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Erstes Kapitel.

Und wird Verzeihung, Milde, Trost
Dem Laster die Jugend entziehen?
Wird's Ehre, Pflicht, Gesetz?

Crabbe.

Jeanie stand von ihrem Sitze auf und machte eine ruhige Verbeugung, als der ältere Staunton ins Zimmer trat. Sein Erstaunen war sehr groß, seinen Sohn in solcher Gesellschaft zu finden.

»Ich sehe jetzt meinen Irrthum ein,« sagte er, sich an Jeanie wendend; »ich hätte die Sorge für Eure Angelegenheiten diesem jungen Manne überlassen sollen, mit dem Ihr vermuthlich früher bekannt gewesen.«

»Es ist nicht Absicht von meiner Seite, daß ich hier bin,« erwiederte Jeanie, »der Bediente sagte mir, sein Herr wolle mich sprechen.«

»Da geht die rothe Livree zum Teufel!« murmelte Thomas. »Muß sie gerade die Wahrheit sagen, wo sie ebenso gut irgend etwas Anderes vorbringen konnte, was ihr einfiel?«

»Georg,« sagte Herr Staunton, »wenn Du auch immer noch jedem Gefühl der Selbstachtung verschlossen bist, solltest Du mindestens Deinem Vater in seinem Hause einen solchen Auftritt erspart haben.«

»Bei meinem Leben, bei meiner Seele!« rief Georg mit hastiger Bewegung, als wollte er aus dem Bett springen.

»Dein Leben!« sagte der Vater mit kummervollem Ernst, »welch ein Leben ist dies gewesen? – Deine Seele! Welche Sorge hast Du je für das Heil derselben getragen? Bemühe Dich, Beides zu bessern, ehe Du sie zu Bürgen Deiner Aufrichtigkeit stellst.«

»Bei meiner Ehre, Vater, Sie thun mir Unrecht, ich bin schlechter gewesen, als Worte es auszudrücken vermögen, hier aber thun Sie mir Unrecht. Bei meiner Ehre, es ist so!«

»Deine Ehre!« wiederholte Herr Staunton, und mit einem Blick der tiefsten Verachtung wandte er sich zu Jeanie. »Von Euch fordere und erwarte ich keine Erklärung; doch als Vater und Geistlicher befehle ich Euch, das Haus sogleich zu verlassen. Wenn Eure seltsame Geschichte etwas Anderes gewesen ist, als ein Vorwand hier Einlaß zu erhalten – was ich bezweifle – so findet Ihr einen Friedensrichter in geringer Entfernung von hier, bei dem Ihr Eure Klage schicklicher als bei mir anbringen könnt.«

»Dies darf nicht sein,« rief Georg aufspringend. »Vater, Sie sind gut und menschlich, und sollen sich meinetwegen nicht hart und grausam zeigen. – Werfen Sie jenen Schurken von Aufpasser hinaus,« – er deutete auf Thomas – »und schaffen einige Hirschhorntropfen oder ein anderes Mittel gegen Ohnmacht herbei, und ich will Ihnen in zwei Worten die Verbindung zwischen mir und diesem Mädchen erklären. Sie soll ihren guten Namen nicht durch mich verlieren. Ich habe schon zu viel Unglück über sie und die Ihrigen gebracht, und ich weiß nur allzu wohl, was es heißt, seinen Ruf verloren zu haben.«

»Geh hinaus,« sagte der Geistliche zu dem Bedienten; er schloß die Thür sorgfältig hinter ihm und wandte sich dann an seinen Sohn. »Nun, welchen neuen Beweis Deiner Schande hast Du mir zu geben?«

Der junge Staunton war im Begriff zu sprechen, doch es war einer jener Augenblicke, in welchen Menschen von festem und besonderem Muth, wie Jeanie Deans ihn besaß, sich denen überlegen zeigen, die feuriger, aber weniger entschieden sind.

»Herr,« sagte sie zum ältern Staunton, »Sie haben ein unbezweifeltes Recht, Ihren Sohn wegen seiner Aufführung zur Rede zu stellen. Ich aber bin eine Reisende, Ihnen auf keine Weise verpflichtet. Es müßte denn wegen des Mahles sein, das in meinem Lande ein jeder, er sei reich oder arm, nach seinen Kräften dem Bedürftigen reicht; und zu dessen Bezahlung ich mich erbieten würde, glaubte ich nicht ein Haus wie dieses dadurch zu beschimpfen. – Ich kenne jedoch die Sitte des Landes nicht.«

»Das ist ganz gut,« sagte der Geistliche, sehr verwundert über eine Sprache, von der er nicht wußte, ob er sie der Einfalt, oder der Unverschämtheit zuschreiben sollte; »dies mag Alles ganz gut sein, doch warum verhindert Ihr diesen jungen Mann, seinem Vater und seinem besten Freunde eine Erklärung über etwas zu geben, was nicht wenig verdächtig scheint?«

»Seine eigenen Angelegenheiten mag er erzählen, wenn er will,« versetzte Jeanie; »allein er hat nicht das Recht die meiner Freunde ohne ihre besondere Einwilligung mitzutheilen. Und da jene nicht hier sind, um für sich selbst zu sprechen, so bitte ich Sie, dem Herrn Georg Rob – ich meine Staunton, wie er sonst heißt, keine Fragen über mich oder die Meinigen vorzulegen; denn er handelt nicht wie ein Christ und wie ein rechtlicher Mann, wenn er sie ohne meine Einwilligung beantwortet.«

»Dies ist sonderbarer, als mir je etwas vorgekommen,« sagte der Pfarrer, indem er den Blick scharf auf das ruhig bescheidene Antlitz Jeanie's richtete. Er wandte sich dann plötzlich mit der Frage an seinen Sohn: »Was hast Du dazu zu sagen?«

»Daß ich zu rasch bei meinem Versprechen gewesen, Vater. Ich habe in der That kein Recht ohne Zustimmung dieses Mädchens etwas von den Angelegenheiten der Ihrigen mitzutheilen.«

Mit Erstaunen wandte der Geistliche seine Augen von Einem zur Andern. »Hier scheint mir mehr und Schlimmeres zu befürchten, als bei irgend einer Deiner frühern schmachvollen Verbindungen,« sagte er zu seinem Sohne; »ich bestehe darauf, dies Geheimniß zu wissen.«

»Ich habe es bereits ausgesprochen,« erwiederte der Sohn mürrisch, »daß ich nicht berechtigt bin, ohne des Mädchens Einwilligung etwas von dieser Sache zu erwähnen.«

»Und ich, Herr, habe Ihnen keine Geheimnisse zu entdecken,« sagte Jeanie, sondern nur Sie als einen Verkünder des Evangeliums und als einen rechtlichen Mann zu bitten, mich sicher zum nächsten Gasthof auf der londoner Straße gelangen zu lassen.«

»Ich werde schon für Deine Sicherheit sorgen,« rief der junge Staunton; »Du brauchst diese Gunst von keinem Andern zu erbitten.«

»Sprichst Du so in meiner Gegenwart?« rief der mit Recht erzürnte Vater. »Denkst Du vielleicht durch eine niedrige entehrende Heirath das Maß Deines Ungehorsams und Deiner Sittenlosigkeit zu füllen? Aber sieh Dich vor, ich rathe es Dir.«

»Wenn Sie etwa befürchten, Herr, dergleichen könne sich mit mir ereignen,« sagte Jeanie, »so kann ich Ihnen versichern, daß ich für alles Land zwischen einem Ende des Regenbogens bis zum andern, Ihren Sohn nicht heirathen würde.«

Verwundert und unentschlossen forderte Herr Staunton Jeanie auf, ihm in ein anderes Zimmer zu folgen.

»Höre mich erst an,« sprach der Sohn zu ihr. »Ich habe nur ein Wort zu sagen. Ich vertraue ganz auf Deinen Verstand. Entdecke meinem Vater so viel oder so wenig von diesen Dingen, als Du willst, von mir soll er nicht mehr davon erfahren.«

Sein Vater warf ihm einen unwilligen Blick zu, der sich zu einem Blick des Kummers milderte, als er ihn erschöpft von dem Vorgange auf sein Lager zurücksinken sah. Er verließ das Gemach und Jeanie folgte ihm. Als sie in der Thür war, erhob sich Georg Staunton, und mit feierlich ermahnendem Ton rief er ihr nach: »Gedenke!«

»Es ist etwas in Deiner Miene und in Deinem Wesen,« sagte der Pfarrer, als er mit ihr allein war, »das von Verstand und Unbefangenheit zeugt, und auch von Unschuld, wenn ich nicht irre. Sollte es anders sein, so bist Du die größte Heuchlerin, die ich je gesehen. – Ich will Dich nach keinem Geheimniß fragen, das Du nicht entdecken magst, am wenigsten nach solchen, die meinen Sohn betreffen. Seine Aufführung hat mir schon zu viel Kummer gemacht, als daß ich je Trost oder Freude von ihm erwarten dürfte. Glaube mir aber, welcher Art auch Deine Verbindungen mit Georg Staunton sein mögen, je eher Du denselben entsagst, desto besser.«

»Ich verstehe Sie sehr wohl, Herr,« versetzte Jeanie; »da Sie selber aber so freimüthig über Ihren Sohn sprechen, muß ich Ihnen sagen, daß ich ihn heute erst zum zweitenmal in meinem Leben gesprochen habe, und was ich bei diesen beiden Gelegenheiten aus seinem Munde hörte, läßt mich wünschen, nie wieder Aehnliches zu hören.«

»So ist es also Dein ernstlicher Wille, diese Gegend zu verlassen, und nach London zu gehen?«

»In Wahrheit, Herr; denn ich kann in gewissem Sinne sagen, daß der Bluträcher mir nachjage; und wäre ich nur gegen Unheil auf dem Wege geschützt –«

»Ich habe über jene verdächtigen Menschen, die Du mir beschrieben, Erkundigungen einziehen lassen. Sie sind nicht mehr in ihrem Schlupfwinkel angetroffen worden; doch könnten sie in der Nachbarschaft lauern, und ich will Dich der Obhut eines sichern Begleiters übergeben, der Dich nach Stamford bringen und Dir dort die Gelegenheit verschaffen wird, mit der Landkutsche weiter zu kommen.«

»Eine Kutsche ist nicht für Leute meines Standes,« sagte Jeane, denn sie wußte nichts von Postwagen, die damals nur in der Nähe Londons gebräuchlich waren. Herr Staunton gab ihr einige Auskunft über diese Art zu reisen; und sie drückte ihre Dankbarkeit für seine Bemühungen so aufrichtig und unbefangen aus, daß er sie fragte, ob es ihr nicht auch an Geld fehle? Sie sagte indeß, sie habe noch so viel als sie bedürfe, und wirklich war sie sehr sparsam mit ihrem kleinen Vorrath umgegangen. Ihre Antwort überzeugte Herrn Staunton, der immer noch einigen Verdacht hegte, daß sie, wenn sie betrügen wolle, wenigstens nicht auf Geld ausgehe. Er befragte sie dann, zu welchem Theil der Stadt sie zu gehen wünsche.

»Zu meiner Muhme, der Frau Glas, einer sehr angesehenen Tabackshändlerin, die einen Laden, zum Dornbusch genannt, irgendwo in der Stadt hat.«

»Und ist diese Frau Deine einzige Bekannte in London, armes Mädchen? Und weißt Du wirklich keine bessere Auskunft zu geben, wo sie zu finden ist?«

»Ich will auch den Herzog von Argyle sprechen,« sagte Jeanie, »und wenn Sie glauben, daß es besser ist, gehe ich erst zu diesem, und bitte einen von des Herzogs Leuten, mir meiner Muhme Laden zu zeigen.«

»Kennst Du denn einen von des Herzogs Leuten?«

»Nein, Herr.«

»Ihr Gehirn muß doch etwas gelitten haben,« dachte der Pfarrer, »sonst könnte sie sich unmöglich auf eine solche Einführung verlassen. – Nun wohl,« sagte er laut, »ich darf den Grund Deiner Reise nicht wissen, und so kann ich Dir auch keinen Rath ertheilen. Allein die Wirthin des Gasthofs in London, wo der Wagen anhält, ist eine sehr anständige Frau; ich wohne zuweilen dort, und will Dir eine Empfehlung an sie mitgeben.«

Jeanie dankte ihm mit ihrer besten Verbeugung für diese Güte. »Mit dem Brief von Sr. Gnaden,« sagte sie, »und einem andern von der würdigen Frau Bickerton in den sieben Sternen zu York, würde es ihr ohne Zweifel ganz gut gehen in London.«

»Und nun wirst Du vermuthlich so bald als möglich fort wollen?«

»Wäre ich in einem Gasthof, oder an einem andern schicklichen Ruheplatz, so würde ich meine Reise nicht fortsetzen am Tage des Herrn. Allein ich gehe einen Weg der Barmherzigkeit, und so wird es mir, hoffe ich, nicht zugerechnet werden.«

»Du kannst den Abend bei Frau Dalton zubringen, wenn Du willst; doch wünsche ich, daß Du Dich nicht ferner mit meinem Sohn einlassest. Er ist auf keinen Fall ein schicklicher Rathgeber für Dich.«

»Ew. Gnaden haben vollkommen Recht darin. Es geschah auch nicht mit meinem Willen, daß ich so eben mit ihm sprach. Ich wünsche zwar dem jungen Herrn alles Gute, doch wollte ich, ich sehe ihn in meinem Leben nicht wieder.«

»Wenn Du willst,« setzte der Pfarrer hinzu, »kannst Du diesen Abend an unserer Hausandacht Theil nehmen. Du scheinst zu Ernst und Nachdenken geneigt.«

»Ich danke Ew. Gnaden,« erwiederte Jeanie, »ich zweifle aber, daß es zu meiner Erbauung dienen würde.«

»Wie! so jung und schon so unglücklich, Zweifel gegen die Pflichten der Andacht zu hegen?«

»Gott verhüte dies, mein Herr! Es ist nicht deshalb; allein ich bin in der Glaubenslehre der schottischen Presbyterianer erzogen, und weiß nicht, ob ich Ihrem Gottesdienst beiwohnen darf, der von so vielen frommen Seelen unserer Kirche, und auch von meinem ehrwürdigen Vater verworfen wird.«

»Nun, mein liebes Kind,« sagte der Geistliche mit freundlichem Lächeln, »ich will Deinem Gewissen keinen Zwang anthun. Doch solltest Du bedenken, daß die göttliche Gnade sich auch über andere Länder als Schottland ergießt. Dem geistigen Bedürfniß, so nothwendig wie das Wasser dem irdischen, sind ihre reichen Quellen durch die ganze Christenheit verbreitet.«

Er ließ Frau Dalton rufen, übergab ihr Jeanie und empfahl ihr, aufs Beste für sie zu sorgen. Ernst und würdevoll, aber gütig, nahm er dann selbst von ihr Abschied, mit der Versicherung, sie solle am nächsten Morgen sicheres Geleit nach Stamford erhalten. Jeanie wurde von der Haushälterin wieder zu ihrem Zimmer geführt; doch der Abend sollte ihr nicht ohne fernere Plage von Georg Staunton vorübergehen. Thomas steckte ihr einen Zettel in die Hand, der den Wunsch, oder vielmehr die ausdrückliche Forderung enthielt, sie sogleich zu sprechen; jede Ueberraschung sei unmöglich gemacht.

»Sage Deinem jungen Herrn,« sprach Jeanie laut, ohne auf die Winke und Zeichen des Bedienten zu achten, »daß ich seinem würdigen Vater das feste Versprechen gegeben, ihn nicht wiederzusehen.«

Frau Dalton ließ es bei dieser Gelegenheit nicht an nachdrücklichen, warnenden Verweisen fehlen, und Thomas zog sich beschämt und kleinlaut zurück.

Nach gastfreier Bewirthung und ruhigem Schlaf saß Jeanie früh am Morgen auf einem Reitkissen hinter einem rüstigen Bauer, der mit Pistolen bewaffnet war, sie gegen mögliche Angriffe zu schützen. Sie trabten eine Zeitlang schweigend mit einander fort auf einem Feldwege, der erst später in die große Landstraße einbog. Endlich fragte sie ihr Begleiter, ob sie nicht Jeanie Deans heiße. Verwundert bejahte sie es. »So hab' ich hier ein Zettelchen für Euch,« sagte der Mann, indem er es ihr über die linke Schulter hinreichte; »es ist, glaub' ich, von unserm jungen Herrn, und Jedermann in Willingham thut ihm gern etwas zu Gefallen, aus Liebe oder Furcht. Denn er wird doch einmal Herr, sie mögen von ihm sagen, was sie wollen.«

Jeanie erbrach das Siegel und las Folgendes: »Du willst mich nicht sehen. Mein eigenes Bekenntniß macht, daß Du vor mir zurückschauderst; doch meine Aufrichtigkeit zeigt Dir, daß ich mindestens kein Heuchler bin. Du weißt, daß ich meine Ehre, die Ehre der Meinen, mein Leben für Deine Schwester hinzugeben bereit bin, und Du weigerst Dich zu kommen, Du achtest mich zu niedrig, etwas für mich zu thun. Wohlan, wenn der Opfernde verworfen wird, ist noch das Opfer vorhanden; und vielleicht ist es die vergeltende Gerechtigkeit des Himmels, die mir den traurigen Ruhm versagt, es aus eigenem freien Willen zu bringen. Da Du meine Mitwirkung abgelehnt, mußt Du selbst das Ganze leiten. Geh denn zum Herzog von Argyle, und wenn alle andern Ueberredungsgründe vergeblich sind, so sage ihm, es stehe in Deiner Macht, den Anführer der Porteous-Verschwörung der ihm gebührenden Strafe zu überliefern. In diesem Fall wird er Dich anhören, wenn er auch bei allem Andern taub bleibt. Mache Deine eigenen Bedingungen, denn Du kannst sie machen. Du weißt, wo ich zu finden bin. Ich werde nicht entfliehen, wenn die Gefahr naht, wie einst bei den Muschat-Steinen. Im Vaterhause will ich bleiben – gleich dem Hasen mich zerfleischen lassen, wo man mich aufgejagt. Ich wiederhole es, mache Deine eigenen Bedingungen. Ich brauche Dich nicht erst zu erinnern, Deiner Schwester Leben zu fordern, allein fordere auch für Dich. Fordere Reichthum und Belohnung, Amt und Einkommen für Butler, fordere Alles, man wird Dir Alles gewähren, überlieferst Du nur dem Henker einen Menschen, der seine rächende Hand verdient, einen, der jung an Jahren, doch alt an Sünden ist, und der nichts mehr begehrt, als nach den Stürmen eines unruhvollen Lebens sein Haupt niederzulegen und zu schlafen.«

Dieser seltsame Brief war mit den Anfangsbuchstaben G. S. unterschrieben. Jeanie las ihn zweimal mit großer Aufmerksamkeit durch. Der langsame Schritt des Pferdes, indem es auf einem sandigen Wege fortging, machte ihr dies leicht.

Als sie sich mit dem Inhalt des Schreibens vollkommen bekannt gemacht hatte, war ihr erstes Geschäft, es in so kleine Stücke als möglich zu reißen, und diese nach und nach in die Luft zu verstreuen, damit ein so gefährliches Geheimniß nicht in fremde Hände gerathen könne. Die Frage, ob sie im äußersten Fall berechtigt sei, jenen für ihre Schwester zu opfern, war der nächste Gegenstand ihrer ernsten und höchst peinlichen Ueberlegung. Einerseits schien es nur gerechte Wiedervergeltung, Staunton, den Schuldigen, den Urheber der Vergehungen und des Elends ihrer Schwester, anzuklagen. Allein Jeanie's strenge Sittlichkeit begnügte sich nicht, eine zweifelhafte Handlung im Allgemeinen zu betrachten; sie erwog auch, in wiefern sie selbst die Befugniß zur Ausübung habe, ehe sie sich frei dazu fühlte. Welches Recht hatte sie, Effie's Leben für das Staunton's einzutauschen, und diesen der Rettung jener zum Opfer zu bringen? Auch betrachtete sie die Verschwörung gegen Porteous wie eine Schottin, das heißt in keinem allzu gehässigen Licht, und sie zitterte bei dem Gedanken, durch eine Entdeckung derselben als eine Verrätherin ihres Volks angesehen zu werden. Und doch, Effie's Leben von Neuem zu opfern, wenn ein Wort sie retten konnte, welche Marter für das liebende Herz einer Schwester!

Während dieser Betrachtungen Jeanie's begann ihr Führer, des Schweigens überdrüssig, einige Neigung zur Unterhaltung zu zeigen. Sehr natürlich wählte er die Familie zu Willingham zum Gegenstand seines Gesprächs, und von ihm erfuhr Jeanie Georg Staunton's frühere Lebensumstände, von denen wir oben das Wesentliche mitgetheilt haben.

Jeanie wurde von ihrem gesprächigen Begleiter sicher nach Stamford gebracht. Hier erhielt sie einen Platz in der Landkutsche, und erreichte London am Nachmittag des zweiten Tages. Die Empfehlung des Herrn Staunton verschaffte ihr einen höflichen Empfang im Gasthof, wo sie anhielt, und durch den Freund, an den Frau Bickerton sie gewiesen, fand sie ihre Muhme, die Frau Glas, von welcher sie freundlich und gastfrei aufgenommen wurde.


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