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Siebzehntes Kapitel.

Doch was ist dies? – Gehörts dem Lande an
Oder der See? – doch scheint es weiblichen
Geschlechts – das so bedeckt, geschmückt und bunt
Dahergesegelt kommt?

Milton.

Jeanie fühlte sich um so einsamer in Butler's Abwesenheit, da der gute Alte nicht mehr war, auf den sie sonst einen Theil ihrer liebevollen Sorgfalt übertragen. Ihre Kinder waren ihr einziger Trost, und sie widmete ihnen eine ununterbrochene Aufmerksamkeit.

Als sie einige Tage nach Butler's Abreise mit wirthschaftlichen Angelegenheiten beschäftigt war, hörte sie einen Streit unter dem jungen Volk, der mit einiger Hartnäckigkeit geführt ward, und ihre Vermittlung zu fordern schien. Alle kamen mit Klagen zu ihrer natürlichen Schiedsrichterin. Die noch nicht zehnjährige Femie beschuldigte ihre Brüder, sie hätten ihr ein Buch mit Gewalt fortnehmen wollen. Jene vertheidigten sich. David, der älteste, sagte es sei kein Buch für Femie; und Ruben setzte hinzu, es handle von einem schlechten Weibe.

»Und wo hast Du das Buch hergenommen, Du kleine Unart?« fragte die Mutter. »Wie darfst Du des Vaters Bücher nehmen, wenn er nicht da ist?«

Aber das kleine Mädchen erklärte, indem sie einen zerknitterten Bogen Papier fest in den Händen hielt, es sei keins von des Vaters Büchern, Marie Hettly habe es von dem großen Käse abgenommen, der von Inverary herübergeschickt worden. – Denn es hatte stets zwischen Jungfer Dolly Dutton, jetzt Frau Mac Corkindale, und ihrer ehmaligen Reisegefährtin ein freundschaftliches Verhältniß und ein Austausch von Höflichkeitsbezeigungen stattgefunden.

Jeanie nahm der Kleinen das bestrittene Papier aus der Hand, um selbst zu sehen, in wie fern es ein schicklicher Gegenstand für ihre Forschbegier sei. Wie betroffen ward sie aber, als sie auf dem Titelblatt las: »Die merkwürdige Rede, das Geständniß und die letzten Worte der Margarethe Mac Craw oder Murdockson, welche den … Anno 1737 auf dem Harabeeberge bei Carlisle hingerichtet worden.«

Es war in der That eins jener Papiere, welche Archibald vorlängst von einem Krämer erstanden, und Dolly Dutton aus weiser Sparsamkeit in ihren Reisekoffer gepackt hatte. Einige Abdrücke waren noch zu Inverary in irgend einem Winkel liegen geblieben, bis Dolly sich ihrer bediente, einen vorzüglich gerathenen Käse als Geschenk nach Knocktarlitie zu senden.

Schon der Titel des Blatts reichte hin, Jeanie's Aufmerksamkeit zu fesseln; doch der Inhalt selbst schien so wichtig, daß sie sich von den Kindern losmachte, die Treppe hinauf zu ihrem eigenen Zimmer eilte, und sich dort einriegelte, um ihn ohne Unterbrechung zu lesen.

Die Erzählung besagte, Margaretha Murdockson sei wegen einer Beraubung und Mordthat hingerichtet worden, die sie zwei Jahre früher in Gemeinschaft mit dem berüchtigten Franz Levitt und Thomas Tuck, gewöhnlich Tyburn Thoms genannt, begangen; und für welche Ersterer bereits früher die Todesstrafe erlitten. Auf des letztgenannten Mitschuldigen Zeugniß gegen sie, sei ihr das Urtheil gesprochen worden, doch habe sie sterbend ausgesagt, daß er selber eigentlich den Todesstreich ausgeführt habe.

Ein kurzer Bericht ihres sündhaften Lebens folgte. Sie selbst hatte, nachdem sie verurtheilt worden, sich mancher ihrer Verbrechen gerühmt, unter Andern aber auch Folgendes ausgesagt. Als sie im vergangenen Sommer in der Vorstadt von Edinburg gewohnt, sei ein Mädchen ihrer Sorgfalt anvertraut worden, welche in ihrem Hause ein männliches Kind geboren. Ihre Tochter, die seit dem Verlust ihres eigenen Kindes immer nicht recht bei Verstande gewesen, habe dies neugeborne fortgetragen, indem sie es für das ihrige gehalten, von dessen Tode sie sich in ihrem Wahnsinn zuweilen gar nicht überzeugen können.

Nach Margarethens Aussage habe sie eine Zeitlang geglaubt, daß ihre Tochter das Kind in einer Anwandlung des Wahnsinns umgebracht habe, welche Vermuthung sie auch dem Vater desselben angedeutet; später aber habe sie erfahren, daß eine Zigeunerin es ihr abgenommen. Einiges Andere diesen Gegenstand betreffende hatte die alte Murdockson insgeheim dem Geistlichen bekannt, welcher ihr in ihren letzten Augenblicken beigestanden.

Von welcher Wichtigkeit war dieses Blatt für Jeanie! So ward ihr denn endlich ein glaubwürdiger Beweis für die Unschuld ihrer Schwester. Sie selbst zwar, so wie Butler und David Deans hatten Effie niemals einer absichtlichen Grausamkeit gegen ihr Kind fähig geglaubt; allein es lag ein dunkler Schleier über der Sache, und konnte nicht in einem Augenblick der Geistesabwesenheit das Schreckliche geschehen sein? Ueberdies hatte es ihnen gänzlich an den Mitteln gefehlt, Effie vor der Welt zu rechtfertigen, welches auch ihre eigene Ueberzeugung von ihrer Unschuld sein mochte.

Nachdem Jeanie die göttliche Güte für eine Entdeckung gepriesen, die ihrem Gefühl so theuer war, überlegte sie, welchen Gebrauch sie davon machen sollte. Es schien ihr das Beste, das Bekenntniß der Murdockson augenblicklich ihrer Schwester mitzutheilen, damit diese sich mit ihrem Gemahl darüber berathen könne. Auf dem gewöhnlichen Wege sandte sie einen Brief mit jener Schrift ab und sah mit Ungeduld der Antwort entgegen. Da längere Zeit verging und keine erfolgte, begann sie zu fürchten, ein so wichtiges Zeugniß sei in unrechte Hände gefallen. Schon wollte sie Butler Alles schriftlich mittheilen, und sich seinen Rath erbitten, als ein neues Ereigniß sie von diesem Vorsatz zurückhielt.

Sie ging eines Morgens nach dem Frühstück mit ihren Kindern am Ufer des Meerbusens spazieren, als der Knaben schärferer Blick des Hauptmanns Kutsche mit Sechsen in der Ferne erspähte. Das Boot, sagten sie, komme gerade auf sie zu, und es säßen Frauen darin. Jeanie wandte ihre Augen auf das herannahende Schiffchen, und bald wurden ihr zwei weibliche Gestalten sichtbar, die neben dem steuernden Duncan saßen. Es war der Höflichkeit gemäß, den Fremden bis zu dem Landungsplatz entgegenzugehen, um so mehr, da Jeanie sah, daß der Hauptmann feierliche Veranstaltung getroffen habe. Sein Pfeifer saß am obern Ende des Boots und brachte Töne hervor, welche melodischer klangen, weil die Hälfte derselben von Luft und Wellen verschlungen wurde. Ueberdies war Knockdunder's Perücke frisch gekräuselt und seine Mütze (er trug sie seit der Tressenhut im Wasser verunglückt war) mit dem rothen St. Georgskreuz geziert. Die herzogliche Flagge mit dem Eberhaupt wehte – Alles dies zeigte Prunk und Festlichkeit an.

Als Frau Butler dem Landungsplatz nahte, sah sie, wie der Hauptmann den beiden Fremden mit großer Höflichkeit aus dem Boot half. Die Gesellschaft kam dann auf sie zu, Knockdunder einige Schritte voran, und die Frauen hinter ihm, von denen die größere und ältere sich auf die Schulter der andern lehnte, die ihre Kammerfrau schien.

»Frau Butler,« begann jener mit tiefem, wichtig feierlichen Tone, »ich habe die Ehre Ihnen hier Lady – Lady – ei, ich habe Ihrer Gnaden Namen vergessen.«

»Es thut nichts,« sagte die Fremde, »Frau Butler wird wohl deshalb nicht in Ungewißheit sein. Des Herzogs Brief – sandten Sie ihr den Brief nicht gestern Abend, Herr?« setzte sie ein wenig empfindlich hinzu, als sie Jeanie's Verlegenheit bemerkte.

»Nein, in Wahrheit nicht, ich bitte Ihre Gnaden um Verzeihung. Allein ich hatte gerade kein Boot bei der Hand, und dachte, es würde Zeit haben bis heute, weil Frau Butler doch immer zu Hause ist. Hier ist der Brief von Sr. Durchlaucht.«

»Geben Sie ihn her,« sagte die Fremde, »da Sie nicht für gut gehalten haben, ihn gestern abzusenden, wie ich Sie doch darum gebeten, so will ich ihn selber abgeben.«

Mit gespannter Aufmerksamkeit und einem ganz besondern Gefühl der Theilnahme betrachtete Jeanie diese Frau, die so gebieterisch zu einem Gewalthaber wie Knockdunder sprach, und deren Befehlen er sich so willig fügte, denn er überreichte ihr den Brief mit den Worten: »Ganz wie es Ihre Gnaden beliebt.«

Die Fremde war von etwas mehr als mittler Größe, und ein wenig stark, aber von sehr schönem Gliederbau. Ihr Wesen war frei, edel und gebieterisch, und schien von einer hohen Geburt und stetem Umgang mit den vornehmen Ständen zu zeugen. Sie trug ein Reisekleid, einen Kastorhut und einen Schleier von brüßler Spitzen. Zwei Diener in reichen Livreen waren mit in der Barke gekommen; sie blieben in einiger Entfernung hinter ihr, und trugen einen Reisekoffer und Mantelsack.

»Da Sie den Brief nicht erhalten, der mich bei Ihnen einführen sollte, Frau Pfarrerin – Sie sind doch Frau Butler, nicht wahr? – will ich ihn auch nicht eher abgeben, bis Sie die Güte gehabt haben, mich ohnedies in Ihr Haus aufzunehmen.«

»Ohne Zweifel, gnädige Frau, wird Frau Butler dies thun,« sagte Knockdunder. »Frau Butler, dies ist Lady – Lady – die verdammten südlichen Namen wollen mir gar nicht in den Kopf. Aber die gnädige Frau ist eine geborne Schottin, ich glaube aus dem Hause –«

»Der Herzog von Argyle kennt meine Familie sehr wohl, Herr,« fiel die Fremde ein, mit einem Tone, der Duncan Stillschweigen gebieten sollte, und seine Absicht vollkommen erreichte.

Jeanie fühlte sich wie in einem jener lebhaften Träume, die uns durch ihre täuschende Aehnlichkeit mit dem Wirklichen quälen. Es war etwas von ihrer Schwester Effie in dem Ton und Wesen der Fremden; und auch, als sie den Schleier hob, wurden Züge sichtbar, an welche sich manchfache Erinnerungen knüpften.

Die Fremde war wenigstens dreißig Jahr alt, doch bei ihrer Schönheit und der Sorgfalt ihrer Kleidung konnte sie für ein und zwanzig gelten. Und ihr Betragen war so sicher und bestimmt, daß Jeanie, so oft sie eine neue Aehnlichkeit mit ihrer unglücklichen Schwester entdeckte, ebenso oft durch die Sicherheit und ruhige Selbstherrschaft der Fremden wieder von ihren Muthmaßungen zurückgeführt wurde. Schweigend und verwirrt führte sie sie den Weg zum Pfarrhause. Dort, hoffte sie, werde der Brief sie dieser bangen Verlegenheit entziehen.

Jene blieb indeß bei der Manier einer Frau von Stande. Sie bewunderte die Gegend, wie Jemand, der mit den Schönheiten der Natur und den Darstellungen der Kunst vertraut ist. Endlich zogen auch die Kinder ihre Aufmerksamkeit auf sich.

»Zwei hübsche Knaben. – Die Ihrigen, Frau Pfarrerin, nicht wahr?«

Jeanie bejahte es. Die Fremde seufzte, und seufzte zum zweitenmal, als ihr die Namen der Knaben genannt wurden.

»Komm her, Femie,« sagte Jeanie, die auch ihre Tochter vorstellen wollte, und halte hübsch den Kopf in die Höhe.«

»Wie heißt Ihre Tochter eigentlich, Frau Pfarrerin?«

»Euphemia, gnädige Frau.«

»Ich glaubte, die gewöhnliche schottische Abkürzung des Namens wäre Effie?« sagte die Fremde in einem Tone, der Jeanie durch das Herz ging; denn in diesem einzigen Worte war mehr von ihrer Schwester, mehr von alten, längstvergangenen Zeiten, als in allen Erinnerungen, die das Wesen und die Züge der Fremden bereits in ihr geweckt.

Im Pfarrhause angekommen, drückte die Lady ihr den Brief in die Hand, und fügte die Bitte um etwas Milch hinzu. Frau Butler entfernte sich, gab der alten Marie Hettly den Auftrag, der Fremden das Gewünschte zu bringen, und eilte mit dem eben empfangenen Schreiben auf ihr Zimmer.

Sie öffnete das Siegel des Umschlags und fand zwei Briefe darin. Der eine war von dem Herzog von Argyle. Er bat Frau Butler auf's Dringendste um ihre freundlichen Bemühungen für eine genaue Freundin seines verstorbenen Bruders, die Lady Staunton von Willingham, welche eine Zeitlang in Roseneath wohnen werde, um die Ziegenmolken zu trinken, während ihr Gemahl eine kleine Geschäftsreise in Schottland mache. Das zweite Schreiben, bestimmt Jeanie vorzubereiten, war von Lady Staunton selber. Sie berichtete ihrer Schwester, daß die erhaltene Kunde ihren Gatten zu dem Entschluß gebracht habe, selbst nach Carlisle zu gehen, um dort Einiges über das Bekenntniß der alten Murdockson zu erfahren. Da seine Bemühungen nicht ganz ohne Erfolg gewesen, habe sie durch dringende Bitten und das Versprechen des strengsten Geheimnisses die Erlaubniß eher von ihm erpreßt als empfangen, einige Wochen in der Nähe ihrer Schwester zuzubringen, während er weitere Nachforschungen anstelle. In einer Nachschrift wurde Jeanie gebeten, über Zusammenleben in dieser Zeit ganz und gar Lady Staunton bestimmen zu lassen, und sich dem zu fügen, was sie für nothwendig erachten würde.

Nachdem sie diesen Brief wiederholt gelesen, eilte Jeanie die Treppe hinunter, schwankend zwischen der Furcht sich zu verrathen, und dem glühenden Verlangen, ihrer Schwester um den Hals zu fallen. Effie empfing sie mit einem eben so liebevollen als warnenden Blick, und begann sogleich zu sprechen.

»Ich habe dem Herrn Hauptmann eben gesagt, wenn Sie, Frau Butler, mich und meine Leute in Ihrem Hause aufnehmen könnten, würde ich viel lieber hier bleiben, als zu Roseneath. Man hat mir gerathen, dem Orte, wo die Ziegen weiden, so nahe als möglich zu wohnen.«

»Ich versicherte aber der gnädigen Frau,« nahm Duncan das Wort, »sie würde doch drüben gemächlicher wohnen und die Thiere könnten ja herüber geholt werden, da es schicklicher sei, daß die Ziegen der gnädigen Frau aufwarten, als sie den Ziegen.«

»Meinetwegen bemühen Sie die Ziegen ja nicht,« sagte Lady Staunton; »ich bin überzeugt, die Milch ist hier besser.« Sie warf dies mit einem gewissen nachlässigen Ueberdruß hin, wie Jemand, gegen dessen Laune keine Gründe anwendbar sind.

Jeanie gab sogleich ihre Bereitwilligkeit zu erkennen, die gnädige Frau in ihr Haus aufzunehmen. Duncan machte zwar noch einige Einwendungen, Lady Staunton wies ihn aber damit ab und suchte ihn auf die höflichste Weise von der Welt los zu werden, indem sie ihn bat, ihre übrigen Sachen von Roseneath herüber bringen zu lassen. Im Herzen beleidigt, daß man ihm wie einem Diener befehle, ging Knockdunder mit einem heimlichen Fluch gegen die englische Unverschämtheit, und nahm sich vor, der armen Frau Butler zur Bewirthung dieser unerwarteten, aufdringlichen Gäste wenigstens das Wildpret zu schicken, welches er selber schon zu diesem Zweck hatte schießen lassen.

Im ungestörten Beisammensein überließen sich die Schwestern jetzt ganz und gar ihren liebenden Gefühlen, und jede von Beiden zeigte sie auf eine ihrem Wesen eigenthümliche Weise. Jeanie, von Erstaunen und Verwunderung übermannt, war still, in sich gekehrt, in einem Zustande der Betäubung. Effie dagegen weinte, lachte, schluchzte, schrie, schlug die Hände vor Freude zusammen, alles im Zeitraum von fünf Minuten, indem sie so auf einmal ihrer natürlichen Lebhaftigkeit freien Lauf ließ, die sie sonst durch eine erkünstelte gute Lebensart in Schranken zu halten wußte.

Nachdem ihnen in Liebkosungen und traulichem Gespräch eine Stunde wie ein Augenblick vorübergegangen, sah Lady Staunton den Hauptmann unter dem Fenster mit ungeduldigen Schritten auf und abgehen. »Da ist der lästige Narr schon wieder,« sagte sie, »ich werde ihn bitten, uns mit seiner Abwesenheit zu beglücken.«

»Ach nein, ach nein,« bat Jeanie die Schwester, »beleidige ihn nicht.«

»Beleidigen?« erwiederte jene, »Niemand fühlt sich je von dem, was ich sage oder thue, beleidigt, meine Liebe. Doch wenn Du es verlangst, will ich ihn dulden.«

Dem zufolge war Lady Staunton so gnädig, den Hauptmann zum Mittagessen einzuladen. Und einen drolligen Gegensatz bildete während dieses Besuchs seine streng abgemessene Höflichkeit gegen die Frau von Stande mit dem adlig herablassenden Betragen, welches er sich gegen die Pfarrersfrau erlaubte.

Je mehr Jeanie ihre Schwester betrachtete, um so größer war ihre Verwunderung über den Unterschied zwischen jenem hülflosen, der Verzweiflung hingegebenen Mädchen, welches sie einst auf einem Strohlager im Kerker in Erwartung eines schmachvollen Todes gesehen, und die ihr auch späterhin nur als eine unglückliche Verwiesene bei nächtlicher Stunde erschienen war, mit dieser schönen, feinen, gebildeten, stattlichen Frau. Nun sie den Schleier abgelegt hatte, schienen ihre Züge eigentlich nicht so verschieden mehr als ihr ganzes Wesen, ihr Blick, ihr Benehmen. Dem Aeußern nach schien Lady Staunton ein zu weiches und zartes Geschöpf, als daß die Sorge sie je berührt haben sollte; so sehr gewöhnt, all ihre Launen befriedigt zu sehen, daß es war, als erwarte sie, man solle ihr die Mühe des Forderns ersparen; so gänzlich unbekannt mit dem Widerspruch, daß sie nicht einmal den Ton gebieterischen Wollens annahm. Ohne Umstände befreite sie sich von Knockdunder's Gegenwart, sobald der Abend herannahte, indem sie ihn mit der äußersten Nachlässigkeit bat, sie zu verlassen, weil sie müde sei.

Als sie allein waren, äußerte Jeanie ihre Verwunderung, daß Lady Staunton sich so ganz in ihrer Gewalt habe, stets ihre Rolle behaupten zu können.

»Ja wohl mußt Du darüber verwundert sein, meine liebe Jeanie,« erwiederte sie, »da Du von der Wiege an die Wahrheit selbst gewesen. Allein erinnere Dich, daß ich nun schon seit fünfzehn Jahren eine fortwährende Lügnerin bin, und nach gerade an meine Rolle gewöhnt sein muß.«

In der That fand Jeanie während des fieberhaften Tumults ihrer Gefühle in den ersten Tagen ihrer Schwester Benehmen gänzlich im Widerspruch mit dem niedergeschlagenen Ton ihrer Briefe. Der Anblick des Grabes, wo ihr Vater ruhte, von einem einfachen Stein bezeichnet, der seine Gottesfurcht und Redlichkeit erwähnte, rührte sie freilich zu Thränen; doch weniger ernsten Eindrücken gab sie sich eben so leicht hin. Sie belustigte sich damit, die Milchkammer zu besuchen, in der sie früher so lange Gehülfin gewesen, und war nahe daran, sich der alten Marie Hettly zu verrathen, indem sie ihre Kenntniß des wichtigen Geheimnisses zeigte, den Dunlop-Käse zu verfertigen. Als jedoch der Reiz der Neuheit allen diesen Beschäftigungen zu entschwinden begann, wurde Jeanie nur zu deutlich gewahr, daß das glänzende Gewand, mit welchem sie ihren Kummer verschleierte, ihr eben so wenig wahren Trost gewährte, als das buntfarbige Kleid des Kriegers, welches seine tödtliche Wunde umhüllt. Es gab Augenblicke und Stimmungen, in welchen ihre Traurigkeit sogar das überstieg, was sie selber in ihren Briefen davon geschrieben, und die Jeanie nur allzu sehr überzeugten, daß ihrer Schwester Loos wenig zu beneiden sei, so glänzend es auch erschien.

Aus einer Quelle jedoch schöpfte Lady Staunton ein reines Vergnügen. In jedem Betracht mit einem höheren Grade von Einbildungskraft begabt, als ihre Schwester, gewährten die Schönheiten der Natur ihr jenen herrlichen Genuß, der solche, die seiner fähig, oft für mannigfache Leiden schadlos hält. In diesem Punkt gab sie die Rolle der feinen Dame auf. Anstatt bei jedem Stein, bei jeder Schlucht zu beben und zu schreien, unternahm sie mit ihren beiden Neffen, die ihr als Führer dienten, die längsten, ermüdendsten Wanderungen in dem benachbarten Gebirge, um Seen, Wasserfälle, Schluchten, kurz alle Schönheiten und Wunder der Natur aufzusuchen, welche in seinen Tiefen verborgen waren.

So matt, gleichgültig, mißmuthig, ja sogar unzufrieden mit dem, was ihrer Schwester Haus ihr darbieten konnte, sie sich wohl sonst zeigte (obgleich sie diese verachtenden Ausbrüche ihrer Laune dann augenblicklich durch tausend Liebkosungen wieder gut zu machen bemüht war), ebenso munter und lebendig fühlte sie sich in der freien Luft, beim Anblick der herrlichen Gebirgslandschaften, und in Gesellschaft der beiden Knaben, die sie mit der Erzählung dessen ergötzte, was sie in fremden Ländern gesehen, und was sie ihnen in dem Herrenhause zu Willingham würde zu zeigen haben.

Bei einer dieser Wanderungen, wo David sie allein begleitete, weil sein Bruder anderweitig beschäftigt war, versprach er ihr einen Wasserfall zu zeigen, der höher und gewaltiger sei, als alle, die sie bis jetzt gesehen. Es war ein Weg von einer Meile, und sehr beschwerlich. Doch verkürzten und erheiterten ihn die wechselnden Durchblicke, wo bald der Meerbusen und seine Eilande, bald ferne Seen, bald drohende Felsen und Abgründe sich in reizenden oder schauerlichen Gemälden darstellten. Der Anblick des Wasserfalles selbst belohnte reichlich die Mühseligkeit des Weges. In einem einzigen Wasserstrahl stürzte ein beträchtlicher Strom sich an einem schwarzen Bergrücken herunter, dessen dunkle Farbe wunderbar gegen den weißen Schaum des Gewässers abstach. In einer Tiefe von zwanzig Fuß ungefähr sprang ein zweiter Felsen hervor und verhinderte den Blick des Beschauers bis zum Boden des Falles zu dringen. Das Wasser wälzte sich rund um den Vorsprung herum und goß sich dann schäumend die felsige Kluft hinab. Wer die Natur liebt, mag gern bis zu ihren innersten Tiefen dringen. Lady Staunton fragte den Knaben, ob man nicht irgendwo den Abgrund sehen könne, in den sich das Wasser ergoß. Er wisse wohl einen Vorsprung am äußersten Ende des untersten Felsens, sagte er, wo der ganze Wassersturz sichtbar sei, aber der Weg dahin sei steil und gefährlich, und man könne leicht ausgleiten. Sie war jedoch entschlossen, ihre Neugierde zu befriedigen, und so ging er denn auf ihr Verlangen voran über Fels und Stein, und zeigte ihr besorglich die sichern Stellen an, denn bald mußten sie mehr klettern als gehen, um weiter zu kommen.

So gelangten sie endlich, indem sie sich wie Seevögel an den Felsen klammerten, zur andern Seite desselben, und hatten hier den vollen Anblick des Wasserfalles. Er war furchtbar schön, wie er mit unaufhörlichem Tosen heulend und donnernd aus einer Höhe von mindestens hundert Fuß in einen schwarzen Kessel stürzte, der dem Schlund eines Vulkans glich. Das Getöse, das Sprühen des Wassers, welches allen Gegenständen umher ein schwankendes Ansehen gab, das Zittern des gewaltigen Felsens selbst, auf dem sie sich befanden, das Unsichere ihres Standpunktes auf dem spitzen steilen Felsenriff, der kaum Platz genug zum Stehen darbot, alles dies zusammen genommen war von so gewaltiger Wirkung auf Lady Staunton's Einbildungskraft, daß sie David zurief, sie falle, und sie wäre in der That vom Felsen herabgestürzt, hätte er sie nicht festgehalten. Der Knabe besaß zwar Kraft und Kühnheit genug für sein Alter, er war aber erst vierzehn Jahr. Sein Beistand flößte ihr kein Vertrauen ein, und sie fühlte, daß ihre Lage höchst gefährlich sei. Wie leicht konnte er selbst von ihrer Furcht und ihrem Schwindel angesteckt werden, und dann war es um Beide geschehen. Sie schrie laut vor Angst, ohne Hoffnung jedoch, Hülfe dadurch zu errufen. Zu ihrem Erstaunen antwortete ein Pfeifen von oben, so scharf und hell, daß es durch das Geräusch des Wasserfalles gehört wurde.

In diesem Augenblick des Schreckens und der Bestürzung blickte aus einer Felsenkluft über ihnen ein dunkles Menschengesicht auf sie herab mit schwärzlich grauem, struppigem Haar, das über Stirn und Wange hing, und sich mit Kinn- und Backenbart von gleicher Farbe mischte und verwirrte.

»Es ist der Teufel!« rief der Knabe, beinahe unfähig, Lady Staunton zu unterstützen.

»Nein, nein,« sagte sie, die der Furcht vor übernatürlichen Dingen weniger zugänglich, nun ihre Geistesgegenwart wieder gewann, »es ist ein Mensch. – Um Gotteswillen, mein Freund, steht uns bei!«

Das Gesicht starrte sie an, antwortete aber nicht. Einen Augenblick darauf erschien noch ein anderes neben jenem. Es war ein junger Bursche, ebenfalls schwarzbraun und rußig, mit starkem, schwarzen Haar, welches in dichten verworrenen Locken seinen Kopf umgab, und ihm ein wildes, grimmiges Ansehen gab. Lady Staunton wiederholte ihre Bitten, indem sie sich fester an den Felsen klammerte, denn die abergläubische Furcht ihres Gefährten ließ sie nicht länger auf seinen Beistand vertrauen. Ihre Worte wurden vermuthlich von dem Brausen des Gewässers verschlungen, denn auch sie sah die Lippen des Jüngern sich bewegen, ohne daß ein Laut ihr Ohr erreichte.

Ihre Lage und ihre Geberden hatten ihm dennoch ihr Gesuch verständlich gemacht. Er verschwand auf einige Augenblicke und ließ gleich darauf eine acht Fuß lange Leiter von geflochtenen Weidenzweigen herunter, indem er David ein Zeichen gab, sie fest zu halten, während die Lady daran hinaufstieg. Die Verzweiflung verleiht Muth. Lady Staunton zögerte nicht, dies gefährliche Mittel zur Rettung zu benutzen; jener, der ihr auf so wunderbare Weise zu Hülfe gekommen, stand ihr sorgsam bei, und glücklich erreichte sie den Gipfel. Doch wagte sie kaum zu athmen, bis sie ihren Neffen leicht und gewandt ihrem Beispiel folgen sah, obgleich jetzt Niemand die Leiter unten festhielt. Als sie ihn in Sicherheit wußte, sah sie sich um, und der Ort, wo sie sich befand, und auch seine Bewohner machten sie schaudern.

Sie standen auf einer Art von Felsaltan, ganz und gar mit schroffem Gebirg, mit Klüften und Abgründen umgeben, so daß es unmöglich schien, von irgend einer Seite dorthin zu gelangen. Ein ungeheures Felsstück, das sich von den obern Bergspitzen losgerissen, und von andern im Herabfallen aufgehalten worden war, hatte sich so eingeklemmt, daß es ein schräges Dach über den hintern Theil der Fläche bildete, auf der sie standen. Einige Haufen dürrer Blätter und Moos unter diesem rauhen Obdach ausgebreitet, waren die Lager der Bewohner. Zwei dieser Letztern sah Lady Staunton jetzt hier. Der Eine, eben jener, der ihr so zur rechten Zeit zu Hülfe gekommen war, ein langer, junger Bursche, der wie ein Wilder aussah, stand aufrecht vor ihr. Er trug einen zerrissenen Schottenmantel und ein kurzes Unterkleid, keine Schuhe, keine Strümpfe, keinen Hut oder Mütze – die Stelle der letztern ersetzte sein dichtes, verschlungenes Haar, ein natürlicher Helm, stark genug, einen Schwertstreich abzuhalten. Seine Augen waren kühn und glänzend; seine Haltung frei und edel, wie die der meisten Wilden. Er achtete wenig auf David Butler, doch mit Verwunderung gaffte er Lady Staunton an, als ein Wesen, an Kleiderpracht und Schönheit allem, was er bis jetzt gesehen, so sehr überlegen. Der alte Mann, dessen Gesicht sie von unten zuerst gesehen, lag noch in derselben Stellung neben der Felsenkluft niedergestreckt, nur war sein Gesicht ihnen zugekehrt, und mit einer trägen Gleichgültigkeit, gänzlich im Widerspruch mit dem wilden Ausdruck seiner rauhen Züge, sah er zu ihnen auf. Er schien ein Mann von ungewöhnlicher Größe. Seine Kleidung war wenig besser als die seines jungen Gefährten. Er trug einen weiten Ueberrock und zerlumpte schottische Unterkleider.

Alles umher sah sonderbar wild und unheimlich aus. Unter dem Schirmdach des überhängenden Felsstücks war ein Steinkohlenfeuer, auf welchem ein Brennkolben dampfte. Ein Blasebalg, Zangen, Hämmer, ein beweglicher Ambos und andere Schmiedewerkzeuge lagen und standen daneben. Drei Flinten, einige Säcke und Tonnen waren an die Felsenmauer gelehnt. Ein Dolch, zwei Schwerter und eine Streitaxt lagen hier und da zerstreut bei dem Feuer, dessen dunkelrothe Glut den Schaum und Nebel des herabstürzenden Wasserfalles bestrahlte, und ihm ihre Farbe lieh.

Als der junge Wilde Lady Staunton lange genug angegafft hatte, holte er einen irdenen Krug mit Branntwein gefüllt, und einen großen Becher von Horn. Er goß Einiges von dem Getränk, das eben erst heiß aus dem Brennkolben gekommen schien, in den letzteren, und bot es erst der Lady und dann ihrem Begleiter. Beide dankten, worauf er das Dargebotene, es mochte etwa drei Gläser betragen, selbst in einem Zuge ausleerte. Er holte dann eine andere Leiter aus dem Winkel der Höhle, stellte sie gegen das quer überhängende schirmende Felsstück, und gab der Lady ein Zeichen, sie solle hinaufsteigen, während er die Leiter unten festhalte. Sie that es, und fand sich auf der Spitze einer breiten Felsenkuppe, nah am Rande des Schlundes, wo der Fluß sich hineinstürzt. Sie sah, wie der gewaltige Wasserstrom gleich den Mähnen eines wilden Pferdes stürmend hinunterflog von der Höhe. Allein die niedriger liegende Felsenfläche, der sie so eben entstiegen, war ihren Blicken gänzlich verborgen.

Dem jungen Butler wurde das Hinaufsteigen nicht so leicht gemacht. Aus Schadenfreude oder Lust zu necken, schüttelte der andere Knabe die Leiter tüchtig, während jener hinaufstieg, und schien sich seiner Angst zu freuen, so daß sie sich mit nicht sehr günstigen Augen betrachteten, als beide oben waren. Der junge Zigeuner, oder was er sonst sein mochte, half Lady Staunton mit großer Sorgfalt eine zweite gefährliche Höhe ersteigen, und David Butler folgte, bis sie endlich, den Klüften und Abgründen entgangen, sich auf dem Gipfel eines nicht sehr steilen Berges sahen, dessen Abhang mit Haidekraut bedeckt war. Und so schmal war die Kluft, der sie entstiegen waren, daß nur am äußersten Rande des Berges etwas von dem gefährlichen Abgrund sichtbar ward. Den Wasserfall sah man hier nicht, man hörte nur sein dumpfes Rauschen.

Dem Drohen der Felsen und Fluthen entgangen, hatte Lady Staunton jetzt einen neuen Grund zur Angst. Ihre beiden Führer standen einander mit zornglühenden Mienen gegenüber; denn David, obgleich jünger und kleiner als jener, war ein sehr kühner und rüstiger Knabe.

»Du bist des Schwarzrocks Sohn von Knocktarlitie,« sagte der junge Zigeuner, »wenn Du mir wieder hieherkommst, werfe ich Dich dort in den Wasserschlund hinunter wie einen Ball.«

»Ei, Bursche, Du bist gewaltig kurz für einen so langen Kerl,« versetzte David unerschrocken und maß seines Gegners Höhe mit dreistem Auge; »Du gehörst gewiß zur Bande des schwarzen Donacha. Kommt Ihr uns wieder herunter von Euren Berghöhlen, so schießen wir Euch todt wie wilde Böcke.«

»Du magst nur Deinem Vater sagen,« erwiederte jener, »er hat die Bäume zum letztenmal grün werden sehen. Wir müssen Rache haben für den Schaden, den er uns gethan hat.«

»Ich hoffe, wir werden noch manchen Sommer erleben,« sagte David, »und Euch noch manchen Schaden thun.«

Dem Streit ein Ende zu machen, trat Lady Staunton mit der Börse in der Hand zwischen Beide. Sie nahm eine Guinee heraus und bot sie dem Zigeunerknaben. Das durchsichtige Netz der Börse enthielt auf der einen Seite das Gold, auf der andern schimmerte Silbergeld hervor.

»Das weiße Geld, das weiße Geld,« rief der junge Wilde, der vermuthlich mit dem Werth des Goldes unbekannt war.

Lady Staunton schüttete ihm alles Silbergeld, das in der Börse war, in die Hand. Er griff begierig darnach und machte eine Art von Verbeugung des Dankes und Abschieds.

»Wir müssen eilen, Lady Staunton,« sagte David, »nun da sie von Ihrer Börse wissen, werden wir nicht lange Ruhe vor ihnen haben.«

Sie stiegen so schnell als möglich den Abhang des Berges hinunter, waren aber kaum einige hundert Schritt weit gekommen, als sie ein Hallo hinter sich hörten. Beim Umblicken sahen sie den jungen und alten Zigeuner sie hastig verfolgen, Letzteren mit einer Flinte auf der Schulter. Glücklicherweise erschien in diesem Augenblick ein Jäger des Herzogs auf der Höhe des Berges. Die Räuber standen still, als sie ihn sahen, und Lady Staunton eilte, sich unter seinen Schutz zu begeben. Auf ihre Bitte geleitete er sie nach Hause, und es bedurfte seines starken Aeußern und seiner geladenen Flinte, der Erschrockenen ihre gewohnte Dreistigkeit und Zuversicht wiederzugeben.

Erst spät erreichten sie das Pfarrhaus, und Lady Staunton ließ sich von ihrer Liebe zu den romantischen Schönheiten der Natur nie wieder so tief in die Berge hineinverlocken, wenn nicht ein stärkerer Beschützer als David ihr Sicherheit verhieß. Doch gestand sie diesem zu, er habe viel Unerschrockenheit gezeigt, sobald er überzeugt gewesen, er habe nur mit einem sterblichen Gegner zu thun.

»Ich hätte vielleicht nicht viel gegen den langen Burschen ausgerichtet,« erwiederte David, als seiner Kühnheit ein solches Lob ertheilt wurde; »doch wenn man mit solchem Volk zu schaffen hat, da heißt's, Dein Herz, Dein Alles.«


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