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Neunzehntes Kapitel.

Am folgenden Tage befand sich Herr Oldbuck mit seinem Neffen und dem Bettler auf dem Wege zur Hütte Mucklebackits.

»Da wären wir angelangt,« sagte Edie, als sie vor der Tür des Häuschens standen. »Möchte nur wissen, warum Sie sich mit mir so viel Schererei machen? Ich sage Ihnen aufrichtig, viel Lust, hier hineinzugehen hab ich nicht. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, wie die jungen Leute um mich her dahingegangen, sind und ich als alter nutzloser Strunk zurückgeblieben bin, an dem kaum noch ein Blättchen grün ist.«

»Die alte Elsbeth hat Euch als Boten zum Grafen von Glenallan geschickt, nicht wahr?« fragte Oldbuck.

»Nanu!« versetzte der erstaunte Bettler. »Woher wissen Sie das?«

»Lord Glenallan hat mir's selber gesagt,« antwortete der Altertümler. »Er wünscht, ich soll ihre Aussage über Familienangelegenheiten zu Protokoll nehmen, und deshalb nehme ich Euch mit, denn so wie es mit der Alten steht, die zwischen Irrsinn und Bewußtsein schwankt, ist es möglich, daß Euer Anblick ihre Erinnerung auffrischt, was sich auf andre Weise am Ende nicht erreichen läßt. Der Menschengeist will behandelt sein wie verfilzte Seide, man muß erst ein freies Ende finden, ehe man ans Aufknüpfen gehen kann.«

»Davon weiß ich nichts,« sagte der Schnorrer, »aber wenn meine alte Bekannte noch sich selber gleicht, so wird sie uns wohl ein ordentliches Knäuel zu wickeln geben. Es ist förmlich zum Gruseln, wenn sie die Arme bewegt und ihr Englisch spricht wie ein gedrucktes Buch – und dabei ist sie bloß einem alten Fischer sein Weib. Aber freilich, sie hat eine gute Schule genossen und hatte viel los, als sie ein wenig unter ihrem Stande heiratete. Sie kann etwa zehn Jahre älter sein als ich, aber ich besinne mich noch gut darauf, es wurde viel davon gesprochen, als sie den Simon Mucklebackit, Saunders'n seinen Vater, geheiratet hatte. Wie wenn sie eine Adelige gewesen wäre. Sie haben viel Geld bekommen und dann sind sie aus dem Grundgebiet der Gräfin weggezogen und haben sich hier niedergelassen. Aber sie haben es nie zu was bringen können, es hat ihnen nichts so recht geglückt. Aber sie ist doch sehr gebildet, und wenn sie mit ihrem Englisch loslegt, dann kann sie uns allen eine Nuß zu knacken geben.«

Als der Altertümler die Tür öffnen wollte, war er nicht wenig erstaunt, als er Elsbeth in grausig klagendem Tone eine alte Ballade singen hörte:

»Der Hering gern das Mondlicht sieht,
Den Wind liebt die Makrele,
Doch die Auster liebt ein Fischerlied,
Denn sie ist von edlerer Seele.«

Als sorgfältiger Sammler dieser sagenhaften Brocken antiker Poesie, blieb er vor der Schwelle stehen und griff unwillkürlich zu Notizbuch und Bleistift. Von Zeit zu Zeit wisperte die Alte dazwischen, als spräche sie zu Kindern: »Eia popeia, Kinderchens! Bisch! Bisch! Ein hübscheres Liedchen nun!«

»Nun, Frau'n und Männer, schweigt hübsch brav
Und groß und klein gebt acht,
Ich singe vom Glenallan Graf,
Der schlug die Harlaw-Schlacht.

Am Bennachie der Pibroch klang,
Am Don und ringsumher,
Gar blutig war der Waffengang,
Das Hochland trauert schwer.

Den nächsten Vers kann ich nicht mehr, mein Gedächtnis ist jetzt so schwach, und ich hab an so mancherlei zu denken gehabt. Der Herr führe uns nicht in Versuchung!«

Ihre Stimme erstarb in undeutlichem Murmeln.

»Es ist eine historische Ballade!« sagte Oldbuck begierig.

»Ja, aber es ist doch recht traurig,« sagte der Bettler, »wenn man ein Menschengemüt so völlig zerstört sieht, daß es alte Balladen singt, wo doch eben im Hause der Tod zu Gaste gewesen ist.«

»Still! Still!« sagte der Altertümler. »Sie hat wieder angefangen.«

Und ehe er noch ausgeredet hatte, erklang das Lied:

»Gezäumt die Rappen stehn zu Hauf,
Die Schimmel sonder Zahl,
Und stolze Ritter satteln auf,
Von Kopf zu Fuß in Stahl.

Kaum eine Meile ging's im Trab –
Holla! was ficht euch an?
Sprengt Donald nicht ins Tal herab
Mit zwanzigtausend Mann?

Breit weht der Banner stolzer Schwall,
Die Schwerter blinken hell,
Der Pibroch klingt im Widerhall,
Er schmettert laut und grell.

Der Graf im Bügel hoch sich hob
Und rief im Jubel aus:
Auf, Ritter werb um Ruhm und Lob,
Hier gilt es harten Strauß!

Was möchte wohl, mein Knappe brav,
Jetzt deine Losung sein,
Wärst du von Glenallan der Graf
Und ich wär Roland Cheyne?

Flucht wäre Schande, Knappe mein,
Und Kampf bringt Todesschlaf!
Was tätst du nun, mein Roland Cheyne,
Wärst du Glenallans Graf?

»Ihr müßt wissen, Kinderchen, dieser Roland Cheyne, so arm und alt ich auch hier am Kamin sitze, war mein Vorfahr, und ein fürchterlicher Mann war er an diesem Tage in der Schlacht, besonders seit der Graf gefallen war. Denn er machte sich's selber zum Vorwurf, daß er diesen Rat gegeben hatte, den Kampf zu wagen.«

Ihre Stimme klang lauter, als sie den kriegerischen Rat ihres Ahnherrn sang:

»Wär ich der Graf Glenallan, traun,
Und Ihr wärt Roland Cheyne,
So ließ ich schießen Rappes Zaum,
Den Sporn drückt ich ihm ein.

Und sind sie tausend auch an Zahl
Und wir nur ein paar Schock,
So tragen wir das Kleid von Stahl,
Sie nur den Schottenrock.

Mein Roß braust ihre Reih'n hindurch,
Wie es durchs Moorland bricht,
Wer edle Normann kennt die Furcht
Vor Hochlandsknappen nicht.«

»Hörst du, Neffe,« sagte Oldbuck, »deine gälischen Ahnen standen nicht eben in hoher Achtung bei den Kriegern des Tieflandes.«

»Ich höre,« sagte Hektor, »ein schwachsinniges altes Weib eine blödsinnige Ballade singen. Ich bin überrascht, Onkel, daß du, der du von Ossians Gesängen nichts hören willst, an solchem Tratsch Geschmack findest. Ich habe noch nie eine armseligere Dreierballade gehört, und ich glaube, bei jedem Hausierer oder Bänkelsänger finden wir bessere. Es wäre eine Schande, wenn ein solches Gefasel an der Ehre des Hochlandes rühren könnte.« Und er warf den Kopf in die Höhe und schnaufte verächtlich.

Die Alte hörte wohl ihre Stimmen, denn sie brach ihr Lied ab und rief:

»Nur herein, ihr Herren, nur herein, wer in guter Absicht kommt, bleibt nicht auf der Schwelle stehn.«

Sie traten ein, und zu ihrer Verwunderung sahen sie die Alte ganz allein. Wie ein Gespenst saß sie am Herde, runzlig, elend und widerlich, wackelnd und zitternd, triefäugig und von mißfarbiger Leichenblässe.

»Sie sind alle fort,« sagte sie, als die Männer eintraten, »wenn Ihr aber ein Weilchen Platz nehmen wollt, es wird bald wer kommen. Wenn ihr mit meiner Schwiegertochter oder mit meinem Sohne was zu besorgen habt, die werden wohl bald da sein. Ich selber kümmre mich nie um Geschäfte. Kinderchen, gebt Stühle her – ja so, die Kinder sind wohl auch weg.«

Sie sah sich um.

»Ich habe lange gesungen,« fuhr sie fort, »damit sie still sein sollten, aber nun sind sie auf und davon. Nehmt nur Platz, ihr Herren, es wird bald wer kommen.«

Sie ließ die Spindel, die sie hielt, aus der Hand gleiten, daß sie auf dem Boden sich tanzend drehte. Bald schien sie nur noch mit ihrer Spinnerei beschäftigt und schien von der Anwesenheit der Fremden gar nichts mehr zu wissen.

»Edie,« sagte der Altertümler, »versucht, ob Ihr sie daran erinnern könnt, daß sie Euch nach Glenallan-Haus geschickt hat!«

Edie erhob sich und stellte sich in derselben Haltung vor sie hin, die er in ihrem frühern Gespräch innegehabt hatte.

»Freut mich, daß ich Euch so wohl und munter wieder finde, zumal, seit ich das letztemal hier war, der Tod in Euerm Hause eingekehrt ist.«

»Ja,« sagte Elsbeth, der aber freilich nur eine allgemeine Vorstellung von erfahrenem Mißgeschick vorschwebte, ohne daß sie sich des einzelnen Vorfalles der letzten Zeit noch erinnerte, »wir haben Kummer gehabt. Mich wundert's nur, wie die jüngern Leute es überwinden. Mich drückt es schwer. Ich kann den Wind nicht pfeifen und die See nicht heulen hören, dann seh ich schon das Boot kieloben treiben und die Ertrinkenden mit den Wogen ringen. – Ach, ihr Herren, schlimme Träume hat man zwischen Schlafen und Wachen, ehe man zum langen tiefen Schlafe kommt. Manchmal ist mir ganz so, als wär mein Sohn oder Steenie gestorben und ich hätte gesehen, wie sie ihn zu Grabe getragen haben. Ist das nicht ein schnurriger Traum für eine alte, taube Bettel? – Das ist ganz gegen die Natur.«

»Ich glaube, mit dieser blödsinnigen Alten wird wenig anzufangen sein,« sagte Hektor verächtlich. »Wir vergeuden nur Zeit, wenn wir hier sitzen und ihr Gefasel mitanhören.«

»Hektor,« sagte der Altertümler, »wenn du auch ihr Unglück nicht respektierst, so ehre wenigstens ihr Alter und ihre grauen Haare – es ist dies das letzte Stadium des Daseins, das der lateinische Dichter so fein beschreibt:

Membrorum damno major dementia, quae omni nec
Nomina servorum, nec vultus agnoscit amici,
Cum quo praeterita coenavit nocte, nec illos,
Quos genuit, qos eduxit

Schrecklicher noch als aller Glieder Verlust ist der Wahnsinn,
Der nicht die Namen der Sklaven erkennt, noch das Antlitz des Freundes,
Welcher Abends zuvor mit ihm saß beim Mahle, noch jene,
Die er erzeugt und erzogen...

»Das ist lateinisch!« sagte Elsbeth, und richtete sich auf, als lauschte sie den Versen, die der Altertümler mit feierlicher Betonung sprach, »das ist lateinisch.« Und sie warf einen wilden Blick um sich her. »Hat endlich ein Priester mich aufgesucht? Ich will keinen Priester haben,« begann sie wieder mit ohnmächtigem Ingrimm. »Wie ich gelebt habe, so will ich sterben. Niemand soll sagen, daß ich meine Herrin verraten habe, wär's auch um meine Seele zu retten.«

»Das hat ein böses Gewissen gesprochen,« sagte der Bettler, »gewiß möchte sie gern sich der Schuld entladen, wär's nur um ihrer selbst willen.«

Und er drang von neuem in sie.

»He, Alte, Ihre Botschaft an den Grafen hab ich ausgerichtet.«

»An was für einen Grafen? Ich kenn keinen Grafen. Eine Gräfin hab ich früher Mal gekannt. Denn aus dieser Bekanntschaft, Nachbar, da kam –« und sie zählte an ihren verwelkten Fingern ab, während sie sprach: »erst Stolz, dann Hinterlist, dann Rache, dann falsches Zeugnis, und auch der Mord hat angepocht, wenn er auch nicht hereinkam. Und sind das nicht angenehme Gäste gewesen im Herzen eines Weibes, wie? Ich meine, es war eine stolze Gesellschaft.«

»Aber, Mütterchen, ich spreche ja gar nicht von der Gräfin Glenallan,« fuhr der Bettler fort, »sondern von ihrem Sohne, dem Lord Geraldin.«

»Jetzt versteh ich,« sagte sie. »Hab ihn gar lang nicht gesehen, und wir haben eine schwere Besprechung miteinander gehabt. Ach, Herren, der schmucke junge Lord ist so alt und gebrechlich geworden wie ich. So richtet Herzeleid und zerstörtes Liebesglück das junge Blut hin. Aber darum hätte seine Mutter sich kümmern müssen. Wir waren ja nur ihre Diener und Untertanen, wißt ihr. Mir kann gewiß niemand einen Vorwurf machen. Er war ja nicht mein Sohn und sie war meine Gebieterin. Und er war ja auch nur ein Halbblut, aber in ihr floß das reine, echte Blut der Glenallans. Nein, nein, was ich für die Gräfin Joscelinde getan habe und gelitten habe, das tut mir nicht leid. Das wird mir nie leid tun.«

Sie zog den Flachs vom Rocken mit der verstockten Miene einer Person, die nicht beichten will, und fuhr mit Spinnen fort.

»Wie ich gehört habe, Alte,« sagte der Bettler und begann nun mit dem, was Oldbuck ihm von der Familiengeschichte erzählt hatte, »wie ich gehört habe, sollen zwischen dem Grafen, das heißt Lord Geraldin, und seiner Braut böse Zungen Unheil gestiftet haben?«

»Böse Zungen?« sagte sie rasch und bestürzt. »Und was hatte denn sie von bösen Zungen zu befürchten? Sie war gut und schön – so sagte wenigstens alle Welt. Aber wenn sie nur selber die Zunge vor andern Leuten im Zaume gehalten hätte, dann hätte sie wie eine Lady trotz allem noch heute dastehn können.«

»Aber wie ich gehört habe,« fuhr Ochiltree fort, »ging im Lande das Geklatsch, sie wären beide zu nahe miteinander verwandt gewesen, als sie sich trauen ließen?«

»Wer wagt's, davon zu sprechen?« versetzte die Alte hastig. »Wer wagt's zu sagen, sie hätten sich trauen lassen, sie wären verheiratet gewesen? – Wer hat davon etwas gewußt? – Die Gräfin nicht – ich nicht – wenn sie sich heimlich geheiratet haben, so sind sie heimlich wieder geschieden worden. Sie tranken von der Quelle ihres eignen Betruges.«

»Nein, verwünschte Bettel,« rief Oldbuck, der nicht länger still sein konnte, »getrunken haben sie von dem Gift, das du und deine gottlose Herrin ihnen gebraut habt.«

»Ha ha!« versetzte sie. »Hab ich's doch gedacht, daß es dahin kommen würde. Wenn sie mich verhören wollen, dann brauch ich nur ganz still zu sitzen. Tortur gibt's ja nicht mehr heutzutage – und, gäb es sie noch, meinetwegen mögen sie mich zerreißen! Schlecht ständ es um den Mund eines Dieners, der den verrät, des Brot er ißt.«

»Sprecht mit ihr, Edie,« sagte der Altertümler, »sie kennt Eure Stimme und gibt bereitwillig darauf Antwort.«

»Wir werden nichts mehr aus ihr herauskriegen,« sagte Ochiltree, »wenn sie sich so niedergehockt hat und die Arme so über der Brust gekreuzt hat, dann soll sie, wie die Ihren sagen, wochenlang nicht ein Wort reden. Und nebenbei kommt mir's so vor, als wenn ihr Gesicht sich, seit wir hereingekommen sind, auffallend verändert hätte. Aber ich will's noch mal mit ihr versuchen, um Euer Ehren einen Gefallen zu tun. – Es ist Ihnen also nicht mehr in Erinnerung, Mütterchen, daß Ihre alte Herrin, die Gräfin Joscelinde, begraben worden ist?«

»Begraben!« rief sie, denn dieser Name übte noch immer seine Wirkung auf sie. »Dann müssen wir also folgen. Alle müssen reiten, wenn sie im Sattel sitzt. Dem Lord Geraldin sollen sie sagen, wir wären voraus geritten. Bringt mir Hut und Schärpe – ich kann doch nicht zu meiner Herrin in den Wagen steigen mit so liederlichem Haar!«

Sie hob die verschrumpften Arme und schien beschäftigt, sich den Mantel umzuhängen, dann ließ sie die Arme langsam und steif sinken, und dieselbe Idee einer Reise ging ihr noch durch den Kopf und sie faselte überstürzt und abgebrochen weiter:

»Ruft Fräulein Neville. – Was wollt Ihr mit Lady Geraldin? Fräulein Neville sagt ich – nicht Lady Geraldin – eine Lady Geraldin gibt's nicht – sagt ihr das, und sie soll ihr nasses Kleid ausziehen und nicht so bleich dreinschauen. Ein Kleines? – Was sollte sie mit einem Kindchen zu tun haben? – Mädchen kriegen doch keins. Theresa, Theresa – die Gnädige ruft uns! Bringt eine Kerze, die große Treppe ist finster wie die Mitternacht – wir kommen, Gnädige!«

Mit diesen Worten sank sie auf ihren Sitz zurück, und von da der Länge nach auf die Dielen.

Edie lief hin, sie zu stützen, aber er hatte sie kaum aufgefangen, so rief er:

»Es ist alles vorbei – mit dem letzten Wort ist sie hinüber.«

»Unmöglich!« rief Oldbuck und trat herzu. Hektor eilte an seine Seite.

Aber es war nicht mehr daran zu zweifeln. Mit dem letzten hastigen Worten hatte sie den Geist aufgegeben, und nichts war verblieben, als die sterblichen Reste des Geschöpfes, das so lange mit dem Bewußtsein verborgener Schuld und mit allem Jammer des Alters und der Armut gerungen hatte.


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