Willy Seidel
Schattenpuppen
Willy Seidel

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Fazit

»Du kommst spät heute, mein Lieber,« begrüßt Nora ihn aus ihrer Kaminecke heraus. »Und doch ist heute ein wichtiger Tag.«

»So?« fragt er mit tonloser Stimme, auf halbem Weg über den Teppich. – »So?«

»Morgen unterschreiben wir beim Notar. – Es wäre da vorher noch einiges Wichtige, was uns betrifft . . .«

Er sitzt ihr gegenüber. – »Du mußt verzeihen, Nora; ich wurde verhindert früher zu kommen.«

»Gib mir doch wenigstens die Hand!«

Er reicht sie hinüber. Sie ist kraftlos, kalt und feucht.

»Du hast gebummelt, mein Lieber,« sagt sie mit munterem Vorwurf. »Auch an den Augen sieht man es dir an. Ist das die Verhinderung?«

»Ja,« sagt Kehmerdill. »Und vermutlich ein Dauerkater.«

»Was soll das heißen?« – Sie wird aufmerksam.

»Das soll heißen, daß ich deiner nicht wert bin.«

»Was ist das jetzt wieder für ein Unsinn!« – – Plötzlich, mit kleinerer Stimme: »Du hast Kokain gekommen.«

247 »Ja.« –

Sie zieht die Kette, Perle nach Perle durch die Lippen. Sie sieht ihn grübelnd an; sie schweigt. – Endlich sagt sie mit zuckendem Mund:

»Du hast dein Versprechen gebrochen. – Doch du lebst jetzt allein, im Hotel. Bald leben wir zusammen. Dann wird es dir schwerer fallen, untreu zu werden. Du bist schwach in diesem Punkt! Indien hat dich geschwächt. Wir versuchen dann beide – nicht wahr, Otto? – ob wir dieser scheußlichen Sache nicht Herr werden . . . Und wenn auch das nichts hilft, wenn die Entwöhnung dich zu sehr herunterbringt . . . Es gibt ja Sanatorien, wo man das machen kann . . .« Sie redet weiter, mit Tränen in der Stimme. Immer dieselben Worte wiederholt sie aus ihrer Angst heraus . . .

Sein Kopf ist nach vorn gefallen.

»Nora,« sagt er, »– es ist nicht nur das Kokain.«

»Und was ist es sonst? Was kann es denn sein? Hab' doch Vertrauen, Otto; sag mir's . . . Du bist so seltsam verändert; ich fürchte mich fast vor dir . . .«

»Es ist Angst,« sagt er und hebt plötzlich den Kopf. Sein Zeigefinger streckt sich dozierend; seine Stirnhaut schiebt sich empor. »Angst vor einem Besuch

»Eine Erpressung, Otto? – Etwas von früher?«

»Keine Erpressung,« sagt er mit eigentümlichem Akzent auf jeder Silbe. »Damit würde man leicht fertig. Aber du weißt vielleicht, was weiße Ameisen sind.«

Redet er irr? Sie weicht etwas zurück; sie beobachtet ihn.

248 »Denke nicht, ich flunkere. Als du mir damals auf dem Tjibodas . . . (trugst du nicht ein Hütchen aus Kolibrifedern? Ich hab' ein Gedächtnis für solche Einzelheiten) . . . also als du mir deinen Bericht gabst, was Erdbrink sich mit dir leistete . . .«

»Schweig doch. Otto! Warum wühlst du jetzt darin!«

»Sei nicht böse, Nora. Als wir damals plauderten, fiel hinter uns ein Baum um. Ein haushoher Baum, fast hundertjährig. Es gab mächtiges Getöse. Man hatte ihm gar nichts angemerkt. So ein Baum steilt seine stolze Form empor; plötzlich platzt er und überschüttet alles mit einer Kaskade von verwestem Holz. Mit Häusern geht es dort so; mit Möbeln . . . und auch mit Menschen! Glatt aufgefressen! Sie merken es oft selbst nicht einmal! Manchmal merken sie es aber, und dann ist es zu spät; dann gibt es niemanden und nichts, was ihren Sturz aufhält

»Nimm Tee, Otto. Beruhige dich doch! Bildest du dir ein, du seiest solch ein Baum? Vielleicht können wir doch noch einen schönen Ableger aus dir züchten!«

»Meinst du?« fragt er mit leerer Stimme, immer noch mit dieser dozierenden Haltung. »Das wollen wir dahinstellen! Aber . . . du kannst die Angst vor dem Besuch nicht beseitigen!«

»Ja, um Himmels willen . . . wessen denn?!«

»Er kann jede Nacht wiederkommen . . .« In seinem Blick ist das Flackern eines Gehetzten. »Er wird dann immer behaupten, ich sei schuld! Und ich kann ihn nicht widerlegen!« stöhnt er auf . . . »Ich bin 249 schuld! Schuld daran, daß Heyermans aus die gemeinste, die hinterlistigste, die erbärmlichste Weise ums Leben gekommen ist! – – Hier, lies!« – –

Er reißt die Briefe heraus und reicht sie ihr. Dann springt er auf und vollführt, während sie liest, eine irre Zickzackwanderung durch das ganze Gemach.


»Der Ärmste,« sagt auf einmal die kleine Stimme. Tränenspuren verzweigen sich auf ihren Wangen. »Das ist furchtbar . . .«

Er hört am Rascheln der Blätter, daß sie zu Ende ist. Sie sitzt da und sieht ihn stumpf an. Endlich sagt sie tonlos:

»Ich kann dich frei sprechen, Otto. Du bist nicht schuld! Es ist sehr verwickelt! Aber ob du es hättest verhindern können? Die Ursache ist doch klar! Was deutet da auf dich?«

»Begreifst du nicht?« – Er gestikuliert und stößt die Worte keuchend hervor . . . »Ich, ich selbst bin schuld daran!! Ich habe ihn hineingezogen in mein trübes Dasein, und der gesunde große Mensch wollte mir helfen und machte es falsch! Er konnte nicht anders, denn er war ohne Falsch! Er war diesem Sumpf nicht gewachsen, den man Indien nennt; diesem Sumpf aus verfälschtem Blut, halben Wahrheiten, glatten Phrasen, anrüchigen Praktiken . . . Ich konnte mein Bein herausziehen, er nicht!! Er hat es gut gemeint; aber letzten Endes hat ihn die Freundschaft zu mir geliefert! Ich habe für das Land Partei ergriffen; mit billiger, charakterloser Neutralität trieb ich mich im Indolager herum . . . Alles wollte ich; 250 ›Gegensätze überbrücken‹ wollte ich an meinem Tisch; ich setzte den Mischling neben den Javanen und den Europäer . . . Was kam dabei heraus? Was entstand? Ein Schwall von faulem Parfüm; Scheinbehagen schlimmster Sorte; ein Wellchen im Sumpf . . . Ein Giftmord!«

»Du glaubtest an Menschen. Mach' dich nicht schlecht.«

»Ich mache mich nicht schlecht. Ich bin schlecht. Ich passe herrlich in jene Gesellschaft. Idealismus ist da ein Verbrechen. Man dient sich nicht damit; es ist falsche Chemie. Heyermans war anders. Der wollte keine Kompromisse. Er war gerecht und harmlos. Seine Schlauheit war keine Verschmitztheit; sein Herz war schlau.«

Die Stimme versagt ihm.

»Er wußte um mich Bescheid, Nora. Vielleicht so gut wie du. Aber bei ihm war ich's nicht wert, und bei dir noch weniger. Ich kann nicht zurück. Es ist zu spät. Du verschwendest dich. Auch ich bin ausgefressen, bin nur noch meine Form . . . Verstehst du das?«

»Es ist nicht so! Du bist verrückt! Es ist nicht so!«

»Doch!!« – eifert er. – »Es ist so! Ausgehöhlt bin ich! Eine wandelnde Verlogenheit! Der Motor hat abgeschnappt, der Zünder versagt! Niemand kann mir helfen!«

Sie tut einige Schritte nach vorn, dann hält sie an einem Sessel an und gleitet in halber Ohnmacht darauf nieder . . .

Singend steigt ihr Weinen auf im Raum. Er zuckt 251 zusammen und lauscht auf, als höre er einen Vogel. Langsam wiegt er den Kopf, in sein Gesicht tritt ein Zug von schlimmer Ekstase.

Auf den Fußspitzen nähert er sich ihr.

»Sei nicht bös, kleine Nora!« flüstert er. »Nun, nun!«

Er tappt mit der Hand nach ihrem Nacken. Es ist große Verwunderung darin und Hilflosigkeit, wie er sie betrachtet.

Plötzlich irren seine Augen ab und bohren sich auf den Teppich. Liegt dort nicht eine Gestalt? Ja, bei Gott! dort liegt Heyermans! Der zerrt mit beiden Händen das Hemd von der Brust, und wieder öffnet es sich, dies grauenhafte Loch, dies absolute Nichts . . . und die entfärbten Lippen flüstern: »Mach' sie glücklich . . . die kleine Person . . .«

Er kreischt und taumelt nach der Tür.

Hinter ihm verklingt das Schwirren einer zersprungenen Saite.

 

Wie lange sie so, auf den Stuhl hingeschleudert, liegt, weiß sie nicht. Ihr ist, als habe man vor ihr eine Tür zugeschmettert; – als sitze der Hall davon ihr noch im Ohr wie eine Wunde.

Sie ist betrogen; – ausgeliefert an die Verneinung alles Menschlichen; – nun ist ihr das Letzte unter den Füßen weggerissen.

Sie sieht nun, sie kann ihm nicht helfen. Dieser Mann ist verloren. Sie sieht, sie kann sich selbst nicht helfen; er reißt sie mit in seinen Sturz, in seine 252 Umnachtung; – – sie hat ihm ja alles gegeben; restlos alles, was sie noch zu vergeben hatte . . .

Da fühlt sie sich von einer großen warmen Hand an der Schulter berührt.

Erdbrink steht hinter ihr.

»Ich sah ihn fortlaufen, den – armen Kerl . . .« murmelt er, mit der alten grabenden Trauer in den grauen Augen. – – »Was gibt es, Nora?«

Ganz langsam hebt sie den Kopf und sieht ihn leer an. –

Dann spricht sie tonlos: »Verloren.«

Er bückt sich und hebt sie behutsam auf.

Dann bettet er sie mit einer ihr völlig neuen und unbekannten Bewegung an seine Brust.

Sie begreift ihn dumpf. – Sie überläßt sich ihm wie ein Kind, das nach einem langen Alpdruck die Heimat eines Armes um sich spürt.

 

Ende


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