Willy Seidel
Schattenpuppen
Willy Seidel

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Flucht

»Gut, Doktor, daß du pünktlich zur Stelle bist. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ich das Bureauschwänzen bemänteln soll. Die einzige Ausrede, flau genug, wäre: »Gefälligkeiten für einen Kapitalgewaltigen . . .« Ich fürchte, ich hole mir doch einmal den Schnupfen bei diesem Portierdienst an der ›Porte-ouverte‹.«

Diese Äußerung tut Heyermans in den Motorkasten seines Fiat hinein, den er mit Hilfe Darmawans, seines Chauffeurs, auf Schäden hin gründlich inspiziert. Er läßt ihn aufschnurren und zündet ab. Puterrot im Gesicht fährt er fort, sich mit seinem Hintergrund zu unterhalten.

»Du siehst, ich gebe mir Mühe für diesen Trip . . . Vielleicht erweist sich das Vehikel noch als sehr brauchbar. Es geht zum Tjibodas, mein Lieber. Ein Berg, auf dem es spuken soll.«

Heyermans ist angeregt. Seine Augen blitzen. Er zieht den Doktor auf die Seite und unterhält sich des längeren mit ihm im Flüsterton. Plötzlich schnellt er herum. Eine kleine zweirädrige Droschke taucht bei der »Allgemeinen Secretarie« auf und hält vor der kleinen Villa Heyermans', die an derselben Straßenseite steht. 101 Das große Gewicht Erdbrinks löst sich unter dem abgeschabten, schwarzen Lederverschlag hervor und gewinnt über die Eisensprosse den Boden. Der Gaul vorn spitzt das Ohr, als fürchte er, von der Deichsel emporgezupft zu werden. Solchermaßen gibt das Gefährt Herrn Erdbrink nach.

Dann federt es zurück und Nora läßt sich heraushelfen. Das in verschwimmenden Farben gehaltene Chiffonkleid steigt dabei bis über das Knie, so daß die breite smaragdgrüne Bandrosette sichtbar wird. Das wundervoll geformte, fleischfarben bestrumpfte Bein schwebt tastend in der Luft; dann springt sie elastisch herab. Sie trägt eine grüne Toque aus Crèpe Georgette mit einer kleinen Agraffe aus kupfernen Kolibrifedern.

»Sie haben, Herr Heyermans,« zwitschert sie, »offenbar noch nicht das nötige Vertrauen zu Ihrem Fiat. Denn ich möchte nicht hoffen, daß Mangel an Galanterie Sie abgehalten hat, uns abzuholen!«

Heyermans pustet; seine blauen Augen blicken mit besinnlichem Wohlwollen auf das erstaunliche Geschöpf herab, das ihn jedesmal, wenn er es sieht, in Verblüffung setzt. Denn sie ist immer anders; man hat das Gefühl, ihre Seele müsse genau so schillern, wie ihre Kleider.

»Mein Fiat war bis jetzt Patient; als er Sie aber kommen sah, Mevrouw, begann er gleich wie eine Katze zu schnurren.« (Vertrackte Farben trägt sie, immer apart; man muß sagen, das ist doch einmal was anderes! Eigentlich hat er recht, dieser Teufelskerl von Doktor, so etwas verspricht mehr 102 Unterhaltung als das Gewöhnliche, was man so in den Hotels sieht.)

Er vergißt fast, auch Erdbrink die Hand zu reichen. Überstürzt holt er es nach.

Kehmerdill, der seiner Figur nach wirkt wie ein Jockei zwischen robusten Trainern, wird von Erdbrink mit einem Händedruck vergewaltigt, der einer Naturgewalt gleicht. – Nur ein ganz kleiner Funke von Überraschung, ihn hier zu sehen, dämmert in den traurigen, farblosen Augen auf.

»Gut, daß Sie also doch ausspannen, Doktor,« sagt er in seinem rollenden, renommierenden Baß. »Hätte das fast nicht erwartet. Tatsache.«

Während er dies spricht, blickt er über Kehmerdills Kopf hinweg ins Leere.

»Na, jeder sucht sich natürlich die Ausspannung, von der er sich am meisten verspricht.«

»Du wirst originell, Paul,« zwitschert Nora. »Übernimm dich nicht.«

»Eine Menge Ausspannung,« spricht Kehmerdill pointiert, »verspreche ich mir hier.«

»Mehr als Ausspannung,« lacht Heyermans sonnig auf. »Kapitale Erholung, hoffen wir, was Doktor?«

Kehmerdill ist etwas bleich und sein Schnurrbart zittert.

»Man erfährt viel Neues . . .«

Man erschöpft sich in Höflichkeiten.

Etwas wie leise Ungeduld meldet sich im Pendeln von Noras Ohrgehängen. Plötzlich wendet sie sich an Kehmerdill und lächelt ihn an, verteufelt gleichgültig gegen die Wirkung dieses Lächelns. »Wie gönne ich 103 Ihnen das, daß Sie jetzt einmal – Mensch sein dürfen!« Darauf dreht sie sich dem Gatten zu. »Er kam uns neulich schon recht abgespannt vor; was, Paul?«

»Erledigt, trotzdem er sich zweimal fürs Tanzen opferte . . . War wacker von ihm. Na, Doktor, und jetzt ist es unsere Sache, Ihnen Mark in die Knochen zu filtern . . .«

»Das ist mir schon zum Teil gelungen,« sagt Koos weich. »Und um abergläubische Leute aufzuheitern, hat ja auch Mevrouws Hütchen die Couleur der Hoffnung.«

Kehmerdill sucht blitzschnell seinen Blick (er muß, wegen der lähmenden Süße jenes Frauenlächelns, heute doppelt so schnell denken, als er's gewohnt ist).

»Ich denke, wir haben es alle nötig, davon zu profitieren.«

So geht es noch eine Weile hin und her, ein Florettgetändel ohne Ernst.

Dann schnurrt das Auto auf: die Gatten im Fond, und vor ihnen, mit einiger Mühe installiert, der langbeinige Heyermans, den furchtbare Gunst der Umstände zwingt, den Druck von Noras Seidenbein zu ertragen; immerhin findet er sich, mit einem kernigen inneren Kompromiß, damit ab. – Vorn neben Darmawan sitzt der Doktor.

 

Der Tjibodas ist ein Hügel, den ein feuerschnaubender Maulwurf in der Urzeit mit Riesenschaufeln aufgeworfen. Eine abgestumpfte rhombische Pyramide, 104 die dem Beschauer die Schmalseite zeigt. Er steigt in der Hochebene von Bantam auf hinter einer Gummiplantage; er ist ein Landweiser ähnlich den gewaltigen Silhouetten der Vulkane und ihren welligen Vorbergen, deren Flanken von Reisterrassen bedeckt sind wie von Wespenwaben.

Der Fiat passiert Brücken, deren Bambuskonstruktion merklich schwankt. Darauf gebettete Bretter klappern scharf hinterdrein. Beim ruckweisen Beschleunigen speit der Auspuff blaue Wölkchen in die grüntröpfelnden Schluchten ziegelroter Erdrisse, die wie Wundränder das Gesicht der Landschaft durchpflügen. Dort bleiben sie schweben und lösen sich langsam, von funkelnden Sonnenflecken durchstochen.

Zwischen Mauern von Pisangstauden geht es dahin; zuckerrohrgedeckte Hütten schlummern hinter Bambustoren von wechselnder Ornamentik. Eine Welle von Hahnengeschrei läuft mit im Schnurren des Wagens. Wie auseinanderspritzende Farbenflecke zerstieben gackernde Hühnergruppen. Blaubehoste Bauern mit geflochtenen Schirmhüten, Lasten schleppend am Rand der Straße, stocken in ihrem elastischen Dauertrab. Ja, sie ist mächtig nah, die Natur; sie nimmt das blitzend dahingewirbelte Spielzeug auf ihren Handteller und betrachtet es mit dem Lichtauge. Die Sonne ist keine Lockung mehr, keine säuselnde Wärme. Sie ist wabernde Lohe. Ein Feuerschwert ist sie, steil in den Bauch der Erde gerammt. Sie glotzt. –

Der grüne Schirm Noras wirft einen Pflanzenschatten auf die Gruppe im Auto. Sie stemmt ihn schief nach vorn des Luftzugs halber. Koos hat die 105 Stimme erhoben, um verständlich zu sein; denn ständig geht es durch Kampoengs, in denen der Schall des Motors blechern rasselnd zurückspringt.

Eingeborene Familien hocken auf schmalen Veranden vor geflochtenen Wänden. Lange Ketten schwarzer Augen, nach derselben Richtung gedrehter Köpfe . . . Zuweilen verklingt ein Schrei hinter ihnen, wie vielstimmiger hohnvoller Triumph. Hunderte von Jahren haben noch nicht vermocht sie gleichgültig zu stimmen gegen den Europäer. Noch immer, in Kind und Kindeskind, schrein sie auf voll boshafter Neugier. Schwer schuftet das braune Volk und sein Schweiß düngt die Scholle. Was erntet es?

Automobile, die stinkend durch seine Dörfer schnurren. Die paar Kupfermünzen seiner matten Arbeitsmuße blinken spöttisch und tanzen in wenigen Nachträuschen davon.

Endlich öffnen sich die Kampoengs; weite Reisebene tut sich auf, bestanden von einzelnen uralten Schattenspendern. Diese stemmen mit ihren verkrümmten sandgelben Ästen schwarze Schirme empor, aus denen schmarotzende Lianen wie Vorhangfetzen herabwimpeln. Rudel von Raubvögeln treiben trillernd im Weißblau. Kraniche heben sich, plumpe Schwingen rührend. Finkenwolken versinken lärmend hinter nächster Bodenschwelle. Speckige Büffel stehen reglos im Schlamm. An leiterförmigen Kapokbäumen hängen Webernester wie aufgereihte Strickbeutel. Ferner, wo die sanften Hänge der Vulkane ins Land hinabschmelzen, ruht dunkler Urwaldteppich, von steilen Rauchfahnen brennender Rodungen gesprenkelt.

106 Wohin man blickt, blüht, keimt, welkt das ewige Sumpfgras, die Brotquelle der Millionen.

Der Tjibodas rückt näher und hebt sein stumpfes Haupt. Schwarz klettert er über eine Plantage junger Gummibäume. Sie entschleiern ihn, hell und blankblättrig, wie eine finstere Mahnung an etwas, das nie zu erobern war. Denn er ist unentweihter Bezirk in all dem hundertfach angeschlürften Boden; er ist noch das Alter der Insel selbst; voll wilder Unschuld.

Darmawan, nach ein paar letzten halsbrecherischen Kurven, stoppt. Der Weg verliert sich auf einer Wiese voll drolliger langohriger Ziegen.

Nora nimmt beim Aussteigen Kehmerdills Hand. Der Duft eines gewissen gelbseidenen Taschentuchs vereinigt sich mit seinem Ursprung, der leise von ihrer ganzen Person ausgeht; das versetzt ihn in sanften Schwindel. Sie schließt den Sonnenschirm, ein kurzes, keulenförmiges Ding, und klemmt ihn unter die Achsel.

Sie ist die erste, die auszuschreiten beginnt, und er hält sich an sie. Erdbrink bleibt zurück, denn es ergibt sich, daß Heyermans (»Regie!«) recht fesselnde Dinge über Kautschuk zu berichten weiß.

Kehmerdill betrachtet Noras Rücken.

Nur unmerklich wölben sich die Hüften hervor. Die Schuhe tragen diesmal niedrigere Absätze. Ihr Gang erscheint wie das Schlendern eines Hirtenjungen.

Heyermans examiniert: »Wie schneidet man den Rubber?«

»Quer durch, was?«

107 »Von links oben nach rechts unten, Mijnheer.« –

Er tritt an ein Bäumchen und demonstriert. Erdbrink tippt an den Aluminiumbecher. Dahinein quillt der Bäumchen fadenziehendes, weißes Blut. Klaglos stehen sie, Reihe an Reihe, und geben ihr Herzblut her.

»Trotz der Schröpfung sind sie ganz gesund,« sagt Nora weiterwandernd. »Es gibt ja auch Menschen, die das nötig haben, um sich wohl zu fühlen.«

»Manchen bekommt es schlecht.«

»Es braucht ja nicht immer Blut zu sein. Auch der Humor läßt sich abzapfen.«

»Durch falsche Behandlung.«

»Billiger Ausdruck

»Sie atmen so hastig. – Gehen wir zu schnell?«

»O nein.«

Sie dreht sich um und wartet.

»Nun sind wir am Eingang dieses verzauberten Berges. Da muß unser Cicerone wohl voran, und er muß galant genug sein, mir diese Ranken aus dem Weg zu räumen. Das Hütchen darf nicht leiden; es hat ein Sündengeld gekostet.«

»Ja,« spricht Erdbrink aus seiner Gummidebatte heraus – »um seiner Frau so etwas zu schenken, muß man ein halber Halsabschneider sein.«

»Man kann sich nicht leicht vorstellen, Mijnheer, daß Sie irgendetwas halb machen . . .« sagt Koos.

 

Von Kalksteinklötzen besät windet sich der Weg vor ihnen empor. Nach einem Präludium von Büschen 108 beginnt das Maestoso des Urwalds. Noch prallt die Sonne herein, färbt längere Strecken mit schattenloser Lohe und zwingt den kleinen Sonnenschirm sein grünes Rad über den nackten weißen Schultern zu drehen.

Kehmerdill geht als letzter und paßt seine Schritte den ihren an.

Heyermans hat Erdbrink an die Spitze placiert und redet von hinten auf ihn ein.

»Ihren Beruf in Ehren. Aber Sie sind Importeur, Mijnheer Erdbrink, da schlagen wir in Buitenzorg gewöhnlich drei Kreuze. Ich kann in Teufels Küche kommen, weil ich mit Ihnen plaudere. Wir leben keusch in Klausur, und müssen uns strikt unabhängig halten vom Export. Das ist Order.«

»Wer hat denn davon gesprochen, daß eine Provision dabei abfällt!« Erdbrink hat einen Einfall. »Wenn man über etwas, was von Wert ist, zufällig stolpert, wie Sie, mein guter Heyermans, so hat man Anspruch auf Finderlohn. Das Geschäftchen hatte den Daseinszweck, auf mich zu warten. Sie haben mir den Fundort gezeigt . . . Auf der Teeplantage . . .«

Koos schiebt ihn sanft weiter. Erdbrink hat die Neigung, zu häufig stehenzubleiben.

»Tjikopo,« bestätigt Heyermans, ohne sich Mühe zu geben, sein taufrisches Organ im Zaum zu halten, »ist überhaupt eine Fundgrube für alle möglichen Entdeckungen . . . nichts für ungut, Mijnheer Erdbrink. Also taufen wir das Baby ›Finderlohn‹, wenn es überhaupt nötig ist. Am besten scharren wir es geschwind ein und sprechen Sela darüber.«

109 »Schließlich geht ja doch alles über meine Adressen.«

»Das hoffe ich. Das Industriedepartement bei uns ringt sich ohnedies die Hände wund, wie wir direkt an den Konsumenten gelangen. Braucht man in den englischen Kolonien Importeure? Na, also, brauchen wir sie dann? Gott schütze den Konsumenten . . . Was tue ich charakterfester Mensch? Ich ringe mir auch die Hände wund! Aber zuerst halte ich sie hohl . . .«

Erdbrink, ganz schmunzelnder Partner, recht eingenommen von Heyermans, lacht Beifall. Das Echo keucht zurück. »Und ich träufle was hinein. – Eine Hand wäscht die andere.«

Nach hinten dringen Bruchstücke dieses Gespräches. Nora hat die Lippen zusammengekniffen. Plötzlich sagt sie: »Ihr Freund ist sehr ehrgeizig, wie?«

»Koos hat nur Sinn für das Reale.«

»Ich will mich nicht beklagen. Er ist nicht höflich, er ist nicht unhöflich. Ich bin nicht sein Typ. Was kann man mehr verlangen.«

»Er ist,« meint Kehmerdill behutsam, »vielleicht gebunden; verankert an jemanden, verstehen Sie?«

»O Katharina . . .« summt sie melodisch. Nach einer Pause: »Das versteht man ja. Aber mit Ihren – Scheuklappen ist es wohl nicht weit her?«

»Neulich im Hotel hab ich sie endgültig abgestreift.«

»Vielleicht, lieber Doktor, hab ich das auch so gemacht . . . Ich muß mich erst vergewissern. Sie sind nur im Wege, wenn man sich wirklich helfen will.«

110 Man ist an einer Lichtung und Koos sondiert das sumpfige Terrain. Der ausgebleichte Leib eines Baumes lastet quer darüber.

Sein Wurzelteller, im Durchmesser mehrerer Meter, hat zentnerschwere Klötze emporgerissen, sie noch umklammernd in seiner Erstarrung. Sein peitschender Wipfel hat eine lange Bresche geschlagen in einen Hain dreieckiger Kallablätter, die ihre weißen Trichterblüten zwischen Lanzenschäften entrollen und aus safrangelben Schlünden mephitische Dünste hauchen. Eidechsen schießen raspelnd vom Leib des Riesen. Schwarzblaue Hummelfliegen suchen neue Wachtposten; bös rasselnd lassen sie sich auf Blätterspitzen nieder und beglotzen die Eindringlinge mit bronzenen Facettenaugen. Wie kleine Raubtiere sitzen sie da; ihre Hinterleiber beben.

Nora läßt sich von Kehmerdill stützen und wandelt den Stamm entlang.

An einer trockenen Stelle springt sie ab und flüchtet in den Schatten.

Die Sonne vermag hier nicht durchzusickern; nur zuweilen zeigt sie sich als Pfützen geschmolzenen Messings in den Gründen. Die Treibhausluft einer Kirchendämmerung nimmt sie auf zwischen Strebepfeilern aus turmhohem Holz.

Heyermans Stimme verklingt allmählich. Ganz einsam erscheinen noch einzelne Worte . . . Hält die Schöpfung den Atem an?

Da gehen sie, die beiden großen Männer, und ihre Bambusstöcke klirren rhythmisch auf den Steinen. Bei den Wegbiegungen wenden sie halbzerstreut ihre 111 blonden Köpfe um, um im Grün zu verschwinden. Ruckweise steigend tauchen die Schultern empor.

Erdbrink geht mit verbissener Gründlichkeit. Auf seinem Rücken hat sich ein feuchter Fleck entbreitet; die Rohseide saugt ihn auf wie Löschpapier. Er atmet hörbar, es klingt wie leises Schnarchen.

Auf einmal sagt Nora:

»Es ist ermüdend«.

»Wollen Sie ausruhen?«

»Ja. – Von allem.«

»Was sagen Sie da? – Sie sind jung . . .«

»Nicht jung genug für ihn.« Sie deutet nach vorn.

»Und für das da . . .« Sie umfaßt mit den Armen den nächsten Bereich: »für das Gewaltsame . . .«

Sie läßt die Arme fallen und steht mit gesenktem Nacken. Es ist etwas rührend Hilfloses in der Haltung. –

»Kommen Sie, Doktor,« sagt sie plötzlich eifrig, »da steht so ein alter Bursche mit Luftwurzeln, wie vor dem Hotel in Weltevreden, der flößt mir Vertrauen ein. Mein Gatte unterhält sich mit Heyermans. Er vermißt mich nicht. Setzen wir uns . . .«

Sie wählt eine Wurzel, die wie eine Schlange in ein Gewirr gelbblühender Leguminosen kriecht. Sie streichelt die kaffeebraune Rinde. Hunger in den Augen, hockt sie mit hochgezogenen Knien. Ihre Blicke verlieren sich in den brütenden Gründen.

Ist es noch Erdbrinks fernes Keuchen, das wiederum anschwillt? – Nein, die Zikaden sind's, die man auf einmal hört; der Urwald hat sich von seiner Atempause erholt; das Orchester hebt die Fiedeln 112 wieder ans Kinn. Das sind fragende, wütend wiederholte Klangfiguren, wie von einer höllischen Kinderknarre. Ein schwarzgelber Vogel entschwingt sich einer elastischen Ranke, unter aufgestörtem Beben rotgeäderter Blätter, und trägt seinen hellen Metallton ins Dickicht.

Er läßt sich langsam neben ihr nieder. Sie zieht ihr Hütchen mit einem Ruck herunter; die goldbraunen Locken sind zusammengeballt von Feuchte; ihr Kopf sieht aus wie der eines rassigen Knaben. An ihrem weißen Hals bebt der Puls; die Brust atmet bedrängt. Sich zur Seite drehend, streckt sie die Beine; die Brauenfalte, die kleine Verfinsterung, entsteht auf der glatten Stirn. Ihre großen grauen Augen suchen schier starr die seinen; es ist, als wachse sie ihm langsam entgegen . . .

Und diesem starren prüfenden Blick verfällt er, das spürt sie; schon tastet seine Hand zu ihr hinüber . . . Sacht drängend schiebt sie sie fort und sagt mit kleiner Stimme:

»Kann man einander helfen?«

»Das war abgemacht . . . als der Schatten erschien.«

»Der Schatten?«

»An der Treppe. – Im Hotel . . .«

»Vielleicht . . . kann ich jetzt einen Entschluß fassen,« murmelt sie.

»Nora!!«

»Ja . . . Nennen Sie mich Nora!«

»Sagen Sie . . . Was ist vorgefallen? – Ich möchte Ihnen helfen! – Was hat es gegeben dort droben . . . auf Tjikopo?«

113 Sie zuckt zusammen und setzt sich halb auf. – »Hat Heyermans Ihnen –?«

»Nur eine Andeutung,« spricht er mit seiner ärztlich-beruhigenden, leicht ältlichen Stimme; doch verrät ihn das fortwährende Zittern seiner Hände. – »Ich kann mir ja denken; ich kann mir's ja so gut denken . . .«

»Auch das Unvorstellbare?!« fragt sie schneidend. »Das auch? – Sagten Sie nicht vorhin: ›Koos hat nur Sinn für das Reale‹? – Nun, ich glaube, daß er es Ihnen sachlich genug berichtet hat. Mein Gatte und er passen, scheint es, gut zueinander . . . Man versteht sich glänzend.« – Sie fühlt sich auf einmal nackt und ausgeliefert. Sie beginnt heftig zu schluchzen; die Steine an ihren Ringen werden blind von Tränen. Und gleichzeitig schleicht sich in dies Gefühl der Nacktheit ein lässiges Behagen daran, sich ausgeliefert zu wissen; die Möglichkeit zu haben, zu sprechen; der behutsamen Ergebenheit des Menschen hier neben ihr alles aufzubürden. Sie setzt mehrmals zum Sprechen an, doch die Wollust des erlösenden Weinens ist so groß, daß sie zunächst nur Unartikuliertes hervorbringt.

Kehmerdill betrachtet sie bleich und angespannt.

»Sie tun Heyermans unrecht« sagt er hastig; er fühlt, noch ein Strom angedämmter Worte will sich aus ihm lösen. »Er hat das . . . Vorkommnis ganz flüchtig umschrieben . . . Ich weiß nichts . . . ›Russische Methoden‹, wie? . . . Daß er jetzt mit Ihrem Gatten geht, war vorgesehn, damit ich mit Ihnen sprechen kann . . . Hören Sie auf zu weinen, Nora. Ist es 114 das Weinen wert? Sagten Sie nicht noch eben etwas von einem – Entschluß?«

»Ist es die Tränen wert? . . . War es die – Schlafmittel-Kur wert? – Ich hatte doch die Falltür schon aufgehoben, um hinunterzusteigen. In Daendels Hotel.«

»Und ich habe Sie zurückgeholt. – Für mich.«

». . . Für mich . . .« kommt ein Echo. Ihr Schluchzen versiegt. Heiß und wirr blickt sie auf. Er hat sich von ihr zurückgezogen, mit großer Überwindung, und ist aufgestanden. Seine weiße Gestalt, sein bleiches Gesicht schwanken vor ihr wie hinter einem Schleier, wie verzerrt durch zitternde Treibhausluft, vor einem Hintergrund von grellem Grün. Seine Stimme wandert auf und ab, werbend, an ihr zerrend; und dahinter steht das Orchester der Zikaden:

»Nora . . . Ich hab' mich Ihnen anvertraut, dort im Hotel . . . Süße Kameradschaft bieten Sie mir; kühler Trost, Befreiung ist das für mich; tief verpflichtet bin ich Ihnen . . . und nun wollen Sie sich nicht von mir helfen lassen? Nora, haben Sie Vertrauen . . . Sehen Sie den Sonnenstrahl dort? – Senkrecht, steil? – Er sticht uns allen, aller Kreatur, ins Mark . . . Einige Menschen verdummen davon und laufen weg; andere zeigen sich nackt . . . Das Licht will es nicht anders. Der Firnis schmilzt und so, wie er ist, zeigt sich der Mensch . . .«

Sie lächelt mit zuckenden Lippen zu ihm hinauf. »Doktor! – So kenne ich Sie noch gar nicht! – Welch ein Tempo!«

»Ja,« sagt er mit singender, ungewohnter 115 Heiterkeit, »so kann ich noch sein! Ich sah einmal in Penang, wie sich Schildkröten bissig um das Futter rauften, das man unter sie warf. Bedenken Sie! Die trägsten aller Geschöpfe! Das Zenithlicht macht sie beweglich . . . Und wenn es bei solchen so wirkt, wie dann erst beim Menschen! Nora . . . Ich bin nicht so gänzlich erledigt und zermürbt; es ist nur das Zuviel, dieses ständige Lichtbad, dieses Überschwemmtwerden mit gierigem Anspruch, was mich sinken läßt . . . Geben Sie mir weiter Ihren kühlen Trost! – Geben Sie mir – Ihre Liebe! – Ich brauche sie!« Er spricht es halb ekstatisch; seine Worte schwingen noch nach und sickern dann in die Feuchte; sie verhallen, überbraust von einem Chaos knarrender und siedelnder Geräusche, die der Wald unablässig gebiert.

Sie läßt sein Bekenntnis auf sich niederströmen. Und plötzlich entsteht in ihrem Hirn ein Klang wie ein altes zartes Motiv . . . Einige verwischte, synkopierte Takte . . . Sie hält Hochzeit; sie ist sechzehnjährig; junger Himmel schillert zwischen turmhohen Häusern. Sie trällert wie damals; sie findet keine Worte . . . Sie glaubt an etwas; sie hat das große Vertrauen. Und wieder würgt sie ein Schluchzen.

Kehmerdills Gestalt verwischt sich ganz zwischen ihren Wimpern, ausgelöscht von funkelnden Tränen. Große Hingabe spürt sie. Mag es denn sein! Sie hat zu geben diesmal; dieses erste Mal; sie ist die Schenkende. Welch ein Gegensatz zu jenem Triebmenschen, der wie ein Mörder auftaucht in ihrem Herzen, die Fetzen ihrer besudelten Träume zwischen den Fingern! Sie spürt ihres Leibes Haß und Widerstand, und gleichzeitig, gebettet in dies kochende, brodelnde Wachstum des Urwalds, ein schier unersättliches Bedürfnis sich diesem andern zu schenken und den stark zu machen, der Stärke von ihr erfleht. ›Freiwillig‹, denkt sie, ›will ich dir geben, was jener mir roh entriß . . .‹ Mitten unter den rings verstreuten Teezupferinnen, schamlos vor den verschmitzten Augen dieser Insel, dort oben auf der Höhe, in der kühleren Klarheit, unter den Pisangs am Saum der Pflanzung, unter einer feierlichen Parade zerschlißner grüner Fahnen hat Erdbrink sie niedergezwungen; es ist trüb gewesen und unausdenkbar brutal . . . Hat es getan unter den zerklirrenden Scherben alles dessen, was sie noch für einen Rest von Liebe gehalten . . .

Sie wirft den Kopf zurück und stößt zwischen den Zähnen hervor:

»Ja!!« –

Die Gestalt vor ihr nähert sich: wie leicht kann sie ihn herabziehen zu sich! Wie schwach ist er! – Ihr kraftvoll-spröder Arm umfängt seinen Kopf, der schwer auf ihre Brust schlägt. Sie stützt sein Gesicht empor: noch hat es diesen ekstatischen Ausdruck . . . Es ist zuviel für ihn. Seine Hände sind kalt. Sie küßt ihn mit zartem, heißem, hingehaltnem Kuß.

Da kehrt ihm Wärme zurück; sein Zittern verliert sich in wohliger, unendlicher Ruhe. Regen auf ausgedörrtes Feld: so rauscht es in seinem Kopf. Und das Licht hat aufgehört, ein Fluch zu sein.

117 Plötzlich ertönt ein Krachen hinter ihnen. Sie fahren auseinander und starren nach der Richtung: ein toter Urwaldbaum ist in sich zusammengestürzt. Noch während er seine stolze Form, jahrzehntelang vielleicht, in die Lüfte steilte, war seine Substanz zerwühlt und verdaut von Milliarden weißer Ameisen. Auch Schritte hätten so krachen können . . . und dann? Irgendwo gibt es ein Loch voller Grauen. Sie packt seinen Kopf mit beiden Händen und sieht ihn mit weiten Augen an:

»Du wirst mich nie schlagen, nein?«

Und ehe er einer Antwort mächtig ist, hört man durch das Rieseln des verwesten Holzes hindurch, das der geplatzte Urwaldriese als gelben Nebel von sich spie, kurzes, fernes, rhythmisches Klirren . . .

»Sie kommen zurück,« flüstert sie bebend. »Ich kann nicht – standhalten . . . Nimm mich fort . . .«

In stürzenden Schritten, die halben Sprüngen gleichen, eilen sie talabwärts.

Die Hitze der Lichtung überfällt sie. Sie springt auf den ausgebleichten Stamm; sie läuft schier tanzend darauf entlang und schwingt die Arme beim Absprung.

Endlich haben sie die Gummiplantage erreicht, durchqueren sie und veratmen dann ihre Erregung eng aneinandergepreßt. Fünf Minuten gönnen sie sich, bis der Tumult ihres Blutes sich legt. Dann langen sie bei Darmawan an.

»Nach Weltevreden!« ruft Kehmerdill. – »Die Nonna ist krank.«

Und wie ein Geschoß, das aus Pulverdunst 118 hervorzischt, schleudert der »Fiat« seine Staubwolken hinter sich.

In sein Geknatter mischt sich das leise Brodeln des Mittagsgewitters, das hinter dem Tjibodas bleigrau in den Glast emporquillt. 119 /d


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