Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.

Der Altertümler war bald an den wenigen Hütten, die um die Muschelklippe herumstanden, angelangt. Neben ihrem gewöhnlichen schmutzigen, unbehaglichen Aussehen hatten sie jetzt noch die trübseligen Zutaten von Trauerhäusern. Die Boote waren alle auf den Strand gezogen; und obwohl das Wetter schön und günstig war, war doch der Sang, den die Fischer auf See anzustimmen pflegten, verstummt, und auch das Geschrei der Kinder und das schrille Lied der Mutter, wenn sie draußen vor der Tür die Netze flickte, war heute nicht zu hören.

Ein paar von den Nachbarn – einige in den antiken,, aber gut gehaltenen schwarzen Anzügen, die meisten aber in ihren alltäglichen Kleidern, alle aber mit dem Ausdruck der Trauer über ein so plötzliches und unerwartetes Unglück – standen um die Tür der Mucklebackitschen Hütte herum und warteten, »bis die Leiche käme«. Als der Laird von Monkbarns kam, machten sie ihm Platz und zogen die Hüte, wie er vorbeiging, mit einer Gebärde schwermütiger Höflichkeit, und er erwiderte ihre Grüße in derselben Weise.

Im Innern der Hütte bot sich ein charakteristisches Bild. Die Leiche im Sarge lag in der hölzernen Bettstelle, in der der junge Fischer zu Lebzeiten geschlafen hatte. Ein Stückchen davon stand der Vater, dessen verwittertes Gesicht, beschattet von graugesprenkeltem Haar, schon manche stürmische Nacht und manchen gefahrvollen Tag mitangesehen hatte. Was er an seinem Sohne verloren hatte, das bedachte er anscheinend bei sich mit dem starken Gefühl schmerzlichen Kummers, das harten und rauhen Charakteren eigen ist und sich fast in Haß gegen die Welt und alle, die nach dem Tode des geliebten Wesens in ihr bleiben, äußert.

Der alte Mann hatte die verzweifeltsten Anstrengungen gemacht, seinen Sohn zu retten, und war nur durch Gewalt zurückgehalten worden, als er einen erneuten Versuch in einem Augenblick hatte machen wollen, wo er, ohne dem Opfer helfen zu können, selber hätte umkommen müssen. All dies brodelte jetzt, wie es schien, in seiner Erinnerung.

Von der Seite starrte er nach dem Sarge hin, wie nach einem Dinge, das er nicht gerade ansehen konnte, von dem er aber doch den Blick nicht abzulenken vermochte. Auf die notwendigen Fragen, die ab und zu an ihn gerichtet wurden, gab er kurz, barsch und fast wütend Antwort.

Seine Familie hatte bis jetzt noch kein Wort des Trostes oder des Beileids an ihn zu richten gewagt. Sein mannhaftes Weib, das sonst die ganze Familie, wie sie sich mit Recht rühmte, unter ihrer Fuchtel hatte, war durch diesen herben Verlust schweigsam und unterwürfig geworden; vor ihrem Manne hatte sie die Ausbrüche ihres mütterlichen Schmerzes verbergen müssen.

Seit das Unglück geschehen war, hatte er Nahrung von sich gewiesen, und da die Frau selber nicht wagte, sich ihm zu nähern, so hatte sie an diesem Morgen in liebevoller Kriegslist ihr jüngstes und liebstes Kind mit etwas Essen zu ihm geschickt. Er hatte es zuerst mit zorniger Heftigkeit von sich gestoßen, daß das Kind erschrocken war, dann aber hatte er den Jungen an sich gerissen und mit heißen Küssen bedeckt.

»Du wirst ein braver Bursch werden, Patie – und du wirst nicht ersaufen – aber du kannst nie – niemals das werden, was er mir gewesen ist! – Seit seinem zehnten Lebensjahre ist er mit mir hinausgesegelt, und er hat in der ganzen Gegend nicht seinesgleichen gehabt. Es heißt, der Mensch muß sich in alles fügen, ich will's versuchen.«

In einer andern Ecke der Hütte, das Gesicht mit der darübergeworfenen Schürze bedeckt, saß die Mutter. Wie groß ihr Schmerz war, das verriet ihr Händeringen und das krampfhafte Wogen ihrer Brüste, das ihre Kleidung nicht verbergen konnte. Zwei ihrer Klatschschwestern, die ihr geflissentlich die gemeinplätzigen Redensarten, daß man sich mit unabänderlichem Mißgeschick abfinden müsse, ins Ohr flüsterten, konnten sie in ihrem Schmerze nicht trösten und schienen daher bemüht, ihren Jammer zu betäuben.

Aber die Gestalt der alten Großmutter war die auffallendste Erscheinung in dieser Gruppe der Trauer. Sie saß auf ihrem gewöhnlichen Platz mit ihrer gewöhnlichen Apathie und Interesselosigkeit an den Vorgängen um sie her. Ab und zu bewegte sie die Hände, als drehe sie ihre Spindel, die aber weggelegt worden war, dann suchte sie erstaunt mit den Augen nach dem gewohnten Arbeitszeug, dann schien sie verdutzt über die schwarze Farbe des Kleides, das sie ihr angezogen hatten, und verwirrt so viele Leute um sich zu sehen. Dann endlich hob sie mit geisterhaftem Blick die Augen zu dem Bette, in welchem der Sarg ihres Enkels stand, und nun erst wurde ihr klar, welch unsägliches Unglück sie getroffen hatte.

Dieser Wechsel von Gefühlen – Verwirrung, Verwunderung und Schmerz – schien sich auf ihrem sonst leblosen Gesicht öfter abzuspielen. Aber sie sprach kein Wort und vergoß keine Träne, auch konnte kein Mitglied der Familie an einem Blick oder ihrer Miene erkennen, bis zu welchem Grade sie das ungewöhnliche Treiben um sie her verstand. So saß sie unter der Trauergesellschaft wie ein Bindeglied zwischen den Hinterbliebenen und dem Toten, den sie beweinten – ein Wesen, in dem das Licht des Lebens schon verdunkelt war durch die zunehmenden Schatten des Todes.

Als Oldbuck dieses Haus der Trauer betrat, wurde er von allen Seiten mit stummem Gruße empfangen, und der schottischen Sitte entsprechend wurde Wein und Branntwein und Brot unter den Gästen herumgereicht. Als diese Erfrischungen herumgetragen wurden, hielt die alte Elsbeth zum großen Schreck der Anwesenden das Mädchen, das sie brachte, an, nahm ein Glas zur Hand und stand auf. Das Lächeln des Irrsinns spielte auf ihrem verschrumpften Gesicht, wahrend sie mit hohler, zitternder Stimme sagte:

»Auf euer aller Wohl, Leute! Und mögen wir noch oft so lustig zusammenkommen!«

Dieser Spruch, der Unheil zu verkünden schien, flößte allen Entsetzen ein, sie rührten das Getränk nicht an und stellten die Gläser hin, sich vor Grauen schüttelnd, und wer da weiß, wie viel Aberglauben noch heute unter den gewöhnlichen Leuten besonders bei solchen Anlässen im Schwange ist, kann sich hierüber nicht wundern. Aber als das alte Weib das Getränk kostete, rief sie plötzlich mit kreischender Stimme:

»Was ist das? – Das ist ja Wein. Wie kommt Wein in meines Sohnes Haus? Ach,« fuhr sie plötzlich mit unterdrücktem Seufzer fort, »jetzt besinn ich mich auf die traurige Ursache.«

Das Glas fiel ihr aus der Hand, sie starrte eine Weile auf das Bett, in dem der Sarg ihres Enkelkindes stand, und allmählich sank sie in den Stuhl zurück und bedeckte Augen und Stirn mit ihrer verwelkten, wachsbleichen Hand.

In diesem Augenblick trat der Geistliche in die Hütte, und nachdem er stumm und traurig von den Leuten drinnen begrüßt worden war, trat er auf den Vater zu und schien ihm ein paar Worte des Trostes und des Beileids zuzusprechen, aber der alte Mann war nicht imstande, darauf zu hören, dennoch nickte er mürrisch und schüttelte dem Prediger die Hand, wie um ihm für seine gute Absicht zu danken. Aber er war entweder nicht imstande oder nicht willens, ihm mit Worten zu antworten.

Der Priester schritt dann zur Mutter, indem er so langsam, leise und behutsam über den Boden hinschritt, als ob er fürchtete, daß die Dielen wie unsicheres Eis unter seinen Füßen einbrechen könnten, oder daß das erste Echo eines Trittes irgend einen magischen Zauber lösen und die Hütte mit all ihren Einwohnern in einen unterirdischen Abgrund versenken könnte.

Der Inhalt dessen, was er zu dem armen Weibe sagte, ließ sich nur aus ihren Antworten entnehmen, wie sie unter halb ersticktem Schluchzen nach jeder Pause in seiner Rede mit schwacher Stimme sagte:

»Ja, Herr Pastor, ja – Sie sind sehr gütig, gewiß doch, sehr gütig! – Freilich, freilich – wir müssen uns drein schicken! – Aber, ach du lieber Gott, der arme Steenie, der Stolz meines Herzens, er war so hübsch und stattlich, und eine Stütze und Hilfe für seine Familie und ein Trost für uns alle und eine Freude für jeden, der ihn angesehen hat! Ach, mein Junge, mein Junge, mein Junge! was liegst du denn dort, und ach, weshalb bin ich noch am Leben, daß ich dich beweinen muß!«

Gegen diesen Ausbruch von Kummer und natürlicher Liebe war nicht anzukämpfen. Oldbuck hatte wiederholt zu seiner Schnupftabakdose gegriffen, um seine Tränen zu verbergen, die trotz seines schnurrigen, kaustischen Temperaments bei solchen Gelegenheiten leicht sich einstellten. Die Frauen, die da waren, wimmerten, die Männer hielten sich die Hüte vors Gesicht und sprachen leise miteinander.

Inzwischen sprach der Geistliche seinen geistlichen Trost der alten Großmutter zu. Zuerst hörte sie – oder wenigstens schien es so – auf das, was er sagte, doch mit ihrer gewohnten Apathie und Bewußtlosigkeit. Aber als er in eindringlicherer Rede ihrem Ohre so nahe kam, daß der Sinn der Worte ihr deutlich verständlich wurde, da nahm ihr Gesicht sofort den starren, ausdrucksvollen Zug an, der ihr in ihren lichten Augenblicken eigentümlich war. Sie richtete Kopf und Leib empor, schüttelte das Haupt in einer Weise, die zum mindesten Ungeduld, wenn nicht gar verächtliche Ablehnung seines Zuspruches verriet, und bewegte die Hand leichthin, aber mit einer so vielsagenden Gebärde, daß alle, die es sahen, erkennen konnten, wie wenig ihr an dem geistlichen Trost gelegen war, den sie mit unnahbarer Geringschätzung von sich weise.

Der Prediger trat zurück, wie von Abscheu ergriffen, und indem er sanft die Hand hob und wieder fallen ließ, schien er zugleich Verwunderung, Kummer und Mitleid mit ihrem entsetzlichen Geisteszustande zu hegen. Die Umstehenden schienen diese Gefühle zu teilen, und ein Flüstern lief von Mund zu Mund und gab kund, wie sehr ihr verbissenes, wahnwitziges Wesen sie alle mit Grausen erfüllte.

Inzwischen waren aus Fairport noch einige erwartete Gäste angekommen, und die Trauergesellschaft war nun vollzählig. Wieder wurde Wein und Branntwein herumgereicht und das stumme Begrüßen wiederholte sich. Die Großmutter nahm zum zweitenmal ein Glas zur Hand, trank den Inhalt und rief:

»Hahaha! Zweimal an einem Tage habe ich Wein getrunken! Wann wäre das schon mal dagewesen, ihr Leute! Noch nie!«

Die vorübergehende Röte wich aus ihrem Gesicht, sie setzte das Glas hin und sank wieder auf den Platz, von dem sie sich erhoben hatte.

Als die allgemeine Verblüffung gewichen war, bedeutete Oldbuck, dem bei all diesen Vorgängen das Herz blutete, dem Prediger, es sei wohl Zeit, nun die Feierlichkeit zu vollziehen. Der Vater war unfähig, Weisungen zu geben; aber der nächste Verwandte der Familie gab dem Zimmermann ein Zeichen, der in solchen Fällen in dieser Gegend den Dienst des Leichenbestatters verrichtet.

Das Knarren der Sargnägel verkündete nun, daß der Deckel über dem letzten Hause eines Menschen sich schlösse. Der Sarg war mit einem Tuche bedeckt worden und wurde von den nächsten Verwandten auf Querhölzern getragen. Man wartete nur auf den Vater, der, wie es üblich war, das Kopfende tragen sollte. Ein paar der ihm näher stehenden Leute sprachen zu ihm, aber er schüttelte zum Zeichen der Weigerung Hand und Kopf. Mehr in guter Absicht, aber ohne Aussicht auf Erfolg, wollten die Anverwandten ihn dringlicher dazu auffordern, da trat Oldbuck zwischen den trostlosen Vater und seine wohlmeinenden Quälgeister und sagte ihnen, er als Grundherr des Verstorbenen wolle selber »das Haupt des Toten zum Grabe tragen«.

Trotz der traurigen Stunde fühlten doch die Verwandten die Herzen höher schlagen vor Freude über diese große Auszeichnung des Lairds, und durch diese Huldigung, die Oldbuck von Monkbarns den alten Sitten des schottischen Volkes darbrachte, gewann er sich mehr Popularität, als durch alle die Summen, die er jährlich zu wohltätigen Zwecken verteilen ließ.

Der Leichenzug setzte sich nun in Bewegung. Voran schritten die Büttel mit ihren Amtsstäben, sie waren der schottischen Sitte gemäß in fadenscheinige, schwarze Röcke gekleidet und trugen Jagdmützen, die mit Krepp garniert waren. Der Kirchhof war etwa eine halbe englische Meile entfernt, und der Zug bewegte sich mit der bei solchen Anlässen üblichen Feierlichkeit – die Leiche wurde in die mütterliche Erde gebettet – und als die Totengräber ihre Arbeit getan und die Grube zugedeckt hatten, zog Oldbuck den Hut und grüßte die Teilnehmer, die in traurigem Schweigen dabei standen, und mit diesem Abschiedsgruß gingen die Leidtragenden auseinander.

Der Geistliche bot dem Altertümler seine Begleitung an, aber Herr Oldbuck, noch zu sehr unter dem Eindruck, den das Verhalten des Fischers und seiner Mutter auf ihn gemacht hatte, und bewegt von Mitleid, vielleicht auch von jener Neugierde, die uns lockt, das, was zu sehen uns Schmerz bereitet hat, näher zu ergründen, zog er einen einsamen Rückweg an der Küste entlang vor, in der Absicht, noch einmal im Vorbeigehen in der Hütte vorzusprechen.


 << zurück weiter >>