Willy Seidel
Schattenpuppen
Willy Seidel

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Das Mischlingstribunal

»Kollege van Affelen? – Hier spricht Kehmerdill. Sie staunen wohl über Ihren Zulauf in den letzten Tagen? – Ja; ich schicke Ihnen meine Patienten. Ich bin erledigt. Ich denke, es wird noch einige Zeit dauern, bis ich die Fälle wieder übernehmen kann. Liefern Sie mir die Patienten dann wieder aus; womöglich im ›status quo‹ . . . Na; Späßchen. Der Raden Nongkalam ist ein kitzlicher Herr; läßt sich schon den dritten Monat um Operation bitten. Mit dem werden Sie energisch. Stellen Sie ihm vor, sein prospektiver Sitz im Volksraad sei vorgewärmt und in Gefahr, zu erkalten. Mit de Vries springen Sie grob um; edler Hiesiger, aber feig; Wassermann positiv. Daß ich Seow Lik Sen loswerde, ist mir erwünscht; behalten Sie den. Aber die alte Quick Bok Aij brauche ich noch. Na, viel Glück, Kollege.«


Kehmerdill hängt den Hörer ein; es ist günstig, daß er den anderen Arzt von seiner Praxis mitprofitieren lassen kann, schlägt dieser sich doch mit sechs Kindern ohne viel Glück durchs Leben. Der Doktor hat um sieben Uhr die Veranda von Patienten säubern lassen.

24 Am Frühstückstisch, beim Tee, empfindet er ein Übermaß von Sonne im Zimmer und kommt nach einem trägen Gedankenprozeß zum Bewußtsein des leeren Stuhls ihm gegenüber. Schon seit Tagen steht er leer.

Er empfindet weder Frohsinn noch Schmerz. Seine Wehmut stammt aus anderer Quelle: er denkt an ein Hotelzimmer und an ein trotziges kleines Gesicht mit dunklen Wimpern. Und diese gesenkten Mundwinkel fragen ihn, etwas verächtlich: »Was hast du mit deinem Leben gemacht?« Vor dieser Frage verblaßt alles, woran er sich klammert; sein Haus, mit all dem östlichen Porzellan, den Soembawadecken, dem Palembangsilber; sein ganzes Leben verblaßt und seine ganze mit Schweiß und Nervenverfall ausgebaute Karriere.

»Eigentlich,« denkt er, »sind achtunddreißig Grad Fieber ein idealer Zustand.« Er spürt eine schwebende Leichtigkeit; seine Stirn ist heiß wie ein sonnbestrahlter Ziegel. In diesem irrseligen Zustand zieht er ein gewisses Taschentuch aus der Pyjamajacke und schnuppert daran; ein Rüchlein wird lebendig, das in seiner schwachen Mahnung die schaurigsüße Kraft besessen, die letzten Nächte in Orgien von unklarer Sehnsucht und glimmenden Wandelbildern umzuschaffen!

Er setzt sich in den Korbstuhl der glasgedeckten Vorhalle, die den inneren Teil der Veranda bildet. Um ihn dreht sich das sanfte Karussell des Fiebers. Djodok klagt draußen »Wuh, wuh« und rüttelt an den Stäben. Er vermißt seine Morgenpromenade an der Hand der Hausfrau.

25 »Bleib nur, wo du bist,« denkt Kehmerdill gehässig. Er will diese ungewohnte Ruhe ausbeuten, diesen halben Schlummer seiner Hände, und die Ausschweifungen seines schwimmenden Hirns . . . Von draußen quillt Sonne herein, die wütende Dezembersonne der Regenzeit, die vormittags, vor dem Zwei-Uhr-Gewitter, erbarmungslos sticht. Agaven und Fächerpalmen der Einfahrt stehen reglos. Das näselnde »Quä, Quä« eines Kuchenhändlers verliert sich im staubigen Schwarzgrün der blanken Fikusblätter, zwischen denen der karminrote Schirm eines Flamboyant-Baumes grell und still leuchtet . . . Fernes Dröhnen, Karrenquietschen, Ponytrappeln: ein Vormittag wie tausend andere. Die Tschitschaks (Eidechsen) an der Verandawand rascheln um die Bilderrahmen und schnalzen ihr »Tjak, tjak«.

Plötzlich surrt das Telephon. Er fährt zusammen und nimmt den Hörer. Doch statt der Stimme Erdbrinks trifft ihn ein holländisch gesprochener Satz. »Otto,« spricht ein unreines, schwankendes Organ, »hier ist Mevrouw de Ruyter. Meine Tochter ist bei mir. Um vier Uhr, heute nachmittag, erwarten wir dich zum Tee.«

Die Schwiegermutter! . . . Zwischen seine zottigen bleichblonden Brauen tritt eine Grübelfalte . . . Ach – es muß ja sein.

»Jawohl, Mevrouw,« sagt er höflich. »Ich denke, ich kann es einrichten.«


26 Was man in Europa Privatleben nennt, spielt sich in Weltevreden fast auf der Straße ab. Von vorn bis hinten stehen die Häuser offen; blankgeputztes, tadelfreies Familienleben wird dem Volk oder dem Nachbarn demonstriert. Der Holländer sehnt sich selbst aus der Phantasiearmut der für wenige Jahre zusammengekauften Magazinmöbel heraus und starrt mit seinen müden Bureauaugen in das »vorüberbrausende Leben« . . .

Für Mevrouw de Ruyter gibt es keine Wechselbeziehung zwischen Straße und Veranda. Sie verbaut sich den Vorgarten mit dichten Schattensträuchern; jawohl, die ganze Schleife der Einfahrt entlang stellt sie chinesische Blumenkübel auf, und um ihrem exzentrischen Wesen die Krone aufzusetzen, verkriecht sie sich, wie eine Hexe, die verschmitzte Gewebe spinnt, hinter das Haus und empfängt ihre Besuche dort. Doch ist das Garn harmlos, das sie spinnt, denn sie gibt einen Pensionstisch an sechs bis acht Leute, ohne sie gerade zu überfordern.

Eigentliche Quelle ihres Einkommens ist Blumenzucht. Zu jeder Gelegenheit in erreichbarer Nähe schickt sie ihre Produkte. So hat sie nicht schlecht zu leben. Ihrem längst verstorbenen Mann hat sie eine Reihe verwegen blickender Söhne und bildschöner Töchter geboren. Bis auf Mevrouw Kehmerdill sind diese Töchter nach auswärts verheiratet; von den in Batavia ansässigen Söhnen ist Hendrijk Lehrer in der »Stovia«, dem medizinischen Lehrinstitut für Eingeborene, und Peter Notar im Vorsitz des »Indoeuropäischen Verbandes«.

27 Kehmerdill durchschreitet den Gang zum Speisezimmer. Es ist lange her, daß er sich hier nicht mehr gezeigt. Ist die dämmrige Wohnung ohnedies schon vollgepfropft mit Europa-Möbeln der schlimmsten Periode – schon Mijnheer de Ruyter, der sein »van« gegen ein »de« eingetauscht, hat zu seiner Zeit einer eleganten Lebensführung gehuldigt –, so wirkt der Reichtum an Blumenvasen vollends erdrückend. Auf jedem Mahagonibord, jeder Kredenz, jeder Kommode blitzt Messing, drängt sich chinesische Dutzendkeramik an deutsches Fabrikporzellan, und diese Deckchen überall! Diese Amoretten in Perlstickerei! Dieser zersetzte Orient, der ihm entgegenquillt! Ha! Diese Öldrucke: Orgien von Rosa unter Zephirschleiern und »südlichen Himmeln«! Und dazwischen wieder etwas Schönes, Echtjavanisches . . . Qualvoll zwecklos . . .

Er muß eine Beklemmung überwinden, denn es steht ihm ein Kampf bevor mit Leuten, in deren Köpfen der Begriff »Behaglichkeit« solche Form annehmen kann. Wind muß er hineinblasen in diese unsauber-altmodische Würde, das gespreizte Milieu der füufundsechzigjährigen indischen Matrone. Wie kam es nur, zum Teufel, daß er dies vor zehn Jahren so wenig empfand! Er hat Antja herausgeholt und auf eigene Füße gestellt, doch es hat nichts geholfen; mit allen Fasern ihres Wesens ist sie hier hängen geblieben.

Er schreitet aus der Glastür in den Hintergarten. Auf der Treppe drängen sich Blumentöpfe, stapeln sich Kränze. In der feuchten Glut hier gedeiht ein Farbenwirrwarr. Rabattenförmig geordnet strecken 28 sich parallele Bambusgestelle in die Gartentiefe. An den Drähten hängen breitmaschige Bastkörbe oder schimmelnde Rindenbündel voll weißer, gelber oder violetter Orchideen. Aus all dem quillt ein Duft, der Schwindel erzeugt; ein Gemisch von Humusmoder und penetranter Süße.

Als er das Labyrinth ganz durchdrungen, steht er vor einer Gruppe von Menschen, die unter dem Wellblechdach, am Beginn des asphaltierten Ganges zur Küche, Tee zu sich nehmen. Das erregte Gespräch verstummt flugs, als sie ihn sehen. Kehmerdill erkennt die gesamte in Batavia ansässige Familie. Aha, er soll also heute vor ein Tribunal kommen. – Peter und Hendrijk sind breitschultrige Menschen mit massiv geschnittenen gutmütigen Gesichtern. Wären sie blond und weiß, sie würden als »Pioniergestalten« Aufsehen erregen. Die schwarzen Haare jedoch, die schlaffe Attitüde, das fahle Kaffeebraun der Hautfarbe, die weichen, entgleitenden Händedrücke sagen dem Kenner sofort, daß er es hier mit »Indos« zu tun hat, mit Mischlingen, die mindestens zur Hälfte malaiisch sind . . . Der Großvater de Ruyter hat sich seine Frau aus Soerakarta geholt, und da die dortigen Javanen Urabkömmlinge von Hindus sind, so ist es ja eigentlich (wie Kehmerdill damals meinte, als er Antja zu sich nahm) eine »arische Familienangelegenheit« gewesen . . .

Diese Auffassung hat sich bei ihm verloren.

Als er Antja heute bei ihresgleichen sitzen sieht mit flammenden Augen, die mattweißen Hände im breiten Schoß geballt, wird ihm ihre Ähnlichkeit mit Brüdern 29 und Mutter deutlich wie nie. Sie ist einfach die weibliche Ausgabe der hübschen, großen, schlaffen, feisten Männer. Und während er sich kopfnickend niederläßt, denkt er blinzelnd: »Das hat nun jahrelang neben mir Fett angesetzt, und ich hab' es ertragen, wie ein schlechtes Bild im Zimmer. Das Bild gefiel mir anfangs; längst aber mußte es vom Haken herunter. Hier ist sie zu Hause.«

»Eh . . .!« – Die Alte gibt ein zerborstenes Lachen von sich und reicht ihm ihre Hand hinüber, an deren verrunzeltem Mittelfinger ein dicker Schlangenring sitzt. Kehmerdill beugt sich vor und überwindet sich zu einem Handkuß. »Ist das auch noch eine Hand?« denkt er. »Das ist ja ein Tschitschak!« Die kleine Hand entgleitet ihm glatt und kühl, und nun reichen die Brüder ihre großen warmen Pranken herüber. Antja begrüßt ihn kaum. Mit hochgezogener Kopfhaut und großen Augen, die leblos, wie gemalt im gepuderten Gesicht sitzen, starrt sie ihn an. Man lächelt von allen Seiten; überall trifft der Blick Kehmerdills auf sonnig gelüftete Gebisse. »Prächtige Zähne habt ihr,« denkt er verdrießlich. Er versucht zurückzulächeln, doch dieser schwache Abglanz wird von seinem hängenden Schnurrbart halb versteckt.

»Da ist er ja, der böse Mann!« spricht die Alte endlich, und ihre Augen verkriechen sich hinter geschwollenen Lidern. Es gibt Schnitzereien ans Seifenstein, die ihr ähnlich sehen. Ein Wölkchen zieht über die Szene, das Lächeln ringsum erlischt. Die Alte räuspert sich unrein und schlürft ein Schlückchen Tee, 30 das nach Jasmin riecht. Sie bewegt den Kopf wie eine witternde Schildkröte.

Kehmerdill gibt sich einen Ruck, bietet Zigaretten an und bringt ein Gespräch in Gang. Man spricht über Politik. Peter, als »Vollholländer«, verteidigt die Regierung und hat wenig Verständnis für »Home Rule«. Hendrijk jedoch schwört auf Limburg-Stirum und auf eine fortschrittliche »christlich-ethische Innenverfassung«. Sie schnauben und geraten sich darüber, unter großem Wortschwall und vielen Gesten, fast in die Haare. Kehmerdill wirft ab und zu ein Wort hinein, das beiden Standpunkten gerecht zu werden scheint. Er sitzt ja selber am Pulverfaß und hat kein Interesse daran, den Gegensatz zu schüren. Der »Vollholländer« Peter beschlagnahmt ihn bedingungslos für sich; das fühlt er und spürt einen faden Geschmack im Mund. Immer heißt es »wir« dabei, oder »uns«. – Plötzlich geschieht ein Knall.

Eingeschüchtert blickt man auf die Matrone. Sie hat wie ein Zeremonienmeister zur Eröffnung des offiziellen Teiles der Sitzung ihren Malakkastock auf die Fliesen gestoßen. Ihr Kiefer schiebt sich vor, ihre Augen sind trüb glitzernde Ritzen.

»Wir sind nicht zusammengekommen,« spricht sie mit wankender Stimme, »um zu politisieren. Oder denkst du, Otto, es sei nur ein hübscher Zufall, daß meine Söhne zugegen sind? – Denkst du, ich hätte telefoniert, damit der Verkehr nicht einschläft?«

Kehmerdill pafft stark. »Ich habe Fieber, Mevrouw,« erwidert er fast schmeichelnd. »Ich freue mich, daß 31 Sie sich meiner erinnern. Eine Tee-Einladung ist nicht problematisch. Daß Peter und Hendrijk hier sind, tut mir wohl, ohne mir den Kopf zu verdrehen.« Die Männer schnalzen leise mit den Zungen und wiegen die schwarzen Scheitel.

»Ha! – Du willst es glatt und schön, und bringst Handschuhe mit. – Wir wollen Tee trinken, gewiß. Wir lieben uns alle untereinander. Das ist doch so, nicht wahr, Otto?«

Kehmerdill schweigt. Er kratzt sich mit dem tabakgelben Nagel des Zeigefingers an der Rinne der Oberlippe.

Die Alte bewegt sich heftig im Korbstuhl; dieser kracht. Sie hebt den Krückstock und deutet damit auf Antja. »Da sitzt deine Frau,« spricht sie, und ihre Stimme geht modulierend in ein leises Kreischen über – »da sitzt eine gebrochene Frau, Otto . . . und diese ist – meine Tochter!!«

Kehmerdill schweigt weiter. »Wer sind diese Leute?« muß er plötzlich denken . . . »Was wollen sie eigentlich von mir?«

Endlich sagt er kurz: »Sie erzählen da nichts Neues, Mevrouw. Es scheint, man hat vor, theatralisch zu werden. Also nehmen Sie kein Blatt vor den Mund.«

Die Alte atmet stark. Ihre Zehen krümmen sich in den offenen, mit schillernden Metallplättchen bestickten Sandalen. Tastend streicht sie sich den Sarong glatt, den sie innerhalb des Hauses zu tragen pflegt – eine Ranken- und Blätteraffäre in Ziegelrot und Ocker – und bringt die Hand mit ratlos bebenden Fingern 32 an den mächtigen Schildpattkamm am Hinterkopf. Sie blickt um sich; aber die Söhne springen ihr nicht bei. Sie schnalzen nur wiederum leise mit den Zungen. Plötzlich sagt Antja: »Er hat keinen Respekt vor Ihnen, Mama. Dabei ist er aber fast noch höflich. Sie sollten ihn nur hören, wenn er . . .« Sie gerät ins Schlucken, und ihre gemalten großen Augen verschleiern sich.

Der Doktor begreift immer deutlicher die Harmonie in dieser Verschwörung.

»Wenn er was?« schnauft die Alte.

»Wenn er mich anfährt, Mama, ohne Grund und Sinn . . . Oh, er macht mit mir, was er will. Weil ich zugenommen habe, weil ich mit Djodok spiele, weil ich eine schlechte Hausfrau bin und seine Gäste nicht unterhalten kann. Weil ich ungebildet bin. Weil ich keine Kinder kriege.« Dies alles stößt sie ruckweise hervor.

»Du hast vorhin gesagt, daß ich theatralisch bin, Otto,« beginnt die Alte nach unreinem Räuspern. »Du bist salopp . . . aber ich will dir ruhig erklären, was uns an dir nicht mehr gefallen will. Du besuchst uns nie. Vom Koningsplein zum Waterlooplein ist es nicht bis zum Ende der Welt. Auch deine Schwäger vernachlässigst du, besonders Hendrijk, an den dich doch gleiche Interessen fesseln . . . Und daß Antja keine Kinder kriegt, ist nicht ihre Schuld . . . Du näherst dich ihr nie in zärtlicher Absicht, das ist es!« –

»Ich habe keine Zeit, Mevrouw. Ich bin übermüdet.«

33 »Seit zwei Jahren schlägt man dir vor, einen Assistenten zu nehmen. In Europa gibt es genug.«

»Der Assistent kostet zweitausend Gulden Überfahrtsspesen und tausend Gulden Gehalt monatlich.«

»Wenn ich an meinen seligen Korneelis denke, der hätte sich nicht besonnen. Der war großzügig . . .«

»Sie werfen mir Geiz vor, Mevrouw. Aber das ist es nicht. Ich kann es ja schaffen ohne Hilfe.«

»Aber deine Frau, Otto, geht darüber zugrunde!!« stößt die Alte höchst erregt hervor und deutet wiederum mit dem Krückstock nach der Tochter. – Kehmerdill sieht sich diese Frau an, die zehn Jahre neben ihm gelebt, mit ruhiger Abschätzung, als betrachte er ein Möbelstück. Das Fieber stimmt ihn gleichgültig und verhindert, daß er über sich selbst erstaunt. Das sanfte Karussell beginnt wieder; die ganze Gruppe auf ihren Korbstühlen bewegt sich sprunghaft nach links, und die alte Frau, über Meilen hinweg, aus fremder Sphäre, deklamiert eine eingelernte Rolle. Es ist ja alles restlos logisch, was sie vorbringt. Aber kann dies animalische Geschöpf dort drüben, Antja, mit ihrer elfenbeinfarbenen Haut, mit ihren runden Armen, mit dem Doppelkinn und den rollenden indischen Augen wirklich »zugrunde« gehen? Die Vorstellung kommt ihm plötzlich spaßhaft vor. Er lacht.

»Damit hat es noch gute Weile, Mevrouw. Antja ist gesund und noch jung. Sie kann sich amüsieren, soviel sie will. Peter und Hendrijk werden sich ein Vergnügen machen, sie ins ›Des Indes‹ zu nehmen, oder ins ›Koningsplein‹ . . .«

»Aber sie will mit dir gehen,« spricht die Alte 34 knarend und mustert ihn aus ihren trüben Chinesenaugen. »Und sie will in die ›Harmonie‹.«

»Sie wissen selber ganz gut, Mevrouw,« spricht Kehmerdill kühl, »daß das seine Schwierigkeiten hat. Selbst wenn ich Zeit und Lust hätte, – es gibt da gewisse Vorurteile . . .«

Peter und Hendrijk fahren zusammen, wie von Nadeln gestochen; ihre Gesichter werden zu ausdruckslosen Masken. Die Alte scharrt mit dem Stock; Antja bläst kurze Luft durch vibrierende Nüstern. Kehmerdill merkt den Aufruhr. In der Hemmungslosigkeit des Fiebers, das leise in seinen Ohren singt, steht er auf, steckt die Hände in die Hosentaschen, und sieht immer noch kühl auf die Gruppe hinunter. »Ja, – ist denn das etwas Neues für euch? Ihr zerrt mich hier vor euer Tribunal, ihr sitzt zu Gericht über mich, ihr schreibt mir allerhand vor, und ich soll zu allem Ja und Amen sagen . . . Geiz werft ihr mir vor, schlechte Behandlung Antjas . . . Mevrouw, ich glaube, Sie verkennen Ihre Lage.«

Die Alte sinkt wie geschlagen in ihren Stuhl zurück.

»Das geht zu weit, mein Lieber,« sagt Peter. Antjas Oberlippe hat sich gelüftet, ihre Zähne sind aufeinandergesetzt, als wollten sie etwas zerknacken. Sie zischt: »Ihr habt es mir ja nicht glauben wollen. So ist er. So sind seine Freunde. Das ist seine Meinung von euch und mir.«

Die Alte öffnet die Augen, die sie geschlossen hat. »Ausreden sind das,« murmelt sie, »für seinen eklatanten Egoismus, für seine Bequemlichkeit, für seine Verantwortungslosigkeit . . .« Sie sieht sich hilflos um 35 und schenkt dann dem Doktor wieder einen Blick, in den ein Ausdruck des Bettelns, des Überwundenseins tritt. »Ich weiß ja, er ist kein schlechter Mensch . . . Er ist nicht geizig; übertrieben sparsam, kommt mir vor . . . Man hat ihm Dinge in den Kopf gesetzt . . .«

»Heyermans!« zischt Antja.

»Dinge hat man ihm suggeriert, sage ich . . . Ich bin fünfundsechzig, ich durchschaue die Naturen . . . Ich will, daß meine Tochter Freude vom Leben hat, ich will Enkelkinder . . .« Und ohne sich aufhalten zu lassen, überraschend elastisch, steht sie auf und humpelt ins Haus. Mit einem Entschluß schlägt sie sich gleichsam eine Bresche durch all dies widrig Unverständliche hindurch. Die vier Menschen rühren sich nicht. Als sie wiederkommt, hält sie etwas mit ihrer altersfleckigen Faust umschlossen.

»Hier, nimm! – Damit du nicht sagen kannst, daß alles von dir kommt! – Hier hast du den Assistenten! – Das macht dir deine Frau wieder schmackhaft! – Hier hast du Kinder! – Hier hast du Zeit!« Drei Tausendguldenscheine entblättern sich zwischen ihren halbgeöffneten Fingern.

Kehmerdill weicht zurück und faßt sich an die Stirn. Dies ist mehr als unerwartet, es ist pathetisch. Wollen diese Leute nicht begreifen? Endlich bringt er hervor: »Setzen Sie sich doch, Mevrouw. Es ist nicht das Geld. Sie zwingen mich ganz offen zu sein. Nun also: ich glaube nicht, daß ich auf die Dauer mit Antja glücklich sein kann. Es ist das beste, wir trennen uns. – In Güte.«

Das gefürchtete Stichwort ist gefallen. Antja steht 36 auf und geht ins Haus. Drinnen entlädt sich ihr Jammer in langgezogenen Tönen.

»Und was – –« fragt die Alte mit zerborstener Stimme, »hast du ihr vorzuwerfen?« – Die Geldnoten flattern langsam unter den Tisch, niemand hebt sie auf.

»Nichts,« spricht Kehmerdill. »Und ich übernehme die Folgen für meinen Entschluß.«

Die Alte blickt stumm, wie lauernd, ihre Söhne an. Doch deren Gesichter sind völlig eingefroren. Hendrijk sagt leise: »Nun ist es ja klar, aus welcher Ecke der Wind bläst.«

Kehmerdill geht ohne sich umzusehen. Er hat die Brücke zertrümmert; und in seinem Rücken, in der süßdumpfen Atmosphäre dieses Gartens, grübelt das Verhängnis. – 37


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