Willy Seidel
Schattenpuppen
Willy Seidel

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Der Schatten an der Treppe

Kehmerdill bringt Nora an die Estrade zurück. Die paar hundert Menschen laufen auseinander. Aus dem verschlungenen Wirrwarr lösen sich die Farbflecke und streben, von Schwarz oder von Weiß eskortiert, den Tischen wieder zu, wo neuer soeben ausgeschenkter Champagner in den Gläsern siedet.

Herr Salbeiblatt hat sich diese Fürsorge angelegen sein lassen. Während man tanzte, ist er von Tisch zu Tisch geschlichen, mit einem versonnenen Lächeln, dem die napoleonische Position nichts von der ranzigen Süße nahm; leicht mit prallen Hüften bebend, ist er umhergeschlichen. »Noch ein Fläschchen?« hat er gesungen, wenn er den betreffenden Tisch noch besetzt fand. »Wie man sich echauffiert! – Gott! – Als ich sage . . . Nun, ich würde nicht tanzen wollen; besser gar nicht, so denke ich, als ungraziös . . . Ich wäre eine Blamage, ach Gott! – So ist es!«

So hat er auf der Estrade seine platten Scherzchen getrieben und das Heer der braunen Djonges in steter Bewegung gehalten. Nun nimmt er gedankenvoll wahr, wie der Doktor sich um des Großhändlers Frau bemüht. Auch sieht er, daß sie stehend ein Spitzglas hinuntergießt; daß es drüben zugeht wie in Old 70 Holland. Sie setzt sich nicht einmal, sondern nimmt sofort den Arm des anderen Kavaliers, der dies sympathische Taillenjäckchen trägt, um sich in den neuen Step hineinzustürzen. »Eigenartig,« denkt Salbeiblatt und seine Augen, farblos wie Stanniol, verzehren die Gruppe. Die scheinbare Entlegenheit seines Reptilblicks ermöglicht es ihm so auszusehen, als blicke er ziellos ins Universum; die heimliche Neugier verrät sich dadurch, daß er den Daumen an der Hüfte wetzt und an der Unterlippe knabbert . . .

Nun steht der Doktor auf, aha, er geht allein. Hinter der spiegelbelegten Säule auf der Lauer liegend, fängt Salbeiblatt ihn bei seiner Rückkehr ab. Den lachsfarbenen rasierten Kopf auf die Schulter gelegt, kommt er mit Trippelschritt hervor . . . »Sie sind –« beginnt er in singendem Plauderton, »ja in scharmanter Gesellschaft, Herr Doktor. Mundete das Diner?«

»Ganz tüchtig gekocht, Salbeiblatt,« sagt Kehmerdill, der haltgemacht hat und dem dieser Überfall nicht ganz unerwünscht kommt. Jedenfalls nutzt er ihn dazu aus, um, ohne den Verdacht seines Tisches zu erregen, unauffällig in den Saal zu spähen. Leicht gekränkt merkt Salbeiblatt, daß man ihn als Paravent mißbraucht; er leistet sich daher selbst einen Blick ins Lokal und erkennt, was es da im besonderen zu sehen gibt und was den Doktor so interessiert. Das ist ein blonder Kopf, der beträchtlich höher schwebt als die Menschheit, plaudernd herniedergeneigt zu einer braungoldenen Pagenfrisur.

»Tja –,« sagt Kehmerdill, der sich schon ein wenig 71 ärgert, daß er sich ertappt fühlt – »das Diner war eßbar. – Was ich sagen wollte . . .«

»Eßbar –,« hakt Salbeiblatt ein. »Und hoffentlich bekommt es den Herrschaften besser als die Küche im ›Daendels‹. Gott, wie kann man im ›Daendels‹ wohnen!«

»Sie scheinen gut informiert, Salbeiblatt –«

»So ist es, Herr Doktor.«

»Ist denn die Küche dort wirklich so schlecht?«

»Sie dürfen mir nicht übelnehmen, Herr Doktor, daß ich die Küche indiskutabel finde. – Eine indische Dame hat die Leitung . . . Sie faulenzt, verstehen Sie, und kauft billig bei ganz kleinen Chinesen . . . Nun, Herr Doktor; ich kenne meine indischen Damen. – So ist es.«

»Vielleicht auch ich, Salbeiblatt,« sagt Kehmerdill; stellt eine kleine zerstreute Zustimmung in die Luft. Doch dieser unausstehliche Mensch holt sich das absichtslose Wörtchen sofort herab, bespeichelt es meckernd und zerrupft es unter vielen gedämpft jauchzenden: »Ah's,« – »als Sie sagen . . .,« – »so ist es –« . . . Wie in aller Welt kann er schon etwas über Antja wissen?! –

Mit diesem zweiten Ertapptsein wächst der kleine Anfangsärger des Doktors. »Sie sind doch ein insinuanter Mensch!« fährt er ihn an und badet den blanken Chefkoch a. D. in Tabaksqualm. Doch dieser kommt nicht aus der Fassung; im Gegenteil: er deutet mit dem Goldfinger auf die Zigarette und spricht:

»Aber Herr Doktor! Bei Ihrem Einkommen eine McGillavry! – Ich schicke Ihnen eine Büchse 72 Abdullah . . . als Präsent . . . Sie dürfen sie ruhig rauchen. Ich vergifte niemanden, hehe . . . Das ist das Privileg der – indischen Damen

Zum Satan! Auch davon weiß er! Wie ein Weichtier sitzt er auf den faulen Fehlgeburten von Klatschgerüchten und saugt sie aus; ja, er leckt sich die Lippen dabei, dieser Bastard der Fama und des Momus . . . Kehmerdill will ihm zu Leibe, beherrscht sich aber. Er ist ihm irgendwo unterlegen. Dieser lachsfarbene Schleicher hat ja auch nützliche Information, wenn es nottut; also baut er vor und geht ihm nicht zu Leibe.

»Diesmal raten Sie falsch, Salbeiblatt . . . Frau Erdbrink hatte keine Speisenvergiftung. Eine Verwechslung von Medizinen. Hier muß ich die Daendels-Indo in Schutz nehmen.«

»Nun,« erwidert der Manager, »das ändert die Sache. Aber Herr Doktor –« (und sein blankes Gesicht, das stete halb ekstatische Grinsen weggewischt, wird plötzlich verblüffend ausdruckslos wie eine jener japanischen Tempelmasken aus fleischfarbenem Lack) – »im allgemeinen greifen die Indos so gern zum Gift wie die Inlanders. Ja. – So ist es!!« – Kehmerdill starrt ihn an. Er hört Heyermans' Worte im Hirn: »Laß dir das Essen vorschmecken . . .« Der hat es unter breitem Lachen gesagt, und ist für gewöhnlich ernst. Dieser hier ist für gewöhnlich albern, und sagt es ihm emphatisch ernst, soweit das seiner Clownhaftigkeit gelingt. Das ist bedenklicher. Er kneift die Augen zusammen. Soll er diesem Reptil den Triumph gönnen einen Ratschlag anzubringen? 73 Soll er es in sein Inneres hineinlassen und es neu gemästet mit einem Streichelklaps in die Welt entsenden?

»Ich gebe Ihnen,« sagt er pointiert, »in Zukunft meine Gerichte vorzukosten. Keine Angst, Sie kommen bestimmt mit dem Leben davon. Darauf wette ich einen Kranz für Sie. Sie haben genug Gegengift.« Und er tippt ihm auf den Bauch. Der Manager kreischt gekitzelt auf wie ein Weib. Dann sieht er dem Doktor kopfwiegend nach, als dieser sich an seinen Platz zurückbegibt . . .

Erdbrink sitzt, mit dem Arm eine zweite Stuhllehne umschlingend, eine erloschene Havanna zwischen den Zähnen, und lauscht einigen Äußerungen Heyermans', der sein bestes Deutsch hervorholt. Nur mit »Sie« und »Ihnen« hapert es, was aber drollig klingt. – » . . . da haben wir noch die Partikulier-Plantagen. Wir haben englisches Kapital, Hammond in Cheribon . . . Aber Sie werden Ihnen wohl zweifellos am meisten für die deutschen Unternehmungen interessieren . . . Das Straits- und Sunda-Syndikat ist deutsche Gründung . . . Besonders übersichtlich ist da Tjikopo . . .«

»Wo ist das?«

»Bei Buitenzorg, ganz bedenklich nah bei der Regierung also, Herr Erdbrink . . . Man hat sie nicht gern, die Partikuliers, und kauft sie auf, hast du nicht gesehen; schnappt sie weg . . . Doch in diesem Falle hat es keine Gefahr. Fremdes Kapital kann man immer weniger entbehren. Sehen Sie's an; inspizieren Sie, bestellen Sie, erfreuen Sie Ihnen an den Büchern, an 74 der Fabrik . . . Investieren Sie! Jawohl!! Es rentiert sich! Wir haben jetzt wieder Hausse. Sie wissen, wie viel bei uns verfault ist während des Krieges . . .«

». . . Ja; hier herrscht volle Erholung,« bestätigt Erdbrinks Baß. »Wirtschaftliche Erholung . . .« Und sein Auge bleibt sinnend an den mächtigen Formen einer blonden Matrone hängen, bei deren Schritten man das leise Gläserklirren erschütterter Tische hört. Heyermans lacht sein lautes sonniges Lachen. Sie sind beide nicht mehr ganz nüchtern.

»Ich muß selbst zurück nach Buitenzorg. Ich habe mich das vorgenommen. Ich nehme mich schon jetzt den Urlaub voraus . . . Zurück muß ich, sonst merkt es der G. G. . . . Ich versprach es Kehmerdill, ihn hinauszuschleifen. Machen wir doch eine Partie zu viert daraus!«

Noch liefert Kehmerdill keinen Beitrag zur Unterhaltung. Er hat den seltsamen Blick aufgefangen, den Erdbrink auf Nora wirft. Was in dessen großem, dünnbehaartem Schädel nistet, kann man nur vermuten. Es ist dieser Bärenblick. Man muß ihn schonen. Dies denkt Kehmerdill keineswegs wortwörtlich so, wie es hier steht. Er fühlt nur etwas Unbestimmtes, und der kühle Arm Noras streift seine fiebernde Hand. Er beugt sich also vor und sagt: »Ich danke dir, Koos. – Du hattest meine Zusage aber noch nicht. – Ich komme vielleicht später nach.«

»Tut uns leid,« sagt Erdbrink, als sei er das Mundstück für den ganzen Tisch. »Sehr schade. – Patienten?«

»Ja . . .« sagt Kehmerdill. »Patienten.« Er fühlt, 75 daß es seine Gastgeberpflicht ist, ein paar Löffel Geplauder beizusteuern. – »Ich habe die Patienten ja eigentlich zeitweilig an van Affelen abgeschoben, weil ich dies periodische Fieberchen habe, meine Herrschaften . . . Ich brauche wirklich Ausspannung. Da hat Koos recht. Aber morgen muß ich unbedingt noch eine phänomenale Wahrheit vom Stapel lassen, sonst habe ich kein reines Gewissen. Da gibt es die alte Kwik Bok Aij – die Frau des Zuckerchinesen. Die Familie ist aufgeklärt und sonst sehr kulant . . . Doch diese Wahrheit muß ich in die Seide der blumenreichsten Worte packen, um sie genießbar zu machen.«

»Nanu?« dröhnt Erdbrinks Baß. Er entzündet den Havannastummel und pafft; sein mächtiger Brustkorb dehnt sich wie ein Blasebalg. »Ein Mysterium . . .«

»Eigentlich keines, sondern ein gutartiges Geschwür – ein Prachtstumor, erlauben Sie . . . Sie kennen diese Orientalen. Mit einer einfachen Operation würde die Alte noch doppelt so alt. An sich ist sie zäh wie Leder. Aber sie läßt einen nicht heran. Nicht einmal abtasten! Hände weg! Ich soll einfach zaubern. – Und morgen, vor einer schluchzenden Familiendeputation soll ich erklären, daß ich nicht zaubern kann.«

»Habeant sibi...« grunzt Erdbrink.

»Hier stehe ich nun,« fährt Kehmerdill fort, »mit dem hübschen handlichen Messer, vollkommen schafsgeduldig, und sage: ›Erlauchte Stammutter, erhabene Beschließerin der siebenundsiebenzig Himmel, schwinge deine Lilienfüße auf das handliche Rädertischchen deines unwürdigen Sklaven,‹ – oder so ähnlich. Nichts 76 da. Alles prallt zurück. Die ganze Familie, Räucherkerzchen gebrauchsfertig, protestiert. Eine glatte Wand. Sie können nicht, mein Gott; sie können nicht. Kein Hund kann auf den Hinterbeinen laufen.«

»Von selber nicht,« grunzt Erdbrink

»Und man kann sein Bestes nicht tun . . .«

»Nicht Ihre Sache,« entscheidet der Gewaltige. »Was, Nora?«

»Nein, Herr Doktor,« stimmt Nora bei. »Niemand kann Ihnen einen Vorwurf machen. Niemand.« Ihre Augen sind ganz groß. »Und man versteht, daß Sie deshalb noch hier bleiben müssen. Dann aber müssen Sie sich ausspannen. Hören Sie?«

»Ich höre und gehorche.« Er stürzt ein Glas hinunter. »Ich glaube, Koos, das ist wieder mein Tanz?« Er deutet nach dem Orchester und erhebt sich. »Der Anfang der Ausspannung . . .« sagt er scherzhaft zum Tisch und reicht Nora den Arm. »Bald wieder da, meine Herrschaften. –« Und sie gleiten die Stufen hinab.

»Leistungsfähig, dieser Doktor,« hört er Erdbrinks Stimme hinter sich, schon halb verschlungen von benachbarten Gesprächswellen. Nun kommt ein endloser, dumpfer Jazz, der eine einzige Melodie mit größtem Aufwand von Blech und Pauken ausschlachtet; in den man sich hineingleiten läßt wie in ein laues Bad, das seine Wellen in betäubendem, einlullendem, monotonem Rhythmus an die Wände dieser gewaltigen Dampfbad-Wanne sendet . . .

Er schiebt Nora in der Diagonale durch den Saal. Sie werden von den tanzenden Paaren ganz 77 verschlungen. Der samtene Vorhang der Nacht hat aus seinen Falten mehr Leute geboren und immer mehr: aus den Pensionen und kleineren Hotels kommen sie, wo es keine Musik gibt. Nora hält die Augen geschlossen; wieder scheint sie voller Hingabe an die sanfte Bewegung, friedlich wie ein Wiegenkind, das im Banne fragwürdiger Klänge schaukelt . . . Sie atmet aber nicht leise: sie stöhnt mit halboffenem Mund; dann reißt sie die Augen auf. Ihr erster Blick sucht den Tisch; der ist unauffindbar. Dann sagt sie: »Es ist barbarisch schwül hier, ich bekomme kaum Luft. Wollen wir etwas spazieren geben? Zehn Minuten, nein? . . .« Und ohne seine Antwort abzuwarten, ergreift sie seinen Arm und zieht ihn zum Eingang des Hotels hinaus.

Sie hat recht. Hier geistert ein Lüftchen. Sie gehen die Stufen hinab. Der vom Licht vereinzelter Bogenlampen bestrahlte Kanal blänkert stumpf. Vom Hotel fällt eine Lichtflut bis auf die Straße gerade zwischen den beiden Waringinbäumen hindurch. Das Wurzelgeflecht dieser mächtigen Wächter weicht schwarz und geheimnisvoll in den Schotten zurück. Die Finsternis gebiert verdrehte Taue, steile Schäfte, strotzende Säulen und verschlingt sie wieder. So steht dies verkrümmte Holz spukhaft erstarrt und drohend im Dunkel. Erst droben, in gewaltiger Höbe, verschmilzt das wuchernde Tasten zu harmonischem Stamm, um sich dann kaum mehr erkennbar zu einem Dom schwarzer Blättermassen zu entbreiten.

Abgesehen von dieser Lichtstraße ist der Vordergarten finster. Nur wo das Wurzelgewirr sich öffnet, 78 sprenkeln gleißende Flecke den Boden und heben Bedeutungsloses hervor: das Stück eines feiernden Wagenrades, das Kopftuch eines bei seiner Zigarette träumenden Kutschers, oder das Gelb eines vorüberschwebenden Katzenleibes. Hinter dem Zaun schimmert der von Gummireifen polierte Asphalt bis zur Mauer des Kanals hinüber. Alle zehn, fünfzehn Sekunden fährt eine Autolampe in Begleitung eines grölenden Hupenschreis mit einer Flammensichel von draußen herein und mäht die Finsternis ab, die schwer in sich zusammenstürzt. Der Himmel ist schwärzlich kobaltblau; die Sterne flimmern spitz; blickt man schräg zum Hoteldach hinauf, an der Fahnenstange vorbei, so sieht man den Mond: einen zitronenfarbenen Kahn, der fast wagrecht schwimmt. Die Lust ist still wie Stoff; der Mond sitzt brütend in seinem kupfernen Hof.

Ihre Füße treten vorsichtig auf, zwischen den Kieseln tastend; dann gibt sie es auf und bleibt stehen. Sie legt ihm die Hand an den Arm; er steht dumpf, wie mechanisch, ebenfalls still. – »Ich kann mir denken,« sagt sie plötzlich mit ihrem schnell konstatierenden Ton, »daß Sie es hier in Indien nicht gut gehabt haben.«

Macht sie eine Anspielung auf Antja? Schon wieder?

Sein Gesicht ist ein blasser, verwischter Fleck. – »Sie sind sich nicht klar,« kommt es heiser von ihm, »was Sie angerichtet haben – will sagen, was Ihr Mann angerichtet hat. – Eigentlich sollte er mir eine Leibrente zahlen.« Er räuspert sich wegwerfend und steckt eine Zigarette an. Sprühend glüht sie auf; an seiner schwankenden Hand malt sie langsame sinnlose Leuchtrunen in die Luft.

79 »Doktor!! – Mein Mann . . . Er ist kein Erzengel, nein. Aber was hat er mit Ihnen angestellt?«

»Er kann natürlich nichts dafür,« kommt nach einer Pause die heisere Stimme zurück. »Er hätte ja ebensogut van Affelen anrufen können oder einen anderen Kollegen . . . Nehmen Sie sich Zeit; vielleicht kann ich's erklären. Sehen Sie, hier in Weltevreden, sind die Kampoengs zwischen die weißen Stadtteile eingeklemmt; im Kebon Sirih ist ein Hotel, wo ich oft Patienten hatte. Ich saß stundenlang bei Halbirren, die fieberten; bei chronischen Tropenfällen; und hinter ihrer Zimmerwand war das Kampoeng. Das klingt sehr harmlos? Es ist ungeheuerlich. Die Verkäufer gehen vorbei, morgens drei und abends drei Stunden. Man sieht sie nicht, da die Wand nur eine Ventilierklappe oben hat wie ein Zellenfenster. Man hört sie nur. Einen halben Meter entfernt gehen sie am Bett vorbei; nur die hingepustete Wand ist dazwischen. Und sie schreien.

Auch die Kinder der Inlanders schreien den ganzen Tag. Das sind Weinerlichkeiten, Späßchen, kleine Dramen genau wie bei uns. Doch diese Verkäufer schreien gellend und hoch wie Vögel. Man hört sie schon in der Ferne. Dann kommen sie näher . . . Sind sie am Zimmer angelangt, dann zerspalten sie buchstäblich das Trommelfell. Man krümmt sich und ist vollkommen machtlos. Ermorden kann man sie nicht. Polizeilich kann man sie nicht zum Schweigen bringen. So toben sie sich aus.

Und blickt man auf der anderen Seite hinaus in den Hotelgarten, da sieht man weißes Licht und scharf 80 gezackte Schatten. Ach, diese Sonne, die das halbe Jahr hindurch ihr loderndes Perpendikel hinunterhängt . . . Sie verbrennt einem die Energie. Alles gerinnt; alle freudigen Entschlüsse, munteren Vorsätze, behaglichen Menschlichkeiten gerinnen. Es gibt ein charakterloses Ineinandersickern halber Gebärden – sowie auch die vier Jahreszeiten hier verschweißt sind zum sinnlosen lebenslangen Hochsommer . . . Das ist das Hotel im Kebon Sirih, das ist jedes Hotel, das ist Indien, das sind zehn Jahre meines Lebens. Die letzten zehn Jahre . . . Wissen Sie das? Wundert es Sie nicht, daß ich noch Mensch bin?« – Er bringt die letzten Sätze stockend hervor. Es ist, als schwanke er hin und her. Sie steckt den kühlen Arm durch den seinen und sagt hastig, als befürchte sie sein gänzliches Verstummen:

»Und Ihr Beruf! Sie sind doch mit Leib und Seele dabei! Sie haben doch diese Menschenliebe . . . Ich denke an die alte Chinesin . . .«

»Mein Beruf. Ganz recht.« Er tut, als besinne er sich plötzlich auf etwas, was immerhin noch in Frage komme. »Das sollte man meinen, nämlich, daß Tätigkeit einem darüber weghilft . . . Hören Sie. In den letzten Monaten habe ich fünfzehn Stunden täglich gearbeitet, wie ein Sklave geschuftet, so daß selbst mein Chauffeur zwischendurch schlappgemacht hat. Geld kommt herein . . . Jawohl. Aber es ist doch nicht das Geld, dem man im Grunde nachjagt. Es ist Sucht nach Betäubung, ich meine den eigentlichsten Wortsinn: taub sein. Es ist ein Gezappel, eine stete Flucht. Wovor? Vor diesem Schrei, der einem gellend 81 folgt. Vor der Sonne. Vor Indien. Wir werden den Platz räumen müssen. Jawohl . . . Dies gehört uns alles nicht.«

»Sie schweifen ab . . .«

»Nein . . .« sagt er heftige »wir bauen hier allerhand hin, wir erziehen, wir peitschen Geld hervor. Ein ziemlich roh gezimmertes Tischleindeckdich . . . Ein Sommerhäuschen stülpen wir auf die dünne Lava. Jeder rechtschaffene Vulkan muß sich darüber amüsieren! Es ist nicht bloß das Volk, das sich siegreich hineinwurmt in unser Dasein, – so hieß doch Kusumas Ausdruck? – Es ist die Natur hier, die nicht mit sich spaßen läßt. Es ist die Einheit, Indien genannt; auch das Volk gehört zur Natur, zur tückischen, schönen: wir sind kleine wesensfremde Schmarotzer; man unterminiert uns . . . Man haßt uns hier. Wir paffen nicht hier her. Wir nähren den spekulierenden Zorn uns unfaßbarer Gedankengänge; je mehr wir auftrumpfen, desto sieghafter wimmeln sie hervor; weiße Ameisen. Kusuma selbst ist so ein Ameisennest . . . Es rächt sich, es rächt sich.«

»Aber wir wollten von Ihnen sprechen!«

». . . Also ich betäube mich; dann halte ich's aus. Es ist ein Affentheater; man geht dem Osten mit der letzten Wissenschaft zu Leibe; und der Osten läßt sich impfen und verarzten mit der lähmenden Freundlichkeit, die immer fern sitzt, immer ungreifbar; und dann wird Geld auf die Bühne geworfen. Hilft es, dann war es im östlichen Sinn nicht die Medizin, sondern die Besprechung; die Andacht, die guter Wille mit schweißtreibender Geschäftigkeit erzeugt; 82 die Andacht des Publikums in der Opera Stamboel . . . Das Amüsement am westlichen Eifer . . . Aber ich war relativ glücklich. Die Zufriedenheit des Berufssklaven. – Ihr Mann – mit dem fing ich doch an? – ist mir also eine Leibrente schuldig. Ich bin kein Arzt mehr, seit er anrief.«

»Deutlicher, Doktor; deutlicher . . .«

»Nun – ich sah Sie. Und seitdem bin ich nicht mehr ganz einverstanden mit mir. Ich kann nicht mehr.«

»Um Gottes willen . . . Was ist das für ein Unsinn . . . Sie sind verwirrt.«

»Nein, ich bin nicht verwirrt . . .« sagt er abwesend, »ich bin Mensch.«

Sie ergreift ihn heftig am Arm und sieht ihn starr an. »Es ist gut. Bleiben Sie Mensch. Spannen Sie sich aus. Ich helfe Ihnen.«

»Sie helfen mir . . .?«

– – In diesem Moment prallt sie zurück. Sie steht ganz einsam da. Ihr Blick ist auf den Eingang des Hotels geheftet. Ein schwarzer Schattenriß steht dort, halb im Dunkel seitlich aufgepflanzt, an der untersten Stufe. Er steht bewegungslos da und scheint zu spähen. Und es kommt ihnen beiden zum Bewußtsein, daß die Musik, dieser letzte, besonders ausgedehnte Jazz, seit mehreren Minuten verklungen ist.

Kehmerdill hat einen Laut von Nora gehört, ein plötzliches Einsaugen der Luft durch geschlossene Zähne. Sie steht wie im Krampf. Der Schildpattfächer rasselt, von ihren Fingern mißhandelt, an der Hüfte.

83 Dann sagt sie tonlos: »Kommen Sie – wir müssen zurück.« Und mit leicht gesenktem Kopf geht sie ihm voran, tritt in die grelle Lichtstraße aus der Finsternis des Waringinbaumes hervor, geht tastend, mit kleinen unlustigen Schritten, der dunklen Figur entgegen, die immer noch, als sie jetzt weiß aus dem Schatten tritt, wie eine Ausgeburt dieses Schattens wirkt. 84


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