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Zwanzigstes Kapitel

Miß McQuench verbrachte den Weihnachtsmorgen in ihrem Wohnzimmer mit dem Lesen eines Briefes, der mit der Morgenpost gekommen war, und einiger Wochenzeitschriften. Von den Klatschgeschichten, die den größten Teil der Zeitschriften ausfüllten, merkte sie sich für späteres Studieren folgendes an:

Mrs. Conolly ist also tapfer durchgebrannt. Einige unserer Leser werden sich ihrer als Diana erinnern in den lebenden Bildern beim Grafen von Sunbury vor einigen Jahren. Sie hätte damals eigentlich die Flora oder die Ceres spielen sollen, aber eine andere junge (?) Dame, deren Namen ich nicht zu nennen brauche, wurde ausgewählt, das Füllhorn zu tragen. So gab also Diana, die entzückend verkörpert wurde, nach.

*

Endymion war übrigens ein großer Held in Oxford. Einer seiner Lehrer erzählte mir einmal, er würde nie etwas durchführen, weil sein Zartgefühl immer mit ihm durchgehe. Jetzt ist zufälligerweise Endymion mit seinem Zartgefühl durchgegangen.

*

Große Entdecker haben immer Unglück in ihren häuslichen Angelegenheiten. Das unvergleichliche Genie, das uns so manchen Schatz beschert hat – bekanntlich auch den Elektromotor, der die Aktien einer gewissen Gesellschaft auf 300 gebracht hat –, bildet keine Ausnahme von der Regel. Das elektrische Licht seines Herdes ist erloschen. Glücklicherweise ist er an Schicksalsschläge gewöhnt, und er wird es überleben, wenn er sich nur den glücklichen Betrüger vom Leibe hält. Sholto D – ist schnell bereit mit der Pistole und hat einmal während seines Newdigatejahres eine Sache in Paris gehabt. Es geht das Gerücht, daß der vorsichtige Erfinder in Stahl und Leder ausgeht und seine Klage beim Scheidungsgericht in einem wirklichen Blechpanzer vorbringen will.

*

Miß McQuench, wütend über die Schreiber dieser Zeilen, warf die Blätter ungeduldig fort und nahm den Brief zur Hand. Er war aus Neuyork und datierte vom l5. Dezember. Die Überschrift fehlte. Es war das eine alte Sitte zwischen Marian und ihrer Kusine. In ihrer Mädchenzeit hatten sie ihre gegenseitige Zuneigung durch Anreden wie »Meine liebe Marian« oder »Meine teuerste Nelly« ausgedrückt. Später gefielen ihnen solche Umstände nicht mehr, und sie ließen das sein. Darum enthielten ihre Briefe nur die wirklichen Mitteilungen und die Unterschrift.

 

»Du bist der einzige Mensch in England,« schrieb Marian, »dem ich jetzt schreiben darf. Vor einem Monat bekam ich mehr Briefe, als ich beantworten konnte. Weißt Du, Nelly, ich überlegte, bevor ich diesen Brief begann, ob Du wohl überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben wolltest. Ein solcher Gedanke mag einer Freundin unwürdig gewesen sein, aber als Weib konnte ich nicht daran vorbeikommen.

Und jetzt kommt die große zwecklose Frage: Was sagen die Leute darüber? Oh, könnte ich doch meinen Körper verlassen, auf wenige Stunden nach London zurückfliegen und ungesehen dem lauschen, was die Gesellschaft über mich spricht. Ich weiß, das ist gewöhnlich, aber man muß das Leben mit solcher gewöhnlichen Neugierde ausfüllen. Darum erzähle mir bitte, was für eine Sensation ich erregt habe. Ich glaube, es wird gerade wie immer gewesen sein. Die Hälfte der Leute würde es nie geglaubt haben, und die andere Hälfte hatte es schon längst kommen gesehen. Nun, ich mache mir im allgemeinen nicht viel aus der Welt, aber mein Gewissen läßt mir wegen meines Vaters und Georges wegen keine Ruhe. Es muß sehr hart für meinen Vater sein, nachdem er durch meine Heirat so enttäuscht war und viel früher schon durch meine Mutter gelitten hatte, daß er jetzt durch seine Tochter entehrt wird. Denn entehrt ist leider das richtige Wort. Ich fürchte, durch den Skandal, der, wie ich wohl weiß, schrecklich sein muß, werden auch die Aussichten des armen George vernichtet. Ich glaubte, meine erste Pflicht sei, auf alle Fälle Ned und mich selbst frei zu machen, und darum dachte ich gar nicht so an die Gefühle und Interessen meiner Angehörigen, wie es vielleicht recht gewesen wäre. Besonders wegen eines Punktes mache ich mir viele Sorgen. Nie habe ich vor meiner Flucht daran gedacht, die Leute könnten Ned die Schuld zuschieben und sagen, er habe mich schlecht behandelt. Du mußt dem mit aller Macht und Schärfe entgegentreten, wenn es auch nur angedeutet wird.

Es hat keinen Zweck, Nelly, ein Bekenntnis noch länger zurückzuhalten: ich habe mir selbst den allerschlimmsten Streich gespielt. Ich wollte, ich wäre wieder an Neds Seite. So! Was hältst du nun davon? Und solch eine Kleinigkeit würde mich vielleicht gerettet haben. Ich meine nicht ein gutes Wort von Ned oder eine Liebkosung oder einen ähnlichen Unsinn: das hatte ich alles! Was ich brauchte, war eine gute Tennispartie oder ein langer Spaziergang, um meinen Kopf frei zu machen. Die Reise nach Neuyork hat das zur Genüge getan, und ich sehe jetzt klar genug, wie außerordentlich gut ich es vor einem Monat hatte, als mir mein Leben unerträglich vorkam. Warum gingen wir an dem Samstagnachmittag, statt uns zu zanken, nicht lieber aus und warfen mit Steinen nach einer Flasche oder spielten mit den Krockethämmern Kricket, wie wir es in Wiltshire taten? Hätte Simonton den Othello gut gespielt oder wäre da nachher ein flotter Schwank gefolgt, ich würde, glaube ich, aus meinem krankhaften Traum erwacht sein. Aber die ganze Vorstellung war unbeschreiblich öde, und ich kam nach Hause ohne einen Strahl von Hoffnung. Wunderst Du Dich nicht über die kühle Art, mit der ich über mich selbst schreibe? Ich habe, scheint es, in den letzten zwei Wochen auf geistigem Gebiete einen entscheidenden Fortschritt gemacht, oder ich habe vielmehr ein Hindernis überwunden, das mich bisher verhinderte, richtig zu sehen. Eine Folge davon ist, daß ich jetzt anfange, Ned besser zu verstehen. Doch ich kann mir wohl kaum dazu Glück wünschen, daß ich jetzt anfange, richtig zu gehen, gerade da ich mich für immer auf einen verkehrten Weg begeben habe.

Jetzt noch ein anderes schwerwiegendes Bekenntnis, und das beschämendste. Sholto ist ein – ich weiß nicht, was das passende Wort ist. Ich glaube, ich habe kein Recht, ihn einen Betrüger zu nennen, einfach, weil wir töricht genug waren, ihn zu überschätzen! Aber ich kann es mir jetzt kaum noch vorstellen, daß wir wirklich glaubten, große Fähigkeiten und Kräfte seien hinter seiner stolzen Zurückhaltung verborgen. Ich weiß, Ned hat nie an Sholto geglaubt, und ich in meiner unendlichen Weisheit bildete mir ein, er verstände ihn nicht. Ned hatte wie gewöhnlich recht. Wenn Du sehen willst, wie selbstsüchtig Leute sind und wie oberflächlich die gesellschaftliche Höflichkeit ist, dann mache mit ihnen eine Seereise. Nimm einen Haufen dieser feinen Menschen, die Du bei einem Diner oder bei einem Empfang kennengelernt hast, und laß sie mit Dir eine Woche lang Tag und Nacht in ein Schiff eingepfercht sein. Ein Ozeandampfer ist wie ein Tempel der Wahrheit, der arme Sholto bestand nicht die Probe. Er stach in seinem Benehmen in lächerlicher Weise von den übrigen Passagieren ab, und in Kleinigkeiten bei Tisch und so fort war er so selbstsüchtig, wie er nur sein konnte. Er war ungeduldig, weil ich während der ersten zwei Tage krank war, und nachher schien er zu glauben, ich dürfte mit niemand außer ihm sprechen. Besonders hatte er es auf den Doktor abgesehen, der gegen mich sehr aufmerksam war. Seinetwegen hatten wir auch unsern ersten Streit, dessen Folge eine Auseinandersetzung zwischen den beiden war, die ich mit anhörte. Es war ein schöner Tag, und alle Passagiere befanden sich an Deck. Sholto traf den Doktor im Salon und bot ihm eine Guinee für seine Mühe an. In beleidigendster Höflichkeit sagte er ihm dabei, ich würde ihn nicht mehr wegen weiterer Dienste belästigen. Der Doktor antwortete sehr kurz und schlagend, wenn auch das, was er sagte, nicht sehr förmlich war. Ich nahm innerlich seine Partei und behandelte ihn absichtlich beim Essen sehr freundlich. (An Bord gibt es alle zehn Minuten eine neue Mahlzeit, und es ist ganz schrecklich zu sehen, welch eine Menge Essen manche alte Leute verschlingen.) Damit aber fernerhin kein Streit mehr vorkam, sorgte ich immer dafür, daß ich im Wege war, wenn der Doktor und Sholto sich trafen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Ned sich in solch ein jämmerliches Gezanke einlassen könnte. Es ist seltsam, wie man seine Ansicht ändert. Ich war überzeugt von Sholtos Genie und hielt viel davon. Andererseits glaubte ich aber auch an Neds Genie und hielt nichts davon. Nun habe ich in kaum vierzehn Tagen herausgefunden, daß wir an Sholto alles sahen, was da überhaupt zu sehen war. Seine verborgenen Fähigkeiten existierten nur in unserer Einbildung. Er hat absolut kein Gefühl für Humor und murrt beständig. Weder die Bedienung, noch das Essen, noch das Zimmer, noch der Wein genügen ihm. Du kannst Dir vorstellen, wie das auf mich wirkt, die ich zwei Jahre lang kein Murren mehr gehört habe und nicht mehr wußte, daß Männer dazu imstande seien. Ich kokettierte ein wenig, wirklich sehr wenig, mit dem Doktor. Nicht weil es mir ernst war, sondern weil es mir Vergnügen machte und den Reiz der Reise erhöhte. Sholto kann so etwas nicht verstehen. Ich war einmal an Bord so neugierig, Sholto nach dem Zweck eines Maschinenteils zu fragen, der zu dem Schiff gehörte. Ned hätte es gewußt oder wenigstens den Zweck bald genug herausgefunden. Sholto wußte es nicht, war aber erbärmlich genug, sich zu stellen, als wüßte er es. Deshalb fertigte er mich damit ab, ich könnte es doch nicht verstehen. Dies machte mich hitzig, und ich fragte nachmittags den Arzt danach. Der Arzt wußte das auch nicht, und er gab das auch gleich zu. Aber er holte den ersten Offizier herbei, der es mir erklärte. Ich hätte mich gerne an Sholto gerächt, indem ich ihm am nächsten Tage die Erklärung ausführlich wiedergab, aber unglücklicherweise – ich weiß nicht, ob es der unklare Bericht des Offiziers oder meine eigene Dummheit tat – nach der Erklärung verstand ich genau soviel wie vorher.

Ich kann Dir noch gar nichts darüber sagen, was wir wahrscheinlich in der nächsten Zeit tun werden. Da Sholto meinetwegen alle seine Aussichten aufgegeben hat, so kann ich ihn anstandshalber nicht verlassen. Ich weiß jetzt, daß ich mich zwecklos zugrunde gerichtet habe, und muß jetzt wenigstens versuchen, ihm zu verbergen, daß er es ebenso gemacht hat. Ich glaube nicht, daß er glücklich ist. Aber er gibt sich solche verzweifelte Mühe, sich das einzureden, und hängt so an dem Glauben, für mich sei alles in der Welt verloren, daß ich ihn nicht enttäuschen kann. So lieben wir uns also noch, und so spöttisch das klingt, ich mache ihn gerade durch meine Unaufrichtigkeit viel glücklicher, als wenn ich ihn wirklich mit Leidenschaft liebte. Er dagegen, bei seiner Aufrichtigkeit, reizt durch seine Eifersucht und sein Ungestüm meine Geduld aufs äußerste. Da er nichts zu tun hat, ist er fast immer bei mir. Und ein Mann, der in kein Geschäft zu gehen braucht – es ist gleichgültig, wer er sonst ist –, ist eine Qual, von der Du Dir keine Vorstellung machst. Soviel über unsere augenblicklichen Beziehungen. Aber ich fürchte – oder besser, ich weiß es –, daß es nicht mehr lange dauern wird. Ich darf nicht ernsthaft in die Zukunft blicken. Trotz allem, was er für mich geopfert hat, kann ich nicht für immer mit ihm leben. Mitunter flößt er mir einen solchen rasenden Abscheu, eine solche Verachtung ein, daß ich mich mit aller Gewalt beherrschen muß, um ihm nicht meine Gefühle zu verraten. Wir wollten von hier direkt nach Westindien gehen und uns einen idyllischen Zufluchtsort suchen, wo wir allein miteinander leben konnten. Er hängt noch an seinem Plan, aber da ich ihn vollständig aufgegeben habe, überrede ich ihn unter allerlei Vorwänden, noch hierzubleiben, sobald er die Reise erwähnt. Ich habe nur noch eine Hoffnung, meine Freiheit von ihm zu erlangen, ohne daß ich mir vorzuwerfen brauche, ich hätte ihn verlassen. Du erinnerst Dich unseres Gesprächs über den Wert einer großen Leidenschaft, nach der ich so töricht verlangte. Ja, ich habe sie versucht und gefunden, daß sie eine jämmerliche Täuschung ist, daß nur Selbstsucht, Trotz, Verblendung, Genußsucht und Wankelmut dahinter steckt. Wie sie bei mir vergangen ist, so wird sie auch mit der Zeit bei Sholto vergehen. Es würde jetzt schon dazu gekommen sein, aber seine Liebe war echter als meine. Wenn es aber soweit ist, dann wird er mich ohne die geringsten Gewissensbisse verlassen, und hat dann keinen Grund, seine alten Klagen über meine Treulosigkeit zu wiederholen.

Eine neue und sehr angenehme Erfahrung in meinem Leben, auf die ich mich schon zum Teil gefaßt gemacht hatte, ist die Furcht vor einer Entdeckung. Wir fuhren ab, bevor unsere Flucht bekannt wurde, und es war glücklicherweise niemand an Bord, der uns kannte. Ich hatte neun Tage Frist und konnte mich ruhig andern Frauen nähern, die wohl kaum mit mir gesprochen hätten, wenn sie die Wahrheit gewußt hätten. Aber hier ist es anders. Neds Erfindungen werden hier viel mehr angewendet als in England, und die Leute interessieren sich sehr für ihn und sind stolz, weil er ein Amerikaner ist. Einige Tage nach unserer Ankunft kam die Nachricht in die Blätter. Um Dir ganz klarzumachen, was das heißt, müßtest Du die amerikanischen Zeitungen kennen. Eine brachte dieser Tage einen langen Bericht über meine Flucht, jeden Absatz mit einer fettgedruckten Überschrift – Häusliches Ungemach, Die Schlange im Laboratorium, Die Verführung, Die Flucht, Die Verfolgung und so weiter –, alles natürlich erfunden. Andere Blätter geben die unglaublichsten Erzählungen. Alte Anekdoten werden aufgefrischt und uns zugeschoben. Ich soll ihm die Haare ausgerissen haben und spät in der Nacht betrunken nach Hause gekommen sein. Zwei Bilder von abscheulichen alten Weibern habe ich gesehen, die Neds Schwiegermutter vorstellen. Die neueste Version erschien in einem Sonntagsblatt und ist hier im Hotel sehr beliebt. Danach hatte Ned die Gewohnheit, mich ›der Wissenschaft zu weihen‹, indem er elektrische Experimente an mir machte. Das war, wie der Bericht sagt, ›etwas stark für das arme Weib‹. Den Tag, bevor ich ›durchbrannte‹, erschien eine neue Maschine vor dem Hause, die von sechs Pferden gezogen wurde. ›Was bringen die Kerle da für einen Blödsinn an, Mister C.?‹ fragte ich. ›Die neueste Erfindung von deinem Männchen‹, antwortete Ned. ›Ich wette, es ist die beste elektrodynamische Maschine der Welt. Wenn diese Batterie mit einer Kanne Soda gefüllt wird, kannst du einen Strom erzeugen, der einen Erdteil erzittern macht. Du sollst morgen eine Probe bekommen, alte Sarah. Du bist besser daran gewöhnt als die meisten Englishmen, aber wenn dir nicht die Haare zu Berge stehen und die Funken aus den Augenlidern springen –‹ ›Verlaß dich drauf, Mister C., ich tu es nicht‹, sagte ich. In der folgenden Nacht (ich folge natürlich dem Bericht der Zeitung) stahl ich mich aus dem Bett, brachte die Drähte rechts und links von Ned so an, daß er bei der geringsten Bewegung den Kontakt herbeiführte und lud die Batterie. Dann weckte ich ihn sanft auf und sagte: ›Lieber Mister C., wenn dir dein Leben lieb ist, dann rühre dich nicht. Was da deinen Backenbart berührt, sind die Konduktoren von deiner neuen Patentmaschine. Wenn ich an deiner Stelle wäre, bliebe ich ruhig liegen, bis die Maschine abgelaufen ist.‹ ›Verdammte Geschichte,‹ sagte Ned und wagte kaum die Lippen zu bewegen, während ihm der kalte Schweiß die Stirne herunterlief, ›sie ist in einer Woche noch nicht abgelaufen.‹ ›Das paßt mir prächtig‹, antwortete ich. ›Adieu, Mister C. Der junge Douglas aus dem Eckladen wartet in der Allee auf mich mit einem Wagen.‹ Ich muß immer über diese Dinge lachen, aber Douglas wird dadurch rasend. Er wird stets darin als ein junger Mann aus einem Krämerladen beschrieben. Er ist so empfindlich, daß er sich alle Mühe gibt, diese Blätter von mir fernzuhalten. Aber ich höre beim Frühstück davon und kaufe sie mir dann unten in der Vorhalle. Ein weiterer Schmerz für Douglas ist es, daß ich nicht auf dem Zimmer essen will. Aber mein Widerwille, immer mit ihm allein zu sein, ist größer als meine Angst vor einer Entdeckung, und daß es eines Morgens auf den Gesichtern der Leute zu lesen ist, die Mistreß Forster, der man so oft einen ausführlichen Bericht über den großen Skandal gegeben hat, ist niemand anders als die berühmte Mistreß Conolly. Früher oder später wird es ja dazu kommen, aber ich will es lieber in einem dieser wundervollen Hotels erwarten als in einem Boardinghaus, in dem man mir vielleicht die Türe weist. Wir könnten ein Haus für uns nehmen, aber ich will mich nicht so festbinden. Wir fallen genug auf. Sholto ist natürlich hübsch und elegant, und für mich haben die Leute dieselbe Vorliebe wie früher. Sonst war ich stolz darauf, jetzt ist es mir eine Last. So hielt sich zum Beispiel eine Mistreß Crawford hier auf mit ihrem Mann, einem General, der sich hier gerade ein Haus gebaut hat. Sie drängte mir so sehr ihre Bekanntschaft auf, daß ich mich ihrer kaum erwehren konnte, ohne sie zu beleidigen. Schließlich erkrankte sie, und ich fühlte mich verpflichtet, sie zu pflegen. Sholto war sehr unzufrieden darüber und fragte mich, ob das meine Sache wäre. Ich machte mir nichts aus seinem Ärger, und Mistreß Crawford war in zwei Tagen wieder gesund. Ich glaube tatsächlich, Sholto hatte mit seiner Ansicht recht, und sie hatte nur zuviel gegessen. Von da ab konnte ich ihr nicht länger ausweichen, und sie war außerordentlich freundlich gegen mich. Sie wollte mich bei allen ihren Neuyorker Bekannten einführen und bat mich, aus dem Hotel in ihre neue Wohnung zu ziehen. Es sei genügend Platz da, sagte sie. Ich war sehr in Verlegenheit. Ich konnte nicht zum Dank für ihre Freundlichkeit unter falschem Namen in ihr Haus gehen und mich in ihre Bekanntenkreise einführen lassen, aber ich fand auch keine vernünftige Entschuldigung. Da sie schließlich meine Weigerung meinem Stolz zuschrieb, erzählte ich ihr offen, wenn ihre Freunde zufällig meine Geschichte erführen, würden sie ihr wenig Dank für meine Einführung wissen. Sie war ganz bestürzt, aber sie ließ in ihrer Freundlichkeit nicht im geringsten nach, obgleich mein Mangel an Zutrauen, da ich ja die Wahrheit nur angedeutet hatte, sie zurückschreckte. Du wirst das für eine törichte Unbesonnenheit halten, aber wenn Du wüßtest, wie oft ich schon danach verlangt habe, offen vor die Leute hinzutreten und die Wahrheit zu bekennen, Du würdest Dich darüber nicht so sehr verwundern. Die amerikanischen Frauen, besonders die jüngeren, haben so viel mehr Freiheit als die englischen Mädchen, daß sie ihnen an Geschmack und wirklichem Feingefühl überlegen sind. Es gilt hier nicht wie in England als das höchste Vergnügen, in der Gesellschaft Skandal aufzurühren. Natürlich gebe ich nur meine flüchtigen Eindrücke wieder. Wenn ich die Verhältnisse so kennte wie in London, würde ich vielleicht finden, daß die menschliche Natur hier genau so ist wie überall. Aber eine gute Seite haben jedenfalls die amerikanischen Gesetze. Man kann sich ganz leicht scheiden lassen. Man braucht nicht erst alles bis auf das nackte Dasein zu opfern, um freizuwerden. Es ist mir gleichgültig, ob andere Menschen das Gegenteil denken, ich halte unsere Ehegesetze für schmachvoll.

Ich sehne mich sehr nach einer baldigen Antwort von Dir. Wenn Du mich verläßt, Nelly, dann gibt es keine Freundschaft auf der Welt. Ich möchte besonders wissen – soweit Dir das bekannt ist –, was Ned tat, als er es erfuhr. Ist Papa sehr böse? Und vor allem, kannst Du erfahren, wie es Mistreß Douglas geht? Ich glaube, Sholto hat ihretwegen Kummer oder Gewissensbisse, und was mich angeht, wenn ich an sie gedacht hätte, ich wäre vor allem zurückgeschreckt. Ihre Gefühle sind mir niemals auch nur in den Sinn gekommen, ich hatte sie tatsächlich vergessen. Ja, so selbstsüchtig bin ich gewesen. Ich schmeichelte mir immer, ich sei so rücksichtsvoll gegen andere, weil ich die Gewohnheit hatte – eine verächtliche, eingebildete Gewohnheit –, in Kleinigkeiten nachgiebig zu sein. Und jetzt nach all der eitlen Rücksicht auf die augenblickliche Zufriedenheit meiner Angehörigen habe ich sie vollständig vergessen und nur an mich selbst gedacht, als ihr ganzes Glück auf dem Spiele stand. Ich wußte nie, wie hoch ich in meiner eigenen Wertschätzung stand, bis ich einsah, wie tief ich nach der Entdeckung meiner Torheit und Selbstsucht gefallen war. Erzähle mir alles. Ich kann jetzt nicht mehr schreiben, meine Augen tun mir weh. Mir ist es, als hätte ich einen ganzen Monat anstatt der zwei Tage geschrieben. Adieu für drei Wochen.

Marian.

PS. Soeben ersehe ich aus einer sehr strengen Kritik in einer Zeitung, daß Mlle. Lalage Virtue hier einen vollständigen Mißerfolg gehabt hat. Nach dem Wortlaut der Kritik scheint es, daß man ihre unglückselige Gewohnheit bei der Vorstellung bemerken konnte.«


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