Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Es war ein kalter Nachmittag im Januar, als Sholto Douglas ein Neuyorker Hotel betrat und zu einem Zimmer im ersten Stock hinauffuhr. Marian saß in Gedanken versunken mit einem Brief in ihrem Schoß. Sie sah nur einen Augenblick auf, als er hereintrat, sich seine Sealskinhandschuhe von den Händen riß und schweigend seinen Überzieher zur Seite warf.

»Es ist ein verwünschter Tag«, sagte er plötzlich.

Marian seufzte und fuhr auf. »Im Winter sehen hier die Zimmer so ungemütlich aus. Es fehlt das Kaminfeuer, an das wir von England aus gewöhnt sind.«

»Ein verdammtes Wohnen!« knurrte er.

Marian nahm ihren Brief wieder auf.

»Weißt du, daß er eine Scheidungsklage eingereicht hat?«

»Ja.«

»Du hättest es mir mitteilen können. Offenbar hast du es schon seit mehreren Tagen gewußt.«

»Ja, ich dachte, es sei selbstverständlich.«

»Du hast wahrscheinlich überhaupt nichts gedacht. Ich glaube, du hättest mich wohl immer darüber im Dunkeln gelassen, wenn ich es nicht selbst aus London erfahren hätte.«

»Hast du sonst Nachrichten? Von wem erfährst du es?«

»Ich habe ein paar vertrauliche Briefe erhalten.«

»Oh, ich bitte um Verzeihung.«

Fünf Minuten vergingen in Stillschweigen. Er blickte stirnrunzelnd zum Fenster hinaus, sie saß da wie vorher.

»Wie lange beabsichtigst du noch hierzubleiben?« fragte er plötzlich, indem er auf sie zutrat.

»In Neuyork?«

»Ich denke, wir sind hier in Neuyork.«

»Ich glaube, wir können hier gerade so gut bleiben wie sonst irgendwo.«

»Wirklich! Was hat dich zu dieser hübschen Ansicht gebracht?«

Marian zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie.

»Ich auch nicht. Du scheinst hier nicht sehr glücklich zu sein, oder du verstehst es gut, deine Gefühle vor deiner Umgebung zu verbergen.«

»Ich denke dasselbe.«

»Wie meinst du das?«

»Du scheinst mir ebensowenig glücklich zu sein.«

»Wie zum Teufel kannst du erwarten, daß ich in dieser Stadt glücklich bin? Glaubst du, es sei ein Vergnügen, wenn ich nur die Wahl zwischen der Gesellschaft von Amerikanern und der eines mürrischen Weibes habe?«

»Sholto!« sagte Marian, indem sie sich plötzlich erhob und ihn erstaunt ansah.

»Verschone mich mit diesem Gesicht«, sagte er kühl. »Du mußt dich daran gewöhnen, gelegentlich die Wahrheit zu hören.«

Sie setzte sich wieder hin. »Ich mache kein Gesicht«, sagte sie ernsthaft. »Deine Worte überraschen mich. Bin ich wirklich mürrisch gewesen?«

»Du warst schon seit mehreren Tagen so, und du bist es im Augenblick wieder.«

»Wir mißverstehen uns wahrscheinlich; denn du bist mir die ganze Woche über mürrisch und verdrossen vorgekommen, und als du vorhin hereinkamst, sahst du erregt aus.«

»Es ist leicht, einen Vorwurf zurückzugeben.«

»Sholto, ich weiß nicht, ob du das mit Absicht tust, aber du sprichst in einem sehr verächtlichen Tone zu mir.«

Er murmelte etwas und ging durch das Zimmer auf und ab. »Über einen Punkt bin ich mir wenigstens im klaren«, sagte er. »Deshalb bin ich mit dir nicht über den Ozean gefahren, und du tätest gut, unsere Beziehungen angenehmer zu gestalten, wenn du willst, daß ich sie zu dauernden machen soll.«

»Daß du sie zu dauernden machen sollst? Ich verstehe dich nicht.«

»Ich habe keine Bedenken, das dir zu erklären. Wenn gegen die Klage deines Mannes kein Widerspruch erhoben wird, setzt er in drei Monaten eine Entscheidung durch, die dich freimacht. Nun wird kein Klub in London, so sehr du auch das Gegenteil annimmst, mich irgendwie für verbunden halten, dich zu heiraten, nachdem du dich so aufgeführt hast. Merke dir das wohl, deine zukünftige Lage hängt davon ab, wie du dich jetzt benimmst. Du hast das offenbar vergessen.«

Sie sah ihn an, und er ging wieder an das Fenster.

»Die Klage meines Mannes kann nicht angefochten werden«, sagte sie. »Du wirst ohne Zweifel nach den Bestimmungen der Londoner Klubs handeln.«

»Das behaupte ich nicht«, sagte er und wurde ärgerlich. »Ich werde nach meinem eigenen gesunden Menschenverstand handeln. Und sei nicht sicher, daß gegen die Klage kein Widerspruch erhoben wird. Das Gesetz kennt den Einwand des absichtlichen Übersehens.«

»Aber das würde ein falscher Einwand sein.«

»Ich will nicht mit dir darüber streiten. Ob dein Mann blind war oder einfach seine Augen zudrückte, das können wir zwei jetzt nicht entscheiden. Du bist also gewarnt! Und nun wollen wir den Gegenstand fallen lassen.«

»Denkst du vielleicht,« sagte Marian, und die helle Röte stieg auf ihren Wangen auf, »nach dem, was du jetzt gesagt hast, könnte mich noch irgend was dazu bringen, dich zu heiraten?«

Er war erstaunt und blieb einen Augenblick bewegungslos. Dann sagte er in seinem gewöhnlichen kalten Tone: »Wie du willst. Du wirst dich schon eines Besseren besinnen. Ich will dich jetzt verlassen, wenn wir uns wieder treffen, wirst du ruhiger geworden sein.«

»Ja«, sagte sie. »Lebe wohl.«

Ohne eine Antwort zu geben wechselte er seinen Rock mit einer seidenen Joppe, steckte eine Zigarrentasche ein und ging hinaus. Beim Überschreiten der Türschwelle überlegte er und kehrte wieder um.

»Warum sagtest du ›Lebe wohl?‹« fragte er, nachdem er sich unruhig geräuspert hatte.

»Ich wollte dich nicht verlassen, ohne dir das zu sagen.«

»Ich hoffe, du hast mich nicht mißverstanden, Marian. Ich meinte nicht, daß wir scheiden sollten.«

»Das weiß ich. Trotzdem aber werden wir scheiden. Ich möchte nicht noch eine Nacht mit dir unter demselben Dache schlafen.«

»Was?« sagte er und machte die Türe zu. »Das ist ja Unsinn. Du bist übler Laune.«

»Das hast du mir schon einmal gesagt«, bemerkte sie und wurde blaß.

»Gut, aber – Marian: vielleicht habe ich vorhin etwas barsch gesprochen, aber du solltest das nicht so auffassen. Du mußt vernünftig sein.«

»Wir wollen, bitte, nicht mehr darüber reden. Ich brauche keine Entschuldigung und wünsche auch kein Entgegenkommen. Lebe wohl ist genug.«

»Aber Marian,« sagte er nähertretend, »du mußt nicht glauben, ich hätte aufgehört, dich zu lieben.«

»Vor allem,« sagte Marian, »darüber kein Wort mehr. Du sagtest, du hassest diesen Platz und das Leben, das wir hier führen. Ich bin ganz elend davon, und zwar nicht erst seit heute.«

»Wir müssen abreisen.«

»Ja, aber nicht zusammen. Noch ein Wort«, fügte sie entschlossen hinzu, als sie auf seinem Gesicht eine aufsteigende Wut bemerkte. »Ich werde keine Roheit von deiner Seite ertragen, auch nicht in Worten. Ich weiß von früher her, wessen du fähig bist, wenn du deine Selbstbeherrschung verlierst, und wenn du mich beschimpfst, werde ich um Hilfe rufen und sagen, wer ich bin.«

»Glaubst du, ich wollte dich schlagen?«

»Nein, weil du das nicht darfst. Aber ich werde auch keine Beschimpfungen und Schmähungen anhören.«

»Worüber hast du dich zu beklagen? Was habe ich dir getan?«

»Ich beklage mich nicht. Ich benutze meine Freiheit, die ich so teuer erkauft habe, um fortzugehen und zu handeln, ganz wie ich es will.«

»Und um mich zu verlassen, nachdem ich alles für dich geopfert habe. Ich habe deinetwegen ungeheure Ausgaben gehabt, meine Freunde entfremdet, meine gesellschaftliche Stellung aufs Spiel gesetzt und meiner Mutter das Herz gebrochen.«

»Wenn dies letzte nicht gewesen wäre, hätte ich dich längst verlassen. Es tut mir auch sehr leid.«

»Du hast in dem Brief etwas erfahren und hoffst, dein Mann wird dich wieder zu sich nehmen.«

»Ich habe tatsächlich gehört, daß er mich wieder aufnehmen will, wenn ich niedrig genug wäre hinzugehen.«

»Keine Frau in London wird noch einmal mit dir sprechen.«

»Ich sage dir, ich gehe nicht zurück. O Sholto, sei nicht so gewöhnlich. Können wir nicht in Würde voneinander scheiden? Wir haben uns geirrt. Laß uns das ruhig anerkennen und unsere verschiedenen Wege gehen.«

»Ich lasse mich nicht so leicht abschütteln, wie du denkst«, sagte er, und sein Gesicht bekam einen drohenden Ausdruck. »Denkst du, ich hielte dich für fähig, allein aus diesem Hotel zu gehen und auf eigenem Fuße in dieser fremden Stadt zu leben? Sprich, wer ist es?«

»Wer ist –? Was meinst du damit?«

»Welche neue Bekanntschaft hast du angeknüpft? Du warst besorgt, als dieser Tage unser Schiff wieder zurückkam – natürlich wegen der Post, vielleicht aber auch wegen des Schiffsarztes.«

»Ich verstehe schon. Du denkst, ich verließe dich, um zu einem andern Mann zu gehen. Jetzt will ich dir den wahren Grund nennen.«

»Bitte«, sagte er spöttisch und biß sich auf die Lippen.

»Also, ich verlasse dich, weil ich, anstatt dich zu lieben, was ich mir törichterweise einbildete, dich verachte und verabscheue. Du bist ein durch und durch selbstsüchtiger und beschränkter Mensch, und ich verdiene mein Unglück, weil ich deinetwegen einen viel besseren Mann verlassen habe. Es tut mir leid, daß du soviel für mich geopfert hast. Aber wenn du die Achtung einer Frau verdientest, dann hättest du mich nicht verloren.«

Douglas starrte sie an. » Ich selbstsüchtig und beschränkt!« sagte er und war vor Staunen nicht fähig, sich zu rühren.

»Ja.«

»Ich war vielleicht beschränkt, weil ich mich dir so ganz hingegeben habe«, sagte er langsam nach einer Pause. »Aber da ich nicht auf Dankbarkeit rechne, so werde ich wohl etwas Überflüssiges tun, wenn ich mich gegen einen so lächerlichen Vorwurf, ich sei selbstsüchtig, noch verteidige.«

»Du zeigst deine Selbstsucht, indem du immerzu betonst, was du verloren hast. An meinen Verlust denkst du gar nicht. Ich rühme nicht meine Selbstlosigkeit. Ich leide, weil ich töricht und egoistisch war, und ich verdiene es nicht besser.«

»Bitte, wieso leidest du? Du kamst hierher, weil dir dein Heim unerträglich war und weil du einen Mann hattest, der froh war, dich los zu sein. Du kannst alles tun und haben, was du willst. Nenne mir einen einzigen Wunsch, den ich dir nicht stillschweigend erfüllt habe.«

»Ich habe dir nichts vorzuwerfen. Du hast mich großmütig mit jedem Luxus versehen, den Geld verschaffen kann. Aber nicht der Mangel an Geld hat mich zu der Einbildung verleitet, mein Heim sei unerträglich. Es ist nicht wahr, daß ich tun kann, was ich will. Vor kaum ein paar Minuten drohtest du mir noch, du würdest mich davonjagen, wenn ich mich nicht angenehmer machte. Kannst du mit deiner Großmut prahlen, nachdem du mich wegen meiner verlassenen und hilflosen Abhängigkeit von dir verhöhnt hast?«

»Du hast mich mißverstanden, Marian. Ich habe weder geprahlt, noch gedroht, noch gehöhnt. Ich habe mich sogar entschuldigt, weil ich einen Augenblick erregt war. Wenn du eine solche Kleinigkeit nicht vergeben kannst, mußt du selbst sehr wenig Großmut besitzen.«

»Vielleicht. Ich bin nicht besonders übelnehmend, aber ich kann nichts vergessen oder so fühlen, als sei nichts geschehen.«

»Das glaubst du jetzt. Laß uns den Zank beendigen. Ein Streit zwischen Liebenden sollte nie zu lange ausgedehnt werden.«

»Ich verlange danach, daß er beendet wird. Er quält mich nur und ändert meinen Entschluß nicht im geringsten.«

»Meinst du –«

»Ja, ich meine es. Sieh mich nicht so an, du machst mich böse, anstatt mich zu erschrecken.«

»Und du glaubst, ich ließe mir das ruhig gefallen?«

»Du kannst tun, was du willst«, sagte Marian und trat ruhig an die Wand, wo sie auf einen Knopf drückte. »Ich will dich nie wiedersehen, wenn ich es irgendwie vermeiden kann. Wenn du mir nachkommst oder mich verfolgst, werde ich als Mistreß Conolly die Polizei um Schutz bitten. Ich verachte dich mehr als irgend sonst jemand auf der Welt.«

Er wandte sich ab und griff hastig nach Rock und Hut. Sie beobachtete ihn scheinbar ruhig, aber sie lauschte doch mit schnellerem Herzschlag seinen lauten und unregelmäßigen Atemzügen. Als er die Tür öffnete, um hinauszugehen, trat ihm auf der Schwelle ein deutscher Kellner entgegen.

»Sie beliebten zu klingeln?« fragte er zweifelnd und trat einen Schritt zurück.

»Ich bin von jetzt ab für die Ausgaben dieses Weibes nicht mehr verantwortlich«, sagte Douglas, indem er mit Fingern auf sie zeigte. »Sie können sie auf Ihr eigenes Risiko hin behalten oder sie auf die Straße werfen, wo sie nach Gefallen ihr Gewerbe weiter ausüben kann.«

Der Kellner lächelte unbestimmt und sah zuerst dem davoneilenden Douglas nach und dann auf Marian.

»Bitte, ich möchte ein anderes Zimmer«, sagte sie. »Es genügt eins in den oberen Stockwerken, aber ich muß meine Sachen sofort dorthin gebracht haben.«

Ihre Wünsche wurden ausgeführt. Inzwischen erschien Douglas' Diener und sagte, er habe den Auftrag, das Gepäck seines Herrn abzuholen.

»Verläßt Mister Forster das Hotel?« fragte sie.

»Ich kenne nicht seine Absichten, Madame.«

»Ich wette, ich weiß sie«, sagte ein mürrischer Mann, der dabei war, Marians Koffer fortzutragen. »Er fährt nach dem Grand Central. Dann kann er nur nach dem Süden reisen oder nach Hause.«

Marian, die noch immer in bebender Aufregung war, setzte sich in ihr neues Zimmer und überlegte ihre Lage. Um ihre Gedanken zu sammeln, die immer wieder zu dem Auftritt mit Douglas zurückkehrten, zählte sie ihr Geld und fand, daß sie außer einer Zwanzigpfundnote, die sie von London mitgebracht hatte, nur noch ein paar einzelne Dollar besaß. Die Leitung des Haushalts in Westbourne Terrace und Holland Park hatte ihr genügend Begriff von dem Wert des Geldes gegeben, daß sie einsah, sie würde mit einer so kleinen Summe in einem erstklassigen amerikanischen Hotel nicht lange bleiben können. Zu Hause hatte Conolly ihr ein besonderes Bankkonto eingerichtet, und sie hatte dort ihr Geld liegen. Aber in ihrer Unkenntnis des Gesetzes wußte sie nicht, ob sie nicht durch ihre Flucht alle ihre Eigentumsrechte verwirkt hatte. Sie beschloß, sofort in ein billigeres Logis zu ziehen und sparsam zu leben, bis sie über ihre Verhältnisse Klarheit gewonnen hatte oder eine Beschäftigung fand, die ihr den Unterhalt gewährte. Sie hatte keine Angst vor der Armut, da sie gar nicht wußte, was sie bedeutete.

Der Nachmittag war noch nicht weit fortgeschritten, als sie das Hotel verließ und zu Crawfords hinfuhr.

»Also endlich kommen Sie einmal«, rief Mrs. Crawford aus. Sie war etwa fünfzig Jahre alt und dick, aber magerer im Gesicht, als die Engländerinnen in dem Alter meistens sind. »Ich dachte es schon, daß Sie bald Ihrer einsamen Vornehmheit in dem Hotel da müde würden.«

»Ich fürchte, ich werde es bald ganz anders als vornehm haben und in einem schäbigen Lodginghaus wohnen«, sagte Marian. »Erstaunen Sie nicht, Mistreß Crawford. Kann man in Neuyork von zehn Dollar die Woche leben?«

» Sie können in Neuyork weder für zehn Dollar die Woche leben noch für hundert. Sie sind doch hierhergefahren?«

»Ja, natürlich.«

»Natürlich. Wenn Sie nur zehn Dollar die Woche haben, müssen Sie gehen. Ich weiß, wie Sie sind, Mistreß Forster. Sie geben schnell Ihr Geld aus, ganz gleich, wo Sie wohnen. Aber was ist geschehen? Wie geht es Ihrem Mann?«

»Ich weiß es nicht, hoffentlich geht es ihm gut«, sagte Marian, und ihre Stimme zitterte ein wenig. »Mistreß Crawford, Sie sind der einzige Freund, den ich in Amerika habe, und Sie sind so gütig gewesen, daß ich es gewagt habe, da ich doch jemand belästigen muß, zu Ihnen zu kommen. Die Wahrheit ist, ich habe meinen Mann verlassen und besitze nur noch ungefähr hundert Dollar. Davon muß ich leben, bis ich eine Beschäftigung finde oder vielleicht etwas von meinem eigenen Gelde aus England erhalte.«

»Halt, Kind! Unsinn!« rief Mrs. Crawford mit freundlicher Ungeduld aus. »Sie gehen sofort wieder zu Ihrem Mann zurück. Sie haben vermutlich einen Streit mit ihm gehabt, aber Sie müssen das nicht so schlimm nehmen. Alle Männer sind etwas selbstsüchtig, und nach dem, was ich von ihm gesehen habe, scheint er keine Ausnahme von der Regel zu bilden. Aber Vollkommenheit ist unmöglich. Er ist ein feiner, hübscher Junge, und er weiß das. Und was Sie angeht, ich weiß nicht, wie man Sie in England schätzt, aber Sie sind sicher die schönste Frau in Neuyork. – Es ist ein Jammer, daß ein solches Paar sich nicht verträgt.«

»Er ist nicht selbstsüchtig«, sagte Marian. »Sie haben ihn nie gesehen. Es tut mir leid, daß ich Sie erschrecken muß, Mistreß Crawford. Mister Forster ist nicht mein Mann.«

»Nein – nicht doch! – Haben Sie das schon einmal dem General erzählt?«

»General Crawford! O nein.«

»Er ist ein Mann und ist scharfsinniger als ich arme Frau. Nun, es tut mir leid, daß ich das hören muß, Mistreß Forster. Es ist eine böse Sache, eine sehr böse Sache. Aber wenn ich Sie recht verstanden habe, Sie sagten, Sie seien verheiratet.«

»Ja, und ich habe den besten Mann von der Welt verlassen«, sagte Marian und unterdrückte ein Schluchzen.

»Es ist schade, daß Sie das nicht früher eingesehen haben.«

»Ich weiß es, Mistreß Crawford. Ich dachte, es wäre zu meinem Besten.«

»Sie dachten, es wäre zu Ihrem Besten, als Sie mit einem fremden Mann dem besten Gatten in der Welt davonliefen. Nun, ihr englischen Aristokraten seid einzig. Ihr werft mit Steinen auf uns, weil unsere Frauen so frei sind, und weil bei uns die Scheidung so leicht ist. Aber ihr schmäht uns ja immer, und Sie erzählen mir dann, Sie hätten es in bester Absicht getan. Wer hat Sie erzogen, mein Kind?«

»Meine Erziehung hat mir in meinem wirklichen Leben sehr wenig genutzt. Ich glaube, es war viel mehr Torheit und Unkenntnis der Welt als Schlechtigkeit, die meinen Fall verursachten.«

»Hm! Und was haben Sie jetzt vor?«

»Augenblicklich will ich mir eine Unterkunft suchen. Wollen Sie mir sagen, wo ich eine suchen soll? Ich weiß in dieser Stadt nicht den Osten vom Westen zu unterscheiden, und ich bin so unerfahren, daß ich mich leicht in der Beurteilung einer Stadtgegend irre. Wollen Sie mir eine Straße oder ein Viertel angeben, wo ich ein passendes Zimmer finden kann. Ich kann sehr sparsam leben.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Mrs. Crawford verwirrt und drehte an ihren Fingerringen. »Sie sollten sich Ihrer selber schämen. Sie sind so hübsch.«

»Vielleicht wollen Sie mir lieber nicht helfen. Sie können es mir offen sagen. Ich werde nicht beleidigt sein.«

»Sie dürfen mir so etwas nicht sagen. Ich muß mich mit dem General beraten. Ich möchte Sie nicht allein in ein gewöhnliches Boardinghaus ziehen lassen, ich kann Sie aber auch nicht einladen, hier zu wohnen, ehe ich nicht den General –«

»O nein, davon kann gar keine Rede sein, ich muß sofort anfangen, mich allein in der Welt zurechtzufinden. Ich versichere Ihnen, Mistreß Crawford, ich könnte nicht hierherziehen. Ich würde nur Ihre Freunde fernhalten.«

»Aber es kennt Sie doch niemand.«

»Früher oder später treffe ich Bekannte. Es gibt Hunderte von Leuten, die mich von Ansehen kennen, und die jedes Jahr hierherkommen. Übrigens ist unglücklicherweise mein Fall sehr bekannt geworden. Darf ich Sie ins Vertrauen ziehen?«

»Wenn Sie es wünschen, liebes Kind. Ich frage nicht danach, aber ich will es gerne anhören.«

»Das weiß ich. Sie wissen schon alles über mich. Mister Forsters wirklicher Name ist Douglas.«

Mrs. Crawford erstickte einen Ausruf des Erstaunens. »Und Sie sind – sind Sie wirklich –?«

»Ich bin es.«

»Nein, denk' mal! Also das war Douglas! Und ich habe ihn für eine glatthaarige, geschmeidige, scheinheilige Schlange von einem Menschen gehalten. Und Sie sind auch ganz anders, als ich dachte. Sie sind ja noch ein richtiges Mädchen, Mistreß – Mistreß Conolly.«

»Ich habe kein Recht mehr, diesen Namen zu tragen. Bitte, nennen Sie mich auch fernerhin bei meinem angenommenen Namen und bewahren Sie mein Geheimnis. Ich hoffe, Sie glauben nicht alles, was in den Zeitungen steht.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Mrs. Crawford. »Aber wer war nun schuld daran?«

»Ich. Ich ganz allein. Ich wollte, Sie erzählten den Leuten, daß Mister Conolly in der Sache kein Vorwurf trifft.«

»Haben Sie keine Angst, er weiß sich schon selbst zu schützen. Er hat Ihnen sicherlich eine Veranlassung gegeben, ich weiß, wie die Männer sind. Der General ist nicht mein erster Gatte.«

»Nein, er gab mir keine Veranlassung. Mister Conolly ist nicht wie die andern Männer. Ich wurde unzufrieden, weil mir jeder Wunsch erfüllt wurde. Und jetzt über die Wohnung, Mistreß Crawford. Glauben Sie nicht, daß es Mangel an Vertrauen ist, wenn ich von dem Gespräch abgehe. Aber die Geldfrage macht mir Angst. Im Hotel wären alle meine Geldmittel in weniger als einer Woche verbraucht worden.«

»Wohnung? Sie meinen vermutlich möblierte Zimmer. Die Leute gehen hier meistens in Boardinghäuser. Und was die Billigkeit angeht, Sie wissen ja gar nicht, was billig ist. Können Sie kein Übereinkommen treffen mit Ihren vornehmen Verwandten in England? Haben Sie kein eigenes Vermögen?«

»Ich weiß nicht, ob mir mein Vermögen noch gehört oder nicht. Sie müssen mich als arme Frau betrachten. Ich bin fest entschlossen, ein Zimmer zu nehmen, und ich möchte das gerne sofort erledigen, denn ich bin sehr aufgeregt über etwas, was heute morgen geschah.«

»Nun, wenn Sie müssen, dann müssen Sie. Ich weiß ein Haus, in dem es Ihnen vielleicht gefällt. Ich habe selbst da gewohnt, als ich noch nicht so wohlhabend war wie jetzt. Es ist etwas unten in der Stadt, aber Sie müssen das aus Sparsamkeit mit in Kauf nehmen.«

Mrs. Crawford, die aus den Zeitungen wußte, daß ihr Gast mit dem Grafen von Sunbury verwandt war, ließ ihren Wagen kommen und zog ein hübsches Kleid an. Als sie eine Strecke gefahren waren, kamen sie in eine breite Straße und kreuzten eine Hochbahn.

»Wie gefällt Ihnen diese Gegend?« fragte Mrs. Crawford.

»Es ist eine feine, breite Straße,« antwortete Marian, »aber sie sieht aus, als müßte alles einmal gründlich gereinigt und angestrichen werden.«

»Da unten wird sie ruhiger. Aber ich fürchte, Sie werden hier nicht gerne wohnen.«

Marian hatte bisher solche Straßen für Verkehrsadern gehalten, aber nicht geglaubt, daß man darin hausen könnte. »Bettler haben keine Wahl«, sagte sie mit gezwungener Fröhlichkeit und schaute ängstlich nach dem versprochenen ruhigeren Teile aus.

»Boardinghäuser sind hier so die Regel, daß es nicht leicht ist, möblierte Zimmer zu finden. Sie werden sehen, Mistreß Myers ist eine gute Seele, und wenn auch das Haus nicht besonders vornehm aussieht, innen ist es ganz gemütlich.«

Die Straße bekam jetzt ein immer besseres Aussehen, je weiter sie fuhren, und das Haus, an dem sie hielten, hatte zwar schmutzige Fenster und einen alten Anstrich, aber es war doch besser, als Marian eine Minute vorher gedacht hatte. Sie blieb im Wagen, während ihre Gefährtin drinnen mit der Wirtin verhandelte. Es dauerte zwanzig Minuten, bis Mrs. Crawford wieder erschien, und sie sah sehr enttäuscht aus.

»Mistreß Myers hat ein paar Zimmer, die Ihnen wohl gefallen würden, aber im selben Stock wohnt noch eine Frau, die immer betrunken ist. Sie hat eine Menge Kleider verpfändet und verspricht jeden Tag, zu gehen. Aber Mistreß Myers hat sie bis jetzt nicht loswerden können. Es ist sehr ärgerlich. Sie ist zwar ruhig und stört niemand, aber natürlich ist es immerhin –«

»Sie kann mich auch nicht stören«, sagte Marian. »Wenn das die einzige Einwendung ist, das macht nichts. Ich habe mit ihr nichts zu sprechen. Wenn sie nicht laut oder lästig ist, ihre Gewohnheiten sind ihre eigene Sache.«

»Oh, sie würde Sie nicht stören. Sie können nach englischer Art für sich selbst leben.«

»Dann wollen wir uns sofort einigen. Noch weiter suchen und handeln, das halte ich nicht aus.«

»Sie sehen so blaß aus. Wenn Sie nur nicht krank sind?«

»Nein, es ist nichts. Ich bin nur müde.«

Sie gingen zusammen ins Haus, und Marian wurde Mrs. Myers, einer nervösen Witwe von fünfzig Jahren, vorgestellt. Die Zimmer waren klein und die Möbel und Teppiche alt und verbraucht. Aber alles war sauber, und im Wohnzimmer befand sich ein offener Kamin.

»Oh, sie gefallen mir sehr gut, danke sehr«, sagte Marian. »Ich will mein Gepäck holen lassen und dann meine neue Adresse und ein paar Worte an eine Londoner Freundin telegraphieren.«

»Wenn Sie sich erschöpft fühlen, kann ich nach Ihrem Gepäck sehen«, sagte Mrs. Crawford. »Aber ich rate Ihnen, mit mir zu kommen, bei Delmonicos etwas Gutes zu essen und dann Ihr Kabeltelegramm selbst zu schicken.«

Marian raffte sich aus einer Müdigkeit, die sie überkommen hatte, auf und folgte Mrs. Crawfords Rat. Als sie wieder in den besseren Stadtteilen waren, und besonders nach dem Essen, schöpfte sie wieder Mut. Im Hotel bemerkte sie, daß der Buchhalter erstaunt war, als sie wegen der Übersendung ihres Gepäcks und ihrer Briefe die neue Adresse angab. Douglas hatte, wie sich ergab, vor dem Weggehen alle Ausgaben bezahlt. Sie hielt sich nicht lange in dem Gebäude auf, denn die Hotelangestellten starrten sie neugierig an. Sie beendeten ihre Besorgungen, indem sie an Elinor telegraphierte: »Getrennt. Schreibe an die neue Adresse. Habe ich mein Geld eingebüßt?« Dies kostete ihr fast fünf Dollar.

»Wenn Sie nicht Sicherheit über Ihr Vermögen haben müßten, dann hätten Sie mir soviel nicht ausgeben dürfen«, sagte Mrs. Crawford.

»Ich dachte nicht, daß es so teuer war«, sagte Marian. »Ich bekam einen Schrecken, als er den Preis nannte. Aber es war nicht zu ändern.«

»Wir wollen jetzt machen, daß wir nach Mistreß Myers zurückkommen. Es wird spät.«

»Ja, Sie haben recht«, sagte Marian seufzend. »Es tut mir leid, daß ich Nelly nicht bat, mir zu telegraphieren. Ich fürchte, mein Geld reicht nicht so lange, wie ich dachte.«

»Wir wollen schon sehen. Der General war sehr eingenommen von der Art, wie Sie sich um mich kümmerten, als ich da unten krank war. So haben Sie in der Stadt Neuyork zum wenigsten zwei Freunde.«

»Sie haben es mir heute bewiesen. Ich fürchte, ich werde Ihnen noch weiterhin Mühe machen, wenn ich schlechte Nachrichten erhalte. Sie müssen mir helfen, Arbeit zu finden.«

»Ja. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ehe die schlechten Nachrichten da sind. Hoffentlich langweilen Sie sich nicht bei Mistreß Myers. Wie bekommt Ihnen die amerikanische Luft?«

»Sehr gut. Ich war die ersten zwei Tage auf der Seereise krank, und davon scheint meine Verdauung etwas gelitten zu haben. In der letzten Zeit war ich manchmal unwohl des Morgens.«

»Oh! So liegt die Sache? Hm! Ich merke, ich werde gelegentlich nach Ihnen sehen müssen.«

»Warum?«

»Sorgen Sie sich nicht darum, liebes Kind. Also bleiben Sie hübsch munter, und versagen Sie sich nicht das Essen, um Geld zu sparen. Und geben Sie sorgfältig auf sich acht.«

»Es ist nichts Ernsthaftes«, sagte Marian lächelnd. »Nur eine vorübergehende Unpäßlichkeit. 5ie brauchen sich meinetwegen nicht zu beunruhigen. Dies ist doch das Haus? Ich werde mich jedesmal verlieren, wenn ich hier spazierengehe.«

»Hier ist es. Nun, guten Abend. Ich werde bald einmal vorsprechen. Inzwischen geben Sie auf sich acht, wie ich Ihnen sagte.«

Es war dunkel, als Marian ihr neues Haus betrat. Mrs. Myers stand an der offenen Tür und stritt mit dem Milchmann. Marian versicherte ihr hastig, sie wüßte schon ihren Weg, und ging allein hinauf. Sie war mutlos und abgemattet, ihre ganze Stimmung war auf der Rückfahrt vom Telegraphenbüro gesunken. Als sie in der Hoffnung auf ein warmes Feuer an ihr Zimmer kam, hörte sie ein schwingendes Geräusch, das plötzlich durch das Rasseln eines fallenden Schüreisens unterbrochen wurde. Eine Frauenstimme rief: »Ach Gott, das hab' ich mir gedacht.« Marian trat herein und sah ein robustes junges Mädchen vor dem Kamin knien. Es versuchte, ein schwaches Feuer in hellere Glut zu setzen. Das Schüreisen hatte es wieder aufgenommen und stellte es mit der Spitze nach oben gegen das Feuergitter. Dann schlug es mit ihrer Schürze Wind, daß das Feuer aufloderte, und Marian sah beim Schein der Flammen mit Widerwillen, daß das Kattunkleid des jungen Mädchens schmutzig und ihr Haar unordentlich war.

»Ich glaube –«

»O Gott!« schrie das Mädchen und fuhr empor, indem sie Marian ein schmutziges, aber hübsches Gesicht zuwandte.

»Habe ich Sie erschreckt?« fragte Marian, die selbst bei diesem Ausruf zurückfuhr.

»Ich bin fast gestorben vor Schrecken«, sagte das Mädchen keuchend und preßte die Hand gegen die Brust.

»Das tut mir leid. Ich wollte Ihnen sagen, Sie brauchen sich weiter keine Mühe mehr mit dem Feuer zu geben. Es brennt jetzt von selbst.«

»Jawohl, Miß.«

»Wie heißen Sie?«

»Liza Redmont, Miß.«

»Ich möchte, bitte, etwas Licht haben, Eliza.«

»Sofort, Miß. Wünschen Sie Ihren Tee jetzt, Miß?«

»Ja, bitte.«

Eliza eilte flink davon, und Marian legte Hut und Pelz ab, um sich an das Feuer niederzusetzen. Sie war voller Verzweiflung über die Aussicht, in diesem armseligen Zimmer wohnen zu müssen, wo sie von diesem schlampigen irischen Mädchen bedient wurde, das ihr im innersten Herzen zuwider war. Eliza erschien bald darauf wieder mit einem kleinen Teebrett, auf das sie eine brennende Petroleumlampe, ein Porzellanteeservice, ein zusammengeschlagenes Tischtuch, Brot und Butter und einen kupfernen Kessel gepackt hatte. Als sie die Lampe auf den Kaminsims und den Kessel an das Feuer gestellt hatte, setzte sie das Tablett auf das Sofa und begann das Tischtuch auszubreiten. Sie zog es wie ein Segel auseinander, indem sie in jede Hand einen Zipfel nahm und die mittlere Falte mit den Zähnen festhielt. Dann schwenkte sie es gewandt über den Tisch, daß die Lampe von dem Luftzug aufflackerte und Marian mit den Augen zuckte. Sie tat alles sehr schnell und hatte in wenigen Augenblicken das Teeservice aufgestellt, so daß sie fertig zum Fortgehen war.

»Eliza, heute abend oder morgen früh wird etwas Gepäck für mich hierhergebracht. Sagen Sie es mir, wenn es kommt.«

»Ja. Miß.«

»Sie wissen doch, ich heiße Mistreß Forster?«

»Mistreß Forster. Ja, Miß.«

Marian machte keine weiteren Versuche, dem Mädchen die Anrede »Miß« abzugewöhnen, und Eliza verließ das Zimmer. Draußen wurde sie von jemand, der sich in demselben Stockwerk befand, angerufen. Marian stutzte bei dem Laut. Es war eine unangenehme rauhe Frauenstimme, eine Stimme, die sie sicherlich schon einmal gehört hatte, die aber doch keiner Bekannten angehörte.

»Eliza! Eli–za!« Marian schauderte.

»Ja, ja«, sagte Eliza ungeduldig und öffnete eine Tür.

»Komm herein, Liza«, sagte die Stimme mit gespielter Zärtlichkeit. Dann wurde die Tür geschlossen, und Marian konnte nur noch das Murmeln der nachfolgenden Unterhaltung hören. Es dauerte noch fort, als Mrs. Myers hereintrat.

»Ich hätte Sie nicht sollen allein heraufgehen lassen, Mistreß Forster,« sagte sie, »aber ich habe manchmal so viel zu besorgen, daß ich entweder das eine oder das andere ungetan lassen muß.«

»Es war wirklich nicht schlimm, Mistreß Myers. Ihr Dienstmädchen war sehr aufmerksam gegen mich.«

»Das Lohnmädchen? Sie ist tüchtig, sie ist – ihr geht alles flink von der Hand. Nur, ich kann sie nicht von jenem Zimmer fernhalten. Sie ist jetzt wieder drinnen. Obgleich ich immer hinter ihr her bin, schlüpft sie jeden Augenblick hinaus und geht für dieses unglückselige, junge Geschöpf zum Pfandhaus und kauft ihr Getränke.«

»Für wen?«

»Mistreß Crawford wollte doch mit Ihnen über die Person sprechen.«

»Das tat sie auch«, sagte Marian. »Aber ich wußte nicht, daß sie jung war.«

»Sie ist etwas älter als Sie. Ich kannte sie schon als kleines Mädchen und vergesse oft, wie alt sie ist. Sie war das hübscheste Kind! Selbst jetzt noch kann sie einen zu allem bereden. Aber ich kann ihr nicht helfen. Sie will nur immer trinken und trinken vom Morgen bis in die Nacht. Da kommt Eliza aus ihrem Zimmer. Eliza.«

»Ja, Madame«, sagte Eliza und blickte herein.

»Sie bleiben im Hause, Eliza – verstanden? Ich will nicht, daß Sie ausgehen.«

»Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen?« sagte Eliza und dämpfte ihre Stimme.

»Nein, Eliza. Ich habe jetzt mit Mistreß Forster zu reden.«

»Sie möchte Sie sprechen«, flüsterte Eliza.

»Geh hinunter, Eliza, sofort. Ich will sie nicht sehen.«

»Mistreß Myers«, rief die Stimme. Marian erschrak wieder bei dem Klang. »Mistreß My–ers. Tante Sally. Kommen Sie zu der armen Susie.« Mrs. Myers sah verwirrt Marian an. Nach einer Pause ertönte die Stimme von neuem, diesmal mit einem nachgemachten Yankeeakzent. »Ich glaube, wenn Sie nicht kommen, schlage ich Lärm.«

»Ich muß hingehen«, sagte Mrs. Myers. »Ich verspreche Ihnen, Mistreß Forster, sie wird Sie nicht belästigen. Sie verläßt noch diese Woche das Haus. Sie sollen durch sie nicht gestört werden.«

Mrs. Myers ging in das andere Zimmer. Eliza rannte die Treppe hinunter, und Marian hörte, wie sie leise die Haustür öffnete und hinausging. Sie hörte auch undeutlich die Stimme der Hauswirtin und der Mieterin. Nach einer Weile wurde alles still, und sie trank in Frieden ihren Tee. Sie war froh, daß die Wirtin nicht wiederkam, obgleich sie ihr Alleinsein nur dazu benutzte, um an ihr verlorenes Heim in Holland Park zu denken. Sie verglich es mit diesem schmutzigen Wohnraum und drückte das Taschentuch auf die Augen, die ganz voll Tränen waren. So verging über eine Stunde, bis Eliza hereinstürzte und die Ankunft des Gepäcks meldete. Jetzt raffte sie sich auf und ließ es in ihr Schlafzimmer kommen, wo sie einen Koffer auspackte, der ihre Schreibmappe und einige Bücher enthielt. Er enthielt auch einige von ihren Kleidern, eine Menge Putzwaren und feines Unterzeug. Eliza, die dabei stand, konnte ihre Bewunderung nicht verbergen, und Marian, die sie zwar nicht die Kleider berühren ließ, hatte nicht das Herz, sie fortzuschicken, bevor sie den ganzen Inhalt des Koffers gesehen hatte. Marian hörte nachher Elizas Stimme im Zimmer der betrunkenen Mieterin und entnahm aus ihrem überschwenglichen Ton, daß sie die seltenen Dinge, die sie gesehen hatte, beschrieb.

Marian betrachtete mit einigem Interesse ihre neue Umgebung, um sie in einem Briefe an Elinor zu beschreiben. Als sie ihn beendet hatte, war sie todmüde, und das Feuer ging fast aus. Sie sah auf ihre Uhr und fand zu ihrem Staunen, daß es zwei Stunden nach Mitternacht war. Sie erhob sich, um schlafen zu gehen. Bevor sie aber das Zimmer verließ, stand sie eine Weile vor dem altmodischen Pfeilerspiegel, mit einem Fuß auf dem Kamingitter, und sah ihr Bild an. Sie empfand Mitleid mit ihrem müden Ausdruck und freute sich über die sanfte Schönheit ihres Gesichts und die feinen Züge. Sie war nicht immer mit ihrem Aussehen zufrieden, aber dieses Mal vermehrte der Spiegel den Trost, den sie im Schreiben an Elinor gefunden hatte, und sie fühlte sich fast glücklich, als sie die Lampe nahm, um in ihr Schlafzimmer zu gehen.

Sie war kaum auf den Flur getreten, als sie einen unsicheren Fußtritt auf der Treppe hörte. Sie erhob die Lampe und sah ein seltsames Weib herunterkommen, das sich am Geländer festhielt und so ging, als hätte es Schmerzen in den Beinen. Das schwarze Haar fiel ihr fast bis zur Taille herunter, und sie trug einen Morgenrock aus karmoisinrotem Satin, der warm ausgefüttert und sehr befleckt und bespritzt war. Sie hatte schöne dunkle Augen und war jung, lebhaft und hübsch. Aber als sie näher trat, gaben ihr die feuchte Blässe ihrer Haut, die Schlaffheit ihrer Unterlippe und des Kinns und ein scharfer und verlebter Ausdruck in den schönen Augen ein gieriges, ruheloses Aussehen, das Marian mit Ekel erfüllte. Ihr Anblick machte ihr denselben quälenden Eindruck wie vorher die Stimme. Aber es war jetzt entschiedener, und Marian überkam es mit einem plötzlichen Schrecken, als ob Conolly in der grotesken Verwandlung eines quälenden Traumes wohl so erscheinen könnte. Anfangs schien die Fremde die Lampe gar nicht zu bemerken. Als sie aber bis auf ein paar Schritte herangekommen war, sah sie jemand vor sich stehen und starrte, geblendet durch das Licht, Marian an, die ihre Geistesgegenwart verlor und bewegungslos stehenblieb. Langsam ging der Gesichtsausdruck des Weibes in den des Erstaunens über. Sie kam bis auf den Flur herunter, blieb dort stehen, indem sie sich an dem Geländer festhielt, und sagte mit rauher Stimme:

»O Heiland! Es ist überhaupt keine Frau. Ich habe das Delirium!« Dann streckte sie plötzlich, noch nicht ganz überzeugt von dieser Erklärung, ihre Hand aus und versuchte Marians Arm zu ergreifen. Sie griff aber daneben und berührte sie an der Brust, indem sie gleichzeitig schrie: »Mistreß Ned!«

Marian wich vor ihrer Berührung zurück und fand ihren Mut wieder.

»Kennen Sie mich?« sagte sie.

»Das sollte ich meinen. Ich muß mich sehr verändert haben oder Sie müßten mich auch kennen. Sie haben mich, glaube ich, auf der Bühne gesehen. Ich bin Ihre Schwägerin, vielleicht wußten Sie gar nicht, daß Sie eine hatten.«

»Sind Sie Miß Susanna Conolly?«

»Ja. Wenigstens bin ich das, was von der armen Susanna übriggeblieben ist. Sie scheinen nicht übertrieben erfreut zu sein, meine Bekanntschaft zu machen, aber ich war früher so schön wie Sie. Folgen Sie meinem Rat, Mistreß Ned, und trinken Sie keinen Champagner. Auf Champagner folgt Kognak und auf Kognak –« Susanna schnitt eine Grimasse und wies auf sich selbst.

»Ich fürchte, wir stören die Leute, wenn wir hier weiter sprechen. Wir wollen uns lieber gute Nacht sagen.«

»Nein, nein. Eilen Sie nicht so, mich loszuwerden. Kommen Sie eine Weile mit in mein Zimmer. Ich werde ruhig reden, ich bin nicht betrunken. Ich habe gerade meinen Rausch ausgeschlafen und wollte mir wieder etwas zu trinken holen. So halten Sie mich wenigstens für ein paar Minuten davon ab. Hoffentlich hat Ihnen Ned nicht verboten, mit mir zu sprechen.«

»O nein«, sagte Marian und gab einem Gefühl des Mitleidens nach. »Kommen Sie in mein Zimmer. Da ist noch ein wenig Feuer.«

»Wir wohnten früher immer in diesem Zimmer, als mein Vater noch lebte«, sagte Susanna, indem sie Marian folgte und sich seufzend auf das Sofa niederließ. »Ich werde nicht daraus klug, wissen Sie. Ich begreife nicht, wie zum Kuckuck Sie hierherkommen. Hat Ned Sie geschickt, daß Sie nach mir sehen sollen? Ist er in Neuyork? Ist er hier?«

»Nein«, sagte Marian und dachte mit bitterem Schmerz und schrecklicher Verwirrung an das, was jetzt folgen mußte. »Er ist in London. Ich bin allein hier.«

»Nun, warum –? Was –? Ich verstehe nicht.«

»Haben Sie es nicht in den Zeitungen gelesen?« fragte Marian mit leiser Stimme und wandte ihr Gesicht weg.

»Zeitungen! Nein, nicht mehr, seit ich den Bericht über mein brillantes Debüt las, von dem Sie wohl gehört haben. Ich lese nie etwas, ich trinke nur noch. Was ist geschehen?«

Marian zauderte.

»Ist es ein Geheimnis?« fragte Susanna.

»Nein, es ist kein Geheimnis«, sagte Marian und sah sie fest an. »Die ganze Welt weiß es. Ich habe Ihren Bruder verlassen, und ich weiß nicht, ob ich noch sein Weib bin oder ob ich schon geschieden bin.«

»Sie meinen doch nicht, daß Sie sich von ihm getrennt haben?« schrie Susanna.

Marian schwieg.

»Ich habe es Ned immer gesagt, keine Frau könnte es bei ihm aushalten«, sagte Susanna mit ausbrechender Lebhaftigkeit nach einer Pause, in der sie Marian voll Erstaunen angestarrt hatte. »Er hielt Sie immer für ein Muster von Anständigkeit. Natürlich steckt ein anderer Mann dahinter. Was ist aus ihm geworden, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe ihn verlassen«, sagte Marian verächtlich. »Sie brauchen in der Angelegenheit Ihrem Bruder keine Schuld zuzumessen. Ich habe ihm nichts vorzuwerfen.«

»Ja,« sagte Susanna, nicht im mindesten bewegt, »er verdient nie einen Vorwurf. Wie geht es Bob? Ich meine, Ihrem Vetter Marmaduke?«

»Danke, sehr gut.«

»Auch Bob konnte man nichts vorwerfen, obgleich er ganz das Gegenteil war, und mit ihm konnte man prächtig auskommen. Ned war immer im Recht – er wußte stets, was er wollte – aber das war auch alles. Er hat keine Abwechslung. Ich möchte wissen, ob sich Bob je verheiratet?«

»Er verheiratet sich im Frühjahr.«

»Mit wem?«

»Mit Lady Constance Sun –«

»Das verdammte Frauenzimmer!« rief Susanna aus. »Ich hasse sie. Sie hat sich ihm stets an den Hals gehängt. Das verfluchte, verdammte – ich wollte –«

»Miß Conolly,« sagte Marian, »ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich. Aber ich bin sehr müde, und es ist sehr spät. Ich muß zu Bett gehen!«

»Gut, wollen Sie mich morgen besuchen? Es ist ein Akt der Barmherzigkeit. Ich sterbe hier so allein. Sie sind eine feine Frau, und ich weiß, mit welchen Gefühlen Sie mich betrachten müssen. Aber Sie werden sich an mich gewöhnen. Ich will Sie nicht kränken. Ich werde nicht fluchen. Ich werde nichts über Ihre Kusine sagen. Ich will mich nüchtern halten. Aber bitte, kommen Sie. Sie sind ein gutes Weib. Bob sagte das immer, und vielleicht retten Sie mich vor dem Untergang. Sagen Sie, daß Sie kommen.«

»Wenn Sie es ausdrücklich wünschen, werde ich es tun«, sagte Marian, ohne ihren Widerwillen zu verbergen.

»Natürlich ist es für Sie besser, wenn Sie nicht kommen«, sagte Susanna zaghaft.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen wenig nützen.«

»Oh, deswegen – mir kann wohl keiner mehr helfen. Aber es ist hart, hier eingeschlossen zu sein und mit niemand sprechen zu können außer mit Eliza. Aber handeln Sie nach Ihrem Gutdünken. Ich habe es auch getan und muß die Folgen tragen. Nur eins sagen Sie mir. Haben Sie mich zufällig getroffen?«

»Ganz zufällig.«

»Das ist seltsam.« Susanna stöhnte wieder, als sie sich vom Sofa erhob. »Nun, da Sie nichts mit mir zu tun haben wollen, leben Sie wohl. Sie haben ganz recht.«

»Ich werde Sie besuchen. Ich möchte Sie nicht verlassen, jetzt, da Sie in der Not sind.«

»Ja, tun Sie es«, sagte Susanna eifrig und drückte Marians Hand mit ihrer feuchten Handfläche. »Wir werden besser miteinander auskommen als Sie denken. Ich habe Sie gerne, und ich werde sorgen, daß Sie mich auch gerne haben. Wenn ich nur zwei Tage nüchtern bleiben könnte, ich wäre nicht ein bißchen widerwärtig. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Marian und überwand ihren Widerwillen gegen Susannes Hand, indem sie sie drückte. »Denken Sie daran, ich heiße hier Mistreß Forster.«

»Ja, gewiß. Gute Nacht und vielen Dank. Sie werden es nie bereuen, daß Sie Mitgefühl mit mir gehabt haben.«

»Wollen Sie nicht eine Kerze nehmen?«

»Ich brauche keine. Was ich will, finde ich im Dunkeln.«

Sie ging in ihr Zimmer. Marian eilte schnell in ihr eigenes Schlafzimmer und schloß sich ein. Ihr anfänglicher Ekel vor Susanna war einem mitleidigen Gefühl gewichen, aber sie empfand es doch als bittere Demütigung, daß sie sich vor einem solchen Weibe als untreue Gattin bekennen mußte. Sie schlief ein und träumte, sie sei unverheiratet und wieder zu Hause bei ihrem Vater, und der Haushalt würde durch Susanna gestört, die oben in einem Zimmer wohnte.


 << zurück weiter >>