mir in einem solchen Augenblick sagen? Sind Sie noch geradeso kokett wie früher?«

»Ich meine es ganz ernst. Schweigen Sie jetzt. Wenn ich gehe, will ich freiwillig gehen und mich nicht durch Ihre Überredung treiben lassen. Ich muß Zeit zum Überlegen haben. Wieviel Uhr sagten Sie?«

»Sieben.«

»Dann ist es Zeit, daß ich mich anziehe. Sie sind doch nicht böse, weil ich Sie hier allein warten lasse?«

»Wenn Sie mir nur ein einziges ermunterndes Wort sagten, ich würde gerne warten.«

»Was kann ich Ihnen sagen?«

»Daß Sie mich lieben.«

»Ich versuche, mir darüber klar zu werden, ob ich Sie nicht immer geliebt habe. Gewiß, wenn es so etwas wie Liebe gibt, dann lieben wir uns.«

Ihr feierlicher Ton kühlte ihn etwas ab, aber er machte doch eine Bewegung, als ob er sie umarmen wollte.

»Nein«, sagte sie und wies ihn zurück. »Ich bin noch seine Frau, noch habe ich ihm nicht meine Trennung von ihm erklärt.«

Sie verließ das Zimmer, in dem er unruhig auf und ab schritt, bis sie in Weiß gekleidet zurückkam. Sein Atem flog schnell, als sie ihm ruhig entgegentrat. Unten an der Haustür hörte er ihren Mann den Schlüssel in das Schloß stecken, aber er achtete nicht darauf.

»Als ich noch ein kleiner Knabe war, Marian,« sagte er und blickte sie verzehrend an, »da glaubte ich, daß Paul Delaroches Christliche Märtyrerin das feinste Traumbild menschlicher Schönheit sei. Ich habe jetzt, da ich Sie ansehe, dasselbe Gefühl.«

»Auch mich erinnert Marian an dieses Bild«, sagte Conolly. »Ich weiß noch, wie ich mich wunderte,« fuhr er lächelnd fort, als sie sich erschreckt nach ihm hinwandten, »warum die junge Dame – es war eine vollendet feine Dame – im Ballkleid gemartert wurde, denn ich hielt ihr Kleid für ein solches. Marians Haartracht verstärkt noch die Erinnerung an das Bild.«

»Wenn ich mich recht besinne,« sagte Marian und nahm seinen scherzhaften Ton mit verstärkter Ironie auf, »so zeigte Delaroches Märtyrerin ein feines Verständnis dafür, daß man seine Handgelenke elegant hingestreckt halten muß. Ich folge ihrem Vorbild, indem ich diese Armbänder trage, die ich aber niemals zu bekomme. Wollen Sie mir beide helfen.«

Sie streckte jedem eine Hand hin, und Conolly, der einen Blick auf den Verschluß geworfen, schloß seines genau auf den ersten Druck. »Übrigens,« sagte er, während Douglas an dem andern Armband herumarbeitete, »ich muß heute abend nach Glasgow verreisen, ich werde nicht mehr hier sein, wenn du von dem Theater zurückkommst. Wir werden uns also nicht mehr sehen vor Montagabend.«

Douglas' Hand begann so zu zittern, daß Marians goldnes Armband an ihrer Hand erklirrte, »Hier, bitte,« sagte sie und entzog es ihm, »tu du es für ihn, Ned. Sholto hat keine mechanischen Anlagen.« Ihre Hand war ganz ruhig, während Conolly das Schloß zumachte. »Warum mußt du nach Glasgow reisen?«

»Sie haben irgend was angerichtet auf dem Werk, und der Ingenieur bat mich telegraphisch, hinzugehen, um zu sehen, was los ist. Ich werde sicher Montag zurück sein. Sorge dafür, daß um sechs Uhr etwas zu essen bereit ist. Es tut mir leid, daß ich beim Sonntagsdiner fehle, aber ich teile die allgemeine Ansicht, daß man selbst nach seinen Rechten sehen muß, wenn man will, daß etwas richtig ausgeführt wird.«

»Sholto hat heute abend sehr beredsam über den Wert der allgemeinen Ansichten gesprochen«, sagte Marian. »Er behauptet, die Welt verachten, bewiese eine ehrenhafte Gesinnung.«

»Da hat er recht«, sagte Conolly. »Ich komme in der Welt voran, indem ich ihre alten Meinungen verachte und nur meiner eigenen Ansicht folge. Folge nur in jeder Hinsicht Douglas' Vorschriften. Weißt du, daß es halb acht ist?«

»Oh, wir müssen gehen. Wir kommen zu spät.«

»Ich werde Sie morgen nicht sehen, Douglas. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Douglas und hielt sich etwas zurück, denn er wollte Conolly jetzt in Marians Gegenwart nicht die Hand anbieten. »Glückliche Reise.«

»Danke sehr. – Hallo!« Marian war schnell wieder umgekehrt. »Was hast du vergessen?«

»Mein Opernglas«, sagte Marian. »Nein, danke, du weißt nicht, wo es liegt. Ich werde selbst gehen.« Sie eilte die Treppe hinauf. Conolly folgte ihr einen Augenblick später und fand sie in ihrem Schlafzimmer. Sie schloß gerade die Schublade, aus der sie das Opernglas genommen hatte.

»Marian,« sagte er, »du hast heute geweint. Ist etwas nicht in Ordnung, oder bist du nur nervös?«

»Ich bin nur nervös«, sagte Marian. »Wie hast du entdeckt, daß ich geweint habe? Es war nur einen Augenblick, weil Nelly mich so quälte. Kann man es mir ansehen?«

»Ich kann es sehen, sonst niemand. Bist du jetzt munterer?«

»Ja, jetzt ist alles in Ordnung. Wenn du willst, gehe ich mit dir nach Glasgow.«

Conolly wich verlegen zurück. »Warum?« fragte er. »Wünschest du –?« Er wurde wieder ruhig und fügte hinzu: »Es ist zu kalt, Liebste, und ich muß sehr schwer arbeiten. Ich werde die ganze Zeit über zu tun haben. Übrigens vergißt du das Theater und Douglas, der sich auf der Treppe erkälten wird.«

»Nun, dann gehe ich wohl am besten mit Douglas, weil das dich glücklicher macht.«

»Geh mit Douglas, meine Einzige, Liebe, denn das wird dich glücklicher machen«, sagte er und küßte sie. Zu seinem Erstaunen schlang sie ihre Arme um ihn, hielt ihn fest bei der Schulter und sah ihn mit ungewöhnlichem Ernst an. Er lachte leise und machte sich sanft von ihr los, indem er sagte: »Denkst du nicht, deine Nervosität wird Douglas etwas unangenehm sein?« Sie ließ ihre Arme sinken, schloß ihre Lippen und ging schweigend hinaus. Er stellte sich an das Fenster und beobachtete sie, als sie in den Wagen einstieg. Douglas hielt ihr die Türe offen, und Conolly, der ihn etwas mitleidig betrachtete, bemerkte, daß er in seiner Art ein ganz hübscher Mann war, und daß seine Gewohnheit, immer ganz ernsthaft zu bleiben, ihm eine gewisse würdige Haltung gab. Der Wagen rollte davon und verschwand im Nebel. Conolly ließ den Vorhang herunter, zündete das Gas an und begann laut pfeifend seinen Koffer zu packen.


 << zurück weiter >>