Willy Seidel
Schattenpuppen
Willy Seidel

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Die kleine Wissenschaft

Grauer Graphit ist der Himmel; lappig hängen die Blätter, schwer von Tau.

In der Morgendämmerung Weltevredens, um fünf Uhr, gleitet der Raden Kusuma unter seinem Mückennetz hervor und geht unter die Dusche. Dann wechselt er das Hüfttuch mit frischen Pyjamas aus leichter Baumwolle; er vagiert im Hause umher, lauscht ein wenig, schnuppert: endlich geht er in den Garten und späht in den Himmel. Steigen die Töne des Subh, des Morgenanrufs herüber vom Westen, über Meere voll glutflüssiger Öde? –

Hat er sonst einen Grund zur Unruhe? Was treibt ihn dazu, über die Einfahrt zu gehen und den ausgestorbenen Parapatan hinabzuspähen, den Wänden von gezackten und gefiederten Blättern entlang? Die Sterne sinken blinzelnd ins Nichts. Die Luft ist noch voll von Fledermäusen und vom Singsang irrender Moskitos.

Er schleicht zurück. Mit leisem Zungenschnalzen weckt er die Murmeltiere in seinem Haus. Bei jedem dritten Schritt stößt er flüsternde Befehle hervor. Er geht durch die drei Zimmer der Frauen: aneinandergepackt, dunkle Klumpen, liegen sie unter den 120 Netzen. Sein Durchgang bringt einen Luftzug in die Schwüle.

Leises Gurren erhebt sich; man blinzelt, man rührt sich. Wasserhähne brausen. Dann wählt Kusuma einen Sarong und eine Tuchkappe gleichen Musters aus dem Kampferholzverschlag, kleidet sich mit drei Handgriffen an und setzt sich auf die Veranda, wo bereits der Kaffeextrakt nebst heißer Büffelmilch auf ihn wartet. Er nippt und starrt in den Garten. Seine Pupillen sind ganz groß; seine Lider schwer. Verwüstet sieht er aus; die Frühe kleidet ihn nicht.

Es wird heller. Schale Wärme treibt vorüber, die sich unter den Schirmblättern verfangen hat; die abgestandene Hitze von gestern. Sie duftet nach gärendem Abfall, nach Staub. Doch mit dem zarten Hellblau, das fächerhaft in die Szene dringt, springt die morgendliche Brise auf: tönendes Rascheln. – Lauschend fährt der Kopf Kusumas empor.

Das Schnurren eines einsamen Autos mischt sich in das Flöten der rotbeinig umherstelzenden Starvögel. Plötzlich ist es da und schwenkt scharf gedreht in die Einfahrt ein. Kusuma ist flugs im Hause verschwunden. Man überrumpelt ihn: gut; man soll warten.

Und wie überrumpelt man ihn! Denn nicht nur die Besuchszeit ist eigenartig. Es handelt sich um einen stadtbekannten Mischling: den Doktor med. Hendrijk de Ruyter . . .

Ist nicht die unendliche Reserve sprichwörtlich, die Kusuma sich Halbblütlern gegenüber auferlegt? Und 121 was tut nun Herr de Ruyter? Er bricht mir nichts, dir nichts durch den Zaun . . .

Kusuma beobachtet den Besucher durch die Jalousienritze. Da sitzt der große Tölpel; er schnaubt und fächelt sich mit der Visitenkarte. Inzwischen hat er auch festgestellt, daß die Kaffeetasse noch heiß ist; daß mithin der Hausherr zugegen sein muß. Da steht das Auto. Wenn es dem Hausherrn gefällig ist, kann er Notiz davon nehmen.

Kusuma erscheint mit einem offenen Lächeln. Seine Abwesenheit war eine Kaprice! Was bedarf es törichten Versteckspiels! Er legt seine feingegliederte Hand in die weiche Pranke des Riesen, der sich erhoben hat – übermäßig schnell, möchte man meinen, für seine Größe.

»Ah . . .,« sagt der Raden. »Man ist sich schon begegnet, wie? – Mijnheer de Ruyter . . . Bitte, bleiben Sie bequemstens sitzen.« – Er klatscht in die Hände und wirft über die Schulter: »Kaffee . . .« – Der Schritt eines Dieners verlischt im Hintergrund.

Kusuma fragt durchaus nicht: »Was führt Sie her?« So ungeheuer plump ist man hierzulande nicht. Er sitzt freundlich da und seine ganze Person atmet: »Ich bin geschmeichelt, daß Sie hier sind. Ich bin, mein Herr, ein unbeschäftigter Tagedieb; Sie dagegen stecken voll nützlicher Arbeit. Verfügen Sie über mich.« Er zieht die Brauen hoch.

Mit etwas belegter Stimme sagt Hendrijk: »Eigentlich sollte ich jetzt, um halb sechs, schon in der ›Stovia‹ sein, Raden. Doch mein Weg führt in Ihre Nähe . . . 122 Weil ich den ganzen Tag beschäftigt bin, und Sie abends politischen Gesprächen beiwohnen, so nehme ich mir den Mut zu einem fliegenden Besuch . . .«

»Sie sind stets willkommen, Mijnheer.«

Hendrijk erhält seinen Kaffee, mischt ihn und schlürft das Schälchen in einem Zug leer, wobei seine Unterlippe sich schöpflöffelähnlich vorstreckt. Dann raucht er gedankenvoll und auf seiner Stirn bilden sich Wülste. Kusuma wartet voll Freundlichkeit. Hendrijk gibt sich einen Ruck.

»Eine alte chinesische Dame hat sich in meine Privatbehandlung gegeben. Sie erklärt, von meinem Schwager geschickt zu sein. Der Fall ist interessant.«

»Gewiß auch einträglich.«

Hendrijk sieht etwas verdutzt drein. »Auch das. Es ist eine wohlhabende Dame. Man einigt sich. – Mein Schwager kränkelt und hat den Fall deshalb nicht selbst übernommen. – Fiel Ihnen in letzter Zeit nichts an ihm auf?«

»Mir? – Wir sehn uns nicht häufig.«

»Doch Sie sind mit ihm befreundet.«

»Gewiß.« – Der Raden prüft den Besuch aus den Liderritzen.

»Nun gut. Ich stelle die Frage nur, weil Sie neulich bei ihm waren.«

»Ah . . .«

»Die chinesische Dame hat einen Tumor. Ich bedarf einer Rücksprache mit Doktor Kehmerdill darüber. Ich weiß aber nicht, wo er seinen Erholungsurlaub verbringt. Gewiß können Sie mir seine Adresse geben.«

123 »Ich erfahre von Ihnen, daß er fort ist. Ich bedaure.«

Hendrijk sieht grübelnd, mit leicht schielenden Augen, auf die Tischplatte.

»Vielleicht wenden Sie sich an Doktor van Affelen?«

»Das war das Nächstliegende. Er konnte mir nicht dienen.«

»Wie bedauerlich für die alte Dame! Ich kann mir denken, daß das Schicksal dieser Patientin Sie schwer belastet; die Vorgeschichte des Falles ist sicher von größter Wichtigkeit . . . Nun, und Mijnheer Heyermans?«

Eine seltsame Veränderung geht mit Hendrijk vor. Seine Augen treten kugelförmig heraus; die dunkle Tönung seines schlaffen Gesichts nimmt Aschenfarbe an. Er schwitzt vor Anstrengung sich zu beherrschen; er schluckt mehrmals hinunter. Als er damit fertig ist, sagt er weltmännisch: »Sie haben recht, Raden. Es ist denkbar, daß Mijnheer Heyermans Bescheid weiß. Doch von meinem Standpunkt aus betrachte ich ihn als Exponenten der – Reaktion. Abgründe trennen uns. Es ist keine persönliche Antipathie, beileibe nein. – Aber das Prinzip.«

»Nur das Prinzip,« pflichtet der Raden verständnisvoll bei. »Und Sie vermuten, daß ich . . .«

»Daß Sie, Raden, in der Lage sind, Heyermans um die Adresse zu bitten. Das wäre nicht auffallend, da auch Sie mit dem Doktor befreundet sind.«

»Ich begreife. Die alte Dame besteht energisch auf schleunigster Hilfe.«

Alle Nerven zucken in Hendrijks Gesicht. Er hat es wahrhaftig nicht leicht.

124 »Mijnheer de Ruyter,« spricht Kusuma gelassen, – »ich werde an Ihren Wunsch denken.«

Hendrijk schnellt empor. Er hat sich wiedergefunden. Man schüttelt einander die Hände; ja, Kusuma hilft ihm persönlich ins Auto hinein.

 

Ganz ohne Grund ist die witternde Unruhe des frühen Morgens nicht gewesen. Befremdend war der Einbruch des Indos; ganz und gar aus dem Rahmen fallend. Irgendwo, auf der Bühne hinter dem Tuch, hat man schon die Schattenpuppen aus ihren Gestellen hervorgeholt; soll er, Kusuma, der Regisseur sein, der ihre Stiele erfaßt?

Schon zuckt es in seiner Hand. Noch aber fehlt der Deklamator, und mit ihm der eigentliche Sinn des kommenden Dramas.

Grübelnd steht er da, dann verschwindet er wieder im Haus. Der volle Vormittag ist da mit schluchzenden Verkäuferschreien, mit Ponygetrappel und Hitze.

 

Die Hitze! – Sie nistet wieder auf dem Koningsplein. Jetzt, um elf Uhr, zittert sie wellig über den flachen Baumkronen am Saum. Was stellt jene Anordnung hölzerner Bungalows vor, die um ein sparsam lackiertes Blechdach gruppiert sind? Ist das ein Camp? Eine Minenstadt? Es ist ein Hotel: das zweite beste in Weltevreden. – Es ist teuer und hat den Vorzug Fremde von Distinktion zu beherbergen. So verpflegt es auch seit gestern abend einen Hamburger Großhändler namens Erdbrink, der in etwas 125 nervöser Verfassung in einem Mietauto noch spät von Buitenzorg eingetroffen ist und bis drei Uhr nachts auf der Terrasse eine erstaunliche Menge hochprozentiger Getränke zu sich genommen hat.

Seit sechs Uhr früh ist er schon wieder munter. Zunächst steuert er auf das Deutsche Generalkonsulat zu. Im Begriff, dem sehr aufgeweckten und trotz Beleibtheit ungeheuer tätigen Machthaber des »Auswärtigen Amtes« seine Karte zu schicken, zögert er plötzlich. Seine feuchte fahrige Hand zerknüllt die Karte. Schwer läßt er sich ins Polster zurückfallen. Es hat keinen Zweck, gewisse Dinge an eine Glocke zu hängen, die zwar nicht groß ist, doch immerhin hinreichend penetranten Schall besitzt. Auch wäre das (ist er denn ganz von Gott verlassen?) Teufel ja, viel zu überstürzt . . . Ohne Beweise kann man hier nicht kommen. Warum ist er nicht sofort auf das Naheliegendste geraten? Überrumpeln muß man! Er hat Angst gehabt, Angst vor dem eigenen Körper, der auf eine unüberlegte Tat zuschnellen würde; Angst vor der Wirkung der eigenen rotgeränderten Augen! . . .

Aber er ist ein Kraftmensch! Er hat sich in der Hand! Gewitterwolke wird er sein; gewiß. Aber es wird leise aus ihm donnern; spärlich blitzen. Das Geschöpf, dem er nachjagt, hat einfach den Sonnenstich. Zuerst hat sie sich vergiften wollen und nun brennt sie durch . . .

Wohl ist sanfte Gewalt nötig, um sie von hier wegzuschaffen. Doch wenn man sie auf dem Schiff hat, dann schont man sie, ist reizend, macht es anders in Zukunft, ganz anders . . . Das kleine verrückte 126 Tierchen! Das außer Rand und Band geratene Herz! – »Nora!« flüstert er gekränkt. Feuchte dringt in seine entzündeten Augen. Diesem Schleicher, dem Doktor, wird er ganz gemütlich die Meinung sagen; ho, ja. »Nichts für ungut, Verehrter,« wird er sagen. »Sie waren so nett, meiner Frau Gesellschaft zu leisten. Nun, mit Verlaub, nehm' ich sie wieder weg. Sagten Sie etwas, bitte? Denn adjüs, bis auf weiteres . . .« Es ist ihm leider nicht vergönnt, die gewünschte Szene zu arrangieren. Denn auf des Doktors Veranda steht Nas, der Chauffeur. Und Nas wiederholt auf sechs atemlos hervorgestoßene Fragen immer nur sein sanftes papageienhaftes: »Tuan Kehmerdill? Tida ada.« (Ist nicht da.)

Das wiederholt er in ganz entrüstet hellem Ton, als der gewaltige Tuan Erdbrink ihn einfach beiseite schiebt und ins Haus einbricht. – Erdbrink geht mit wuchtigen Schritten durch alle Zimmer der Villa. Bald sieht er die Sinnlosigkeit der Suche ein; er versucht es bei Nas mit einem Trinkgeld. Zwar gefällt diesem ein Zehnguldenschein, der ihm gezeigt wird; er glänzt übers ganze Gesicht. Doch das ändert nichts daran, daß er durchaus unausgiebig bleibe und keine Ahnung von der Adresse hat.

Nach einem langen stotternden Palaver in seinen dreieinhalb malaiischen Worten, verfällt Erdbrink darauf, Doktor van Affelen anzurufen. Van Affelen ist höflich aber bestimmt. Und als Erdbrink ihn, wieder erregt, schlechten Willens bezichtigt, hängt er einfach ab.

Erdbrink grübelt; dann fährt er zum »Des Indes«.

127 Er setzt sich auf ein Korbstühlchen an den Cocktailtischen und verlangt den »Tuan besar«, den Manager, zu sprechen. Eilig nähert sich ihm dessen Schritt durch die Halle. Die Hände im Rücken verkettet, verbeugt sich Salbeiblatt und blickt ihn dann langwimprig an voll schlehenäugiger Demut, wie ein belgischer Rammler während seiner Salatsiesta. Sein Gesicht aus rosa Lack verrät die überrumpelnde Ehre kaum, mit der er ja auch schließlich fertig wird. Ehre, wem Ehre gebührt, drückt seine Miene aus. Dies ist Großhändler Erdbrink. Man entsinnt sich seiner aparten Frau. Nun hat er ein großes Geschäft gemacht und gönnt sich ein Schnäpschen. – Allmählich kann es ihm jedoch nicht entgehen, daß der Großhändler stark erregt ist. Enorme Sorgen müssen das sein, wenn so ein Mann aus der Balance kommt. Um Millionen von Gulden handelt es sich. Da kann man gar nicht mitreden; das entzieht sich einem . . . »Und womit darf ich dienen, Herr Erdbrink?« Er haucht es hin.

»Ah . . . Herr Direktor,« sagt Erdbrink, »ich möchte nur eine kleine Frage stellen. Ist Ihnen der jetzige Aufenthalt von Doktor Kehmerdill bekannt?«

»Doktor Kehmerdill . . .« Salbeiblatt zerkostet den Namen auf der Zunge; sein Blick wandert ins Leere. »Ist er verreist?«

»So sieht es aus,« grunzt Erdbrink und trommelt auf das Tischchen.

»Das gönne ich ihm,« spricht Salbeiblatt gütige »Er hat Urlaub genommen; so wird es sein. Gewiß bei Mijnheer Heyermans.«

128 »So schlau bin ich auch,« sagt Erdbrink streng. »Aber nun ist er fort.«

»Sind Sie krank, Herr Erdbrink? Oder gar die gnädige Frau?«

Erdbrink lacht unmotiviert auf. »Sie könnten recht haben. Anfangs bildete ich mir zwar ein, meine Frau vertrüge das Klima besser als ich. Doch das beiseite: Wissen Sie nichts? Er hat seine Adresse nirgends hinterlassen.«

Hier kommt Leben in Herrn Salbeiblatt. Er gestattet sich, neben dem Großhändler Platz zu nehmen; den lachsfarbenen Kopf wiegend, spricht er sinnend: »Als ich sage . . .« Er schnalzt mit der Zunge, tuk, tuk; ein Blinder kann sehen, daß er etwas auf der Pfanne hat. »Mein Gott. Herr Doktor Kehmerdill ist also verduftet; gänzlich unauffindbar . . . Sehr interessant, Herr Erdbrink.« Er legt die Hand gespreizt vor den Mund. »Nein, diese Weiber!!« ruft er endlich voll gedämpfter Schelmerei . . .

Erdbrink dreht sich ihm massiv drohend zu. Er ist grau; seine Augen sind gläsern. »Was wollen Sie damit sagen?!« stottert er mit rauher Stimme. Schleunigst nimmt Salbeiblatt die Hand wieder vom Mund.

»Nein . . . ist es möglich!« klagt er mit sanfter Stimme. »Wie man hier nervös wird, wenn man erst kurz im Land ist! Es ist ja schrecklich! Beruhigen Sie sich doch, Herr Erdbrink, es gibt andere Ärzte . . . Tuk, tuk! – Und Herr Doktor Kehmerdill liegen in Scheidung . . .«

»Was??«

»Seine Frau ist eine Indo, Gott schirme ihn. Diese 129 Leute sind skrupellos. Ich will nichts gesagt haben, der Himmel ist mein Zeuge. Aber es wäre nicht das erste Mal, daß . . . Gott; Sie kennen Indien nicht, Herr Erdbrink. – Sie kennen Indien nicht!«

Erdbrink entspannt sich. »Weiter, weiter! Das ist ja interessant.«

»Morden Sie mich, aber schweigen Sie!« – Salbeiblatt blickt sich um, ob kein Djonges in der Nähe ist. »Herr Doktor Kehmerdill sind sehr erholungsbedürftig! Diese Mischlingsweiber sind hartgesottene Töchter Satans und schaufeln manch entzückendem (– er sagt: ›ensöckendem‹) Mann sein frühes Grab. Sie stellen Ansprüche, verstehen Sie, plündern und saugen aus. Die ganze Manneskraft, ich bitte, verdunstet. So ist es. Und bei dieser Hitze . . . Oh, man muß sich schonen. Ich habe die Liebe immer abgelehnt und mich konserviert. Jetzt hat der Doktor auch Schluß gemacht, aber falsch hat er es angefangen. Es kostet Geld. Und das hat er nicht daran wenden wollen. Hinausgeschmissen hat er das Geschmeiß. Ich habe gewarnt!! Als der Doktor das letztemal hier war, in Ihrer und Herrn Heyermans Gesellschaft, da trat ich herzu mit warnendem Finger. Aber eigenwillig sind die Herrschaften; nichts sagen lassen wollen sie sich; und was ist man selbst? Unke, heißt es; marsch in die Küche! – Bambushärchen sind noch das Mildeste auf seinem Menu! Er hat sich aus dem Staub gemacht. Die Indos spionieren; Luchsaugen haben sie; Gott gebe, daß er dem Schicksal entgeht . . . Da haben wir den Indoeuropäischen Verband; sein Schwager sitzt im Vorstand; da haben wir diesen Arzt de Ruyter; überall, 130 Gott, ist es so farbig, daß einem die Augen flimmern. Sicherlich hat er sich sehr gut versteckt. Ich kann ihn nicht finden; Sie können ihn nicht finden. – Ein Wespennest . . .« Er seufzt.

Erdbrink versucht klar zu denken. Ihm wirbelt der Kopf. »Nun, lassen wir das,« beschließt er und erhebt sich. »Auf alle Fälle wäre es für den Doktor besser gewesen, er hätte durch dick und dünn zu seiner Indo gehalten . . .«

»Wie meinen Sie das?« hört er die singende Frage im Rücken. »Wegen der Bambushärchen?«

»Auch deshalb,« sagt Erdbrink achselzuckend und spaziert hinaus. Er leistet sich diese Zweideutigkeit; er wirft Salbeiblatt Gedankenfutter hin; er ist so groß, daß ihm das nichts ausmacht. Ein großes Kind ist er.

Denn in jenem lachsfarbenen Kopf beginnt es bereits zu kombinieren. »Als ich sage . . .« flüstert Salbeiblatt. »Ist es möglich!« – Nach einer längeren Pause dreht er sich mit einem Ruck um und geht armschwenkend zu seinen Obliegenheiten zurück.


Erdbrink landet in seinem Hotelzimmer und läßt sich aufs Bett fallen. Er ist gewohnt, auf die Dinge loszugehen sie mit einem Hammer in die gewünschte Form zu schlagen. Doch jetzt? Er weiß nicht wie er das Gefühl beschreiben soll. Alles zerrinnt ihm, als greife er in einen Korb voller Aale.

Es gibt hier Leute, die haut man auf die Schulter, genau wie zu Hause; sie lachen und trinken einem zu; dann aber laufen sie auseinander und intrigieren. 131 Schakalmäßig hat man ihm sein Besitztum vom Leib gerissen, ohne Federlesen. Wenn man nur hier Bescheid wüßte . . . Vorgestern war er noch reich. Heute hat er die große offene Wunde, und niemand gibt ihm ein Pflaster. Es ist ein blutiges Mißgeschick.

Den Kopf durch die Knierolle hochgestützt, liegt er da, und seine grauen Augen voll triebhafter Trauer starren ratlos auf die eigenen Hände, die er auf der Brust gefaltet hält. Blondbeflaumte Seemannshände sind das, einschaufelnd und grobknochig. Kein Wunder, wenn etwas Feines zwischen diesen Fingern zerbricht.

Muß er sich selbst denn immer unterliegen? Müssen seine Scherze denn immer vierkantig bleiben? Und klingt die Munterkeit in ihm an wie ein verstohlenes Menuett: hat es zur Verlautbarung wirklich nur diese unmäßige Schallmuschel seines von Reue und schwer erfaßlichen Eindrücken belasteten und beengten Brustkorbs? Herr Erdbrink herbergt einen kleinen Finken in sich, der munter zirpt und klug zu lieben verstünde. Der hüpft auf den Sprossen seiner ungefügen Seele umher und sticht ihm – wie mit seiner Sonde – mit seinem süßen Piepton quer durchs Herz. Das peinigt; das ist ein Übermaß. Das ist wie zartes Gift. Dann randaliert Erdbrink und treibt rauhe Späße mit seinem liebsten Eigentum. Dann setzt er den kleinen Finken unter eine Dusche. Wie oft hat dieser sich schon schütteln müssen! – Aber jetzt hat er endgültig die Mauser.

Erdbrink erhebt sich vom Bett und rennt in dumpfer Pein im Zimmer hin und her. Er gerät an den 132 Spiegel, und als er sich sieht, wünscht er wohl, etwas mehr Anmut zu besitzen. Dann paßte er besser in die Welt hinein, besonders in dies Land. Plötzlich bleibt er stehen und haut sich mit der Faust vor die Stirn. Schemenhaft bewegt sich vor ihm ein feingeschnittenes Profil unter schmetterlingsbuntem Kopftuch, mit dunklen wissenden Augen: Kusuma. Diese Gestalt scheint ihm zuzuwinken. Ist dieser Eingeborene nicht mit dem Doktor befreundet? – Ha, dieser könnte etwas wissen; muß es wissen . . .

 

Es ist sieben Uhr abends. Kusuma hängt den Hörer des Tischtelephons ein, in das er lange und eindringlich hineingeflüstert hat. Es war nicht einfach, die Verbindung mit dem Chauffeur von Heyermans herzustellen. Darmawan ist instruiert worden, des Doktors Adresse zu stehlen. Noch hat Kusuma sie nicht; doch alles ist gut unterwegs.

Da wird ihm Besuch gemeldet. Er dreht die Karte zwischen den Fingern. Aha, das ist dieser Deutsche, den er neulich beim Doktor getroffen. Offenbar ein Höflichkeitsbesuch. Er blickt durch die Jalousienritze: auch dieser ist ein Riese wie de Ruyter. Ein mächtiger Pionier ist das, ein westliches Trampeltier. Wie aufmerksam ihm dieser neulich gelauscht hat, als der Witz aus dem Volksraad fiel. Doch wo steckt die Frau?

Kusuma trägt sich diesmal europäisch, in Rohseide. Seine Füße stecken weißbesockt in Pumps. Gespannt und witternd tritt er aus dem Hintergrund. Erdbrink sieht das Männchen kommen. Sie begrüßen 133 sich: der Javane reicht ihm knapp bis zur Krawatte. Verbindlichkeiten zischelnd, schmiegt sich Kusuma in den Stuhl. Hat er bei Hendrijk noch einen Rest von autochthonem Mitgefühl empfunden, so gibt es diesem wildfremden Kapitalisten gegenüber keine Brücke. – Seine schwarzen Augen warten.

Aber der Herr findet den Faden nicht. Er scheint sehr erregt. Offenbar kommt der Mensch, je größer er ist, desto leichter aus dem Konzept. Dann platzt er mit derselben Frage heraus, die auch den ersten Besucher heute drückte: nach der Adresse des Doktors.

Wider Willen lächelt Kusuma in die traurigen wühlenden Augen hinein. Da muß ein Zusammenhang sein! Man ist Kehmerdill hart auf den Fersen. Zuerst kommt sein Schwager und zerrt die alte Chinesin an den Haaren herbei, um eine Absicht zu kachieren; nun kommt dieser Herr, der nur flüchtig mit dem Doktor bekannt ist, der Mann einer aparten Frau, die ihm, Kusuma, beunruhigend im Blute gespukt hat seit der damaligen abendlichen Unterhaltung . . . Einstweilen, denkt er, bleibe ich im Mittelpunkt. Statt eines gierigen Reflektanten auf die kleine Wissenschaft, die ich vielleicht in kürzester Zeit in Händen halte, gibt es jetzt bereits deren zwei . . .

Er schüttelt langsam und bedauernd den Kopf. Die Frage wird heiser wiederholt, doch es hilft nichts.

Wenn man die halbe Nacht nach einer Bergbesteigung gezecht hat und den ganzen Vormittag auf atemraubender Suche war, und dies alles bei 38 Grad Celsius im Schatten, so ist solche Strapaze geeignet, noch stärkere Leute umzuwerfen. Kusuma sieht, wie 134 sein Besucher ein paarmal die Luft heftig einzieht und zur Seite des Stuhles langsam hinuntergleitet. Blitzschnell ist er bei ihm, um den Sturz zu bremsen. Dann klatscht er in die Hände und ein Schwarm von Dienern bemüht sich um den ohnmächtigen Tuan.

Sie sind eine gute Anzahl, und doch stöhnen sie, während sie sein Gewicht auf die Couchette neben Kusumas Arbeitsraum verfrachten. Der Gang nach hinten füllt sich mit den Silhouetten flüsternder Frauen, die sich zum Schauspiel drängen. Von diesen löst sich die Ratu ab, zierlich, vogelfüßig, und bringt ein Flakon mit Riechsalz. Kusuma nimmt es und winkt ihr ab. Voll gruselnder Neugier, die prächtigen Augen zurückgewandt, verschwindet sie zögernd. Kusuma löst Erdbrinks Kragen und schiebt ihm das Salz unter die Nase. Ist ein Arzt nötig? – Intuitiv durchschaut der Javane den Zustand. Bis sich Erdbrink erholt, wird höchstens eine Stunde vergehen. Er stellt den Ventilator an und legt ihm eine kalte Kompresse auf die Stirn. Dies hat zur Folge, daß Erdbrink bereits nach fünf Minuten die Augen öffnet. Noch ist ihm sehr übel.

Kusuma legt seine Hand wie ein fallendes Blatt auf Erdbrinks Stirn. Dieser sieht nichts als zwei Augen, groß und schwarz. Wenn auch alles um ihn verschwimmt: diese Pupillen, die ihn völlig ausfüllen, bleiben bestehen als ruhende Pole. – »Es geht Ihnen gut, Mijnheer,« hört er wie aus weiter Ferne eine tröstend rieselnde Stimme. »Sie sind etwas müde . . . Sie wollen schlafen.« – Und langsam legt sich ein Druck auf seine Glieder, der sacht wächst; eine 135 geruhige purpurne Finsternis öffnet sich. Kleines fragendes Klopfen bleibt noch lebendig. Aber das ist nicht lauter als eine Trommel im Kampoeng.

Kusuma löst die Finger von Erdbrinks Lidern, fährt streichelnd über die Brust – welch eine Brust! – dann an den Armen entlang, und fühlt das Wiedererwachen des Pulses. Ein tiefer fauchender Atemzug. Erdbrink schläft.

Da schnurrt das Tischtelephon. Der Raden geht hinüber und lauscht hinein. Dann sagt er kurz:

»Gut.« 136


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