Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

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Zwanzigstes Kapitel

Die Marketenderin und ihr Korps

Unterdessen hatte Traudchen Gymnich bereits eine weite Strecke des Wegs, der zwischen Dudenrode und Ruppenstein lag, hinter sich. Traudchen hatte keinen bestimmten Plan über das, was sie tun wollte; aber sie wußte, daß sie Freunde in Ruppenstein finden werde, und sie war entschlossen, mit deren Hilfe das Äußerste zu versuchen.

Sie traf einen Teil dieser Freunde, noch bevor sie es gehofft. Es war eine große Schar österreichischer Grenadiere. Die Leute hatten hier, wie Traudchen wußte, einen Ruhetag; und so kam es, daß sie, noch bevor sie den Ort erreicht hatte, auf einen Schwarm von ihnen stieß, der in leinenen Überröcken, leichte graue Mützen auf dem Kopf, den Weg müßig und ohne Ziel langsam dahergeschlendert kam und sich die Zeit damit vertrieb, die Begegnenden mit schlechten Späßen aufzuhalten. Sie fühlten sich offenbar sehr wohl im Bewußtsein einer besonderen Freiheit. Die Offiziere waren samt und sonders weit davon; sie waren von dem Grafen zu der Jagd eingeladen, die er auf heute anberaumt hatte, und die wackern Grenadiere wünschten ihnen dabei viel Vergnügen.

Als die Soldaten den Wagen ihrer Marketenderin entdeckten, der sich, so rasch das Rößlein davor laufen konnte, ihnen nahte, säumten sie nicht, ihn zu umringen.

»Heda, die Marketenderin, das Traudl is da!« rief der eine, und ein anderer begann ein Schnaderhupfl zu jodeln, das er selbst auf sie gedichtet hatte:

Moan herziga Traudl, moan Schazl is da,
Un' Faßerl hat's, volle und Bußerl hat's a –
Die Faßerl verschenkt und die Bußerl schenkt sie ...
Die Faßerl an enk und die Bußerl an mi! ...

»Wo is denn Ihr Komerod, die Olte mit da groß'n Schiefertafeln?« rief ein dritter.

»Is holt tot, die Olte, und die große Schiefertafel und die Kreid' is a tot«, lachte ein vierter.

»Aobers Faßerl tut doch noch leben, loß'ns mal schau'n, Jungfer Traudl, ob's holt noch lebt, das Faßerl!«

»Hurra, das Faß'rl und die Traudl soll'n leben«, schrie der ganze Haufe zusammen!

»Die Alte ist nicht tot und die Schiefertafel mit euerm Sündenregister auch nicht!« rief Traudchen zwischen diese Ausrufe, die von allen Seiten um sie her erschollen – »aber ich will über die ganze Tafel mit der Hand fahren, wenn ihr mich ruhig anhört ... lass' Er das Pferd in Ruhe, Kurzpichler, und Er, Myßlowatz, tret' Er vom Wagen zurück – ruhig anhören sollt ihr mich, und wenn ihr mir beisteht, geb' ich euch den ganzen Vorrat, den ich hier bei mir im Wagen habe, zum Plündern!«

»Hurra für die Marketender'n«,« riefen jetzt lachend alle Kehlen, und Myßlowatz, ein kleiner gelber Krainer, der aufs Rad geklettert war, um den Vorratraum hinten im Wagen zu rekognoszieren, schrie über die andern fort:

»Fangen mir holt mit dem Plündern an – der Marketender'n beistehen wollen mir nachher schon. Drei volle Faß'rl san hier!«

»Herunter denn mit den Faß'rln! Wo san die Becherl?« rief Kurzpichler aus. »Geben's nur die Becherl her, Jungfer Traud. Sie soll schau'n, wie Ihr beigestanden wird alleweil! Den Teufel aus der Höllen holen m'r, wenn die Jungfer a Vergnügen dran find't; den Beschlag von dem seinigen Pferdefuß hergeben soll er, wenn die Jungfer vielleicht ein neues Hufeisen fürs Röß'l ...«

»Nur Ruhe, Ruhe!« fuhr Traudchen gebieterisch dazwischen, während die Leute im Sturm ihren Wagen nahmen und sich der vollen Fässer mit gebrannten Wassern bemächtigten. »Wollt ihr mit dem Trinken beginnen, meinethalb. Hier habt ihr auch die Becher dazu«, fuhr sie fort, indem sie mehrere blecherne Trinkgeschirre aus dem Sitzkasten hervorholte. »Aber ich habe euer Wort, daß ihr mir nachher beistehen wollt, auf euere Soldatenehre ...«

»Auf unsere Soldatenehre!« schrie ein breitstämmiger und langer Unterinntaler, »und wer sich weigert, den derschlag ich, Kreuzhimmelsakra ... die Marketender'n soll leben!« Er stürzte eine volle Ration, die ihm der Kurzpichler eingeschenkt hatte, in seine gebräunte Gurgel.

Traudchen stand im Vorderteile ihres Wagens mit untergeschlagenen Armen und blickte auf den lustigen Tumult um sie her hinab. Sie dankte jetzt dem Himmel, daß sie am Morgen, beim Wegfahren von Haus Eggenrode, mit so vielen andern Gedanken beschäftigt, nicht daran gedacht hatte, ihr Gefährt um die drei vollen Marketenderfäßlein dahinten zu erleichtern – sie kamen ihr jetzt in bewunderswerter Weise zustatten. Als sich dann nach einer guten Weile der erste Lärm ein wenig beruhigt hatte, winkte sie Krieshuber, den langen Unterinntaler, heran, der ihr als der Zuverlässigste aus dem ganzen Schwarm bekannt war und der jetzt eben einen besonderen Edelmut seines Charakters dadurch an den Tag legte, daß er dem wackern Rößlein zur Erquickung eine Handvoll Gras, das er neben dem Wege zusammengerafft hatte, vorhielt.

»Krieshuber,« sagte sie, sich zu ihm niederbeugend, als er an das Wagenrad trat – »Krieshuber, ich will Euch jetzt sagen, wozu Ihr mir beistehen sollt. Da drin« – sie wies nach der vor ihnen liegenden Stadt – »da drinnen in irgendeinem abscheulichen Kerker sitzt ein unschuldiger braver Mensch auf den Tod ...«

»Ja, hab's schon gehört«, versetzte Krieshuber, »die Quartierleute redeten davon.«

»Er muß befreit werden, Krieshuber, und dazu sollt Ihr mir beistehen!«

Der ehrliche Unterinntaler machte große Augen. »Wird holt nit angehn, Jungfer Marketenderin,« sagte er kopfschüttelnd.

»Es muß geschehen, Mann,« versetzte sie heftig, »es muß geschehen – Ihr habt's versprochen, und, damit ich's Euch ganz sage ... es ist mein Schatz!« »Ja, dann ...« sagte der Soldat lächelnd, »dann ist's freili schon anders ... dann ... na, lossen's mi mit dem Myßlowatz reden, das ist der Gescheut'st von uns. Hör', Myßlowatz!«

Myßlowatz hatte sich unausgesetzt sehr eifrig mit dem Marketenderfäßlein beschäftigt; seine Augen glänzten so, daß man sah, sie waren in ungewöhnlicher Weise erleuchtet für alle schwierigen Dinge, die ihm in diesem Augenblick vorkommen konnten.

Nachdem Krieshuber ihn auf die Seite genommen und ihm mitgeteilt, um was es sich handle, sagte er:

»Na, dös halt kann lustig werden – da bin i dabei! Ist's ihr Schatz, der arme Sünder, so werden's das Jungferl auch zu ihm eini lassen müssen; und dann werden's uns auch dabei san lassen müssen, denn wie er ihr Schatz ist, so san mer halt die Freund' die ihrigen; und wenn sie dann ihr'n Bu mit sich herausnimmt aus dem Turm, nachher ist's ihre Sache, uns geht's nicht an – aber leiden, daß aner ihr was in den Weg wirft, das dürfen mer nicht, dafür gehört's zum Bataillon.«

»Recht hast' meiner Seel', Myßlowatz, wer ihr was in den Weg legt, schau, den derschlag'n mer – dafür gehört's zum Bataillon – also nur vorwärts, ihr Leut'ln – fünfundzwanzig werden dabei für jeden von uns herauskommen – i mein,' i fühl sie schon, aber dös schad' nichts!«

Die übrige Mannschaft war nicht mehr in der Stimmung, ein Unternehmen zu verwerfen, welches Myßlowatz und Krieshuber in geheimem Kriegsrat gebilligt und beschlossen hatten. Als sie mit dem Inhalt der Fäßlein zu Ende waren, wurden sie eingeweiht; ein allgemeiner Ausbruch von Vergnügen nahm die Mitteilung dessen, was geschehen sollte, auf. Eine kleine Reibung mit den gräflich Ruppensteinschen Grauen erschien ihnen in diesem Augenblicke in einem außerordentlich heitern und anziehenden Lichte. »Nur vorwärts, Marketenderin!« rief es von allen Seiten: »sie sollen den Schatz herausgeben, die da drinnen – nur vorwärts – in Zügen aufmarschiert – die Marketenderin kommandiert, an die Spitz' die Marketenderin!«

»Die Marketenderin an die Spitz'!« jubelten alle, »nur herunter vom Wagen – das Kommando übernommen!«

»Tun's ihnen den Willen, Jungfer!« rief Krieshuber und streckte die Hand aus, um Traudchen beim Absteigen behilflich zu sein.

Traudchen besann sich nicht lange; sie sprang vom Wagen herunter, übergab Krieshuber die Zügel, eilte an die Spitze der Männer, und rief nun, so laut ihr hochklopfendes Herz es ihr erlaubte, ihr Kommandowort: »Marsch!«

Die Leute hatten sich in Zügen, vier Mann hoch, aufgestellt; die Kolonne setzte sich augenblicklich in Bewegung. Kieshuber führte den Wagen im Nachtrab.

Nach zehn Minuten war das Tor des Städtleins erreicht. Die Kolonne rückte in die Straßen ein, wo sie augenblicklich von rechts und links her verstärkt wurde durch Kameraden, die hier vor den Haustüren saßen oder mit den Mädchen an den Brunnen plauderten. Sie war gewiß bereits eine Kompagnie stark, als man vor der gräflichen Hauptwache anlangte, welche am obern Ende des Städtleins an dem freien Platze vor dem Torgebäude des Schlosses lag. In einer Mansardenkammer über der Wachtstube war das Militärgefängnis, in welches man Hubert Bender gebracht hatte, und von dem aus er seinen letzten Weg antreten sollte. Mehrere von den Soldaten waren davon unterrichtet, weil sie von den Leuten, bei denen sie einquartiert waren, von dem armen Kompagniechirurgen gehört hatten – sie riefen es Traudchen während des Marsches zu, wohin sie ihre Schritte lenken müsse. Traudchen schaute mit fieberhaft gerötetem Antlitz, mit ängstlich suchenden Blicken zu den vergitterten Mansardenfenstern auf. Aber umsonst. Es war niemand daran zu sehen. Die gräflichen Grauen – kaum ein Dutzend mochten ihrer sein – wurden vom Posten ins Gewehr gerufen, als die Kolonne sich auf sie zuwälzte; die letztere hatte sie im Augenblick vollständig umströmt, so daß sie sich nicht rühren konnten; zugleich wurden die untern Räume des Wachtgebäudes angefüllt von den Österreichern.

Die meisten der Leute, die neu hinzugekommen, wußten natürlich sehr wenig, um was es sich eigentlich handelte. Sie hatten sich angeschlossen, in der Voraussetzung, daß es einen kleinen Rumor, einen Ruhetagsspaß geben solle; und da sie müßig waren, so hatte keiner Lust zurückzubleiben, namentlich da die Sache auf eine Fopperei der gräflichen Kontingentsmannschaft, welche ihnen als eine sehr komische und absonderliche Menschengattung vorkam, hinauszulaufen schien. Die Unteroffiziere traten ihnen nicht hemmend in den Weg, sie ahnten nicht, worauf es eigentlich gemünzt sei; und was die Bande der Disziplin anging, so waren diese, wie bei jeder Truppe, die aus einem langen und mühseligen, blutigen Feldzuge heimkehrt, ganz außerordentlich gelockert. Bei denjenigen, welche Traudchen zuerst in ihr Vertrauen gezogen hatte, war aber jetzt, nachdem sie gesehen, wie gewaltig die Zahl derer, welche ihnen folgte, angeschwollen, der letzte Rest von Bedenken geschwunden. Was sie in der durch Traudchens Blechbecher unterstützten Aufregung mutwillig unternommen, das konnte jetzt im selben Sturmtempo ins Werk gesetzt werden – es waren viel zuviel Genossen da, als daß man sie bestrafen konnte.

Während also die Soldaten Philipps III. von den lärmenden, lachenden, ihren Witz an ihnen reibenden Kaiserlichen umdrängt waren, so daß sie sich nicht rühren konnten, war zugleich das Innere des Wachthauses von den letztern erfüllt, und Traudchen befand sich, furchtlos, aber in einer atemlosen Hast, in einer Aufregung, die ihre Sinne und ihre Kräfte verdoppelte, mitten zwischen der lauten und ausgelassenen Bande. Sie stand jetzt innerhalb des eigentlichen großen, nackten Wachtlokals, und ihre Blicke spähten danach, wo sich der Aufgang in das Mansardenstockwerk befinde, als sie sich von hinten am Kleide gezupft fühlte.

»Lassen's sich nur gleich die Schlüsseln herausgeben, die Schlüsseln,« flüsterte ihr Krieshuber, der neben ihr stand, ins Ohr – »der Myßlowatz hält draußen mit dem Wagen, i hob g'sagt, er soll dem Röß'l a Stuck mit Branntwein getränktes Brot ins Maul stecken, nachher lauft's wie besessen – fordern's nur die Schlüsseln, – 's ist halt immer besser, als wenn wir mit Gewalt hineinbrechen!«

»Aber wo sind die Schlüssel – wo find' ich sie?« »Ja, wo san's ... aber was Teufi, hockt nit da aner noch auf der Pritschenbank? i wette, dös ist der Mann, der Ihr helfen kann!«

Er deutete auf eine Ecke des Raums, und er und Traudchen drängten sich sodann durch bis in diese fernste Ecke; wie ein Affe, die Beine unter sich gezogen, saß hier ein ruppiges, militärisch gekleidetes, aber unaussprechlich schmutziges Individuum, das halb mit ängstlichen, halb mit schadenfroh blitzenden Augen auf den Tumult blickte, der so plötzlich die Wachtstube erfüllt hatte.

»He, Kamerad – auf mit Ihm – zeig' Er uns, wo san die Schlüsseln – die Schlüsseln zu dem Gefängnis oben ... auf mit Ihm, oder das Himmelkreuz ...«

»Er hat gut fluchen«, fiel der Mensch dem Kaiserlichen ins Wort, und dabei streckte er mit grinsendem Lachen ein Bein aus, an welchem eine Fessel und eine Kette klirrten.

Traudchen schauderte zurück.

»Auf kann Er freilich nit!« sagte Krieshuber ... »was habt's begangen?«

»Desertiert ... soll dafür durchgehauen werden!« versetzte der Gefangene.

»Gratuliere!« sagte Krieshuber. »Aber angeben kann Er, wo die Schlüsseln san!«

»Wozu? wollt Ihr mich losschließen?«

»Ihn?« fiel Krieshuber ein – »werden's bleiben lassen!« »Dann bekommt Ihr die Schlüssel nicht!« erwiderte der Mensch mit trotzigem Augenrollen.

»In Gottes Namen denn!« fiel Traudchen ein – »Er soll befreit werden, wenn's möglich ist.«

»Zuerst?«

»Zuerst! – wo sind die Schlüssel?!«

»Dort – hebt den Strohsack auf – vorn unter der Klappe.«

Traudchen und Krieshuber standen im nächsten Augenblick da, wohin der Deserteur sie wies; in der entgegengesetzten Ecke der Wachtstube lag ein Strohsack auf der Pritsche – wahrscheinlich war dies der Ehrenplatz für den kommandierenden Unteroffizier der Wache; während Krieshuber nun den Strohsack beiseitewarf, fiel Traudchens Auge auf eine kleine, bisher von demselben bedeckten Klappe am Fußende der Pritsche – sie riß sie auf, aus einem Kasten darunter glänzten ihr zwei Bunde mit großen und kleinen Schlüsseln entgegen, und mit einem unterdrückten Freudenschrei ergriff sie dieselben.

»Jetzt, wo ist die Treppe hinauf?« rief Krieshuber – »den Kerl in der Ecke do lassen mer sitzen, mer haben nit Zeit mit ihm zu verlieren.«

»Nein, nein,« fiel in ihrer zitternden Aufregung Traudchen ein, »er hat unser Wort!«

Sie eilte zu dem Deserteur zurück. Sie hielt die beiden Schlüsselbunde vor ihm empor ... er streckte aufschnellend die Hand aus, um sie zu ergreifen – aber der Unterinntaler fuhr mit Blitzesschnelle dazwischen und stieß ihn zurück. – »Halt, Kamerad,« sagte er – »erst gibst an, wo geht's hinauf?«

»Dort«, erwiderte der Deserteur und wies auf eine verschlossene Tür an der Wand zu seiner Linken.

»Kennst dich aus mit den Schlüsseln hier?«

Der Deserteur nickte mit dem Kopfe.

»Wohl ... so sollst's haben, daß dich losmachen kannst, aber erst gelobst der Jungfer Marketenderin, daß du ihr dann helfen willst, den dort oben herauszuholen. Gelobst's?«

Der Mensch nickte wieder.

»Sprich's aus!«

»So soll mich, wenn ich's nicht tu', der leibhaftige ...«

»Na, nu is genug schon,« fiel Krieshuber ein, »geben's ihm die Schlüssel nur selber, wenn er nicht Wort hält, derschlage mer'n!«

Der Deserteur hatte sich schon der ihm abermals gereichten Schlüssel bemächtigt; er schien sich allerdings damit »auszukennen«, wie Krieshuber es nannte – in sehr wenig Zeit hatte er seine Fessel gelöst, so daß sie klirrend auf die Pritsche fiel. Er sprang hinunter und eilte fort; Traudchen folgte ihm.

Wählend des ganzen Vorganges hatten die eingedrungenen Soldaten einen Kreis um die Gruppe gebildet, deren Mittelpunkt der Befreite war. Krieshuber schien es jetzt für politisch zu halten, aus der Gruppe zu verschwinden und Traudchen das Weitere zu überlassen. Er zog sich deshalb in die Nähe der offenen, nach außen führenden Tür zurück, um im Notfall dem Deserteur, wenn dieser nicht Wort hielt und sofort entspringen wollte, den Rückzug abzuschneiden. Diese Vorsicht war jedoch unnütz. Der Mensch wandte sich der verschlossenen Tür, auf welche er vorhin gedeutet, zu, öffnete sie mit einem der Schlüsselbunde – das andere, vermittelst dessen er seine eigenen Fesseln gelöst, hatte er sorgfältig in seine Tasche gesteckt – und nun konnte Traudchen ihm nach, eine schmale, sehr steile Treppe hinauffliegen. Oben war ein kleiner Vorplatz, rechts und links zeigten sich Türen von festen Eichenbohlen, jede mit großen Schlössern davor.

»Hab' auch schon hier oben zu tun gehabt,« sagte der Deserteur, »wir werden die Schlösser bald aufbekommen«, und zugleich begann er mit seinem Bund zu arbeiten.

Es dauerte dennoch eine Weile, bis er eins der Schlösser geöffnet hatte und nun am zweiten hin und her versuchte. Traudchen hielt es länger nicht aus ... die Spannung, die Aufregung in ihr waren zu groß, sie mußte sich Luft machen, und laut rief sie: »Hubert – Hubert...hörst du mich nicht? ich bin's, ich komm' – ich komm'!«

Ein Geräusch tönte aus dem Innern – ein paar hastige Schritte – ein Ruf, den sie jubelnd noch einmal mit ihrem: »Ich komm!« erwiderte; und dann nur noch wenige Minuten – und auf flog die Tür, und sie stürzte hinein, und vor ihr stand der, den sie suchte, starr vor Verwunderung, und doch plötzlich wie zum freudigsten Leben erwachend, als sie an seiner Brust lag und ihre Arme sich um seinen Hals schlangen und ein Strom von Tränen des überquellenden Gefühls der Freude seine Wangen feuchtete.

»Traudchen – o mein Gott, großer Gott – Sie sind es – ich glaubte ich sei von aller Welt verlassen und so gut wie ein toter Mann, und nun ...«

»Du bist frei, frei,« schluchzte sie, »nur fort von hier, fort aus diesem Ort des Schreckens – nur hinweg ...«

Sie nahm sich nicht die Zeit, zu sehen, wie er aussah – bleich, mit langem Barthaar, im groben grauen Kittel ... sie zog ihn fort, die Treppe hinunter, durch den Tumult da unten – die lärmenden Soldaten bildeten ihr eine Gasse und blickten verwundert auf den »Schatz der Marketenderin«, mit welchem diese mehr dahergeflogen als gegangen kam – draußen, nicht dreißig Schritt weit, fand sie ihren Wagen halten – der Kurzpichler war so schlau gewesen, ihn schon zu wenden, und hielt ihr die Zügel des Pferdes entgegen. Sie wartete, bis Hubert hinaufgestiegen war, dann sprang sie selbst auf ihren Sitz, und nachdem sie Hubert noch zugerufen: »Verbirg dich hinten unter dem Linnendach«, hieb sie auf das Rößlein ein, und das Rößlein, dem offenbar die Dosis Alkohol, die man ihm perfiderweise beigebracht, zu Kopfe gestiegen war, schien nichts Besseres zu verlangen, als durchgehen zu können, es sprengte im rasenden Galopp über das holperige Steinpflaster davon.

»Na, die holt kaner z'ruck!« sagte der Kurzpichler zum Krieshuber, der in diesem Augenblick zu ihm trat und dem Wäglein nachschaute.

»B'hüt sie Gott! Curaschi hat's das Madel,« versetzte Krieshuber – »aber alleweil wär's gut, wann's sich heimmachten, die Leut'ln – na, komm' nur du, nachher san mir gar nit dabeigewesen!«

»Ja, gehen mer heim«, sagte der Kurzpichler sehr einverstanden.

»Hast du den Deserteur nimmer gesehen?«

»Deserteur? nix waß i vom Deserteur!«

Krieshuber fragte noch ein Paar andere seiner Kameraden nach dem Deserteur. Niemand wußte von ihm. Er mußte sich auf seine eigene Hand aus dem Staube gemacht haben.

Traudchen hatte unterdes glücklich das Tor, durch welches sie vorher an der Spitze ihrer Kompagnie einmarschiert war, erreicht. Die gräflichen Grauen im Wachthäuslein daneben sahen verwundert das Gefährt an sich vorüberrasseln, der Mann auf dem Posten, der sich offenbar dem Glauben hingab, das Rößlein sei mit seiner Marketenderin durchgegangen, wollte sich ihm behilflich entgegenwerfen, um es aufzuhalten; Traudchen wehrte ihn jedoch durch Zuruf und durch einen energischen Hieb mit der Peitsche, den sie nach ihm führte, ab, er stolperte zurück, und das Gefährt flog an ihm vorüber.

Nicht eher, als bis sie wenigstens eine Viertelstunde weit von der Stadt entfernt waren, und nachdem Traudchen wenigstens zehnmal sich aufgerichtet hatte, um über das Linnendach fort zurückzuschauen, ob niemand sie verfolge, ließ sie den schweißbedeckten Gaul in einen gemäßigten Trab fallen und wandte sich zu Hubert um.

Sie streckte ihm ihre Hand über die Rückenlehne ihrer Bank entgegen. Er ergriff sie mit seinen beiden und drückte sie an sein Herz und kniete, keines Wortes mächtig, neben ihrer Bank nieder.

»Weshalb sprichst du nichts, Hubert?« sagte sie, nachdem beider Blicke sich eine ganze Weile stumm ineinander gesenkt ... »ist's dir etwa nicht ganz recht, daß ich's nur bin, welche dir zu Hilfe gekommen ist?« fügte sie mit einem etwas erzwungenen Lächeln hinzu.

»Traudchen ...« versetzte er mit einer Stimme, in der die tiefste Bewegung zitterte, »Traudchen ... ist es möglich, daß ich nicht träume, nicht wahnsinnig bin und mir nur einbilde, ich sehe dich vor mir: dich ... und ich bin frei,... und ich hab's dir zu danken? gewiß, gewiß, ich bin wahnsinnig geworden über allem, was mir widerfahren ist ... es ist auch kein Wunder – sie haben es arg genug mit mir gemacht...«

»Du armer, armer Mensch – man sieht es dir an!« fiel sie erschüttert ein, und zwei Tränen rollten über ihre Wangen.

Er legte seine Stirn auf die Rückenlehne ihrer Bank. Wollte er seine Sinne sammeln oder ihr verbergen, daß auch seine Augen sich feuchteten?

Sie legte ihre Hand auf sein Haupt und schwieg; das Rößlein trabte in seinem Sturm, der immer noch vorzuhalten schien, durch dick und dünn voran. Nach einer Weile hob Hubert sein Gesicht auf. Es war in der Tat von Tränen überströmt.

»Die Menschen sind fürchterlich!« sagte er. »Sie hätten mich wirklich morgen gemordet, hingeschlachtet ... du bist dazwischengekommen wie ein Engel, den Gott schickt. Du bist mir wie ein Engel Gottes, Traudchen. Und der sollst du bleiben, immer bei mir, wie ein Schutzengel. Traudchen, willst du es? O gewiß, du willst! Müßte ich ohne dich leben von jetzt an – ich glaube, ich würde ein böser Mensch nach allem, was ich erlitten habe!«

Sie schwieg – sie war nicht imstande, eine Silbe zu äußern – ihr Herz war zu voll – von Freude, Jubel und Wehmut – sie überließ den Blicken, die sich in die seinen senkten, ihm alles zu sagen.

»Wohin bringst du mich?« fragte er nach einer Weile, sich umschauend.

Auch sie sah auf, wie zum Gedanken an ihre Lage zurückkehrend. »Nach Dudenrode,« sagte sie – »zu Frau von Averdonk.«

»Nach Dudenrode ...? um des Himmels willen, Traudchen ...«

»Sei ganz ruhig,« fiel Traudchen mit gerunzelter Stirn ein – »du hast diese Frau nicht mehr zu fürchten! das Blatt hat sich gewendet! Franz von Ardey ist dort – ich muß ihm überlassen, jetzt vor allen Dingen dich menschlich wieder auszustatten, so daß ich meinen eroberten Schatz« – setzte sie lächelnd hinzu – »der Welt zeigen und Ehre mit ihm einlegen kann! Und dann ist noch eine Person dort, von der du sicherlich dich nicht, ohne ihr noch einmal ins Auge geschaut zu haben, trennen willst –«

»Du meinst Marie Stahl!« sagte lebhaft Hubert und kaum den Ton des Neckens bemerkend, den Traudchen bei ihren letzten Worten anzunehmen versuchte, ohne daß es ihr doch eigentlich gelang – »Marie Stahl ist dort?« »Marie Stahl ist in Dudenrode, und Franz von Ardey ist dort, und beide sind glücklich, denn Frau von Averdonk hat die Einwilligung zu ihrer Verbindung gegeben.«

»Sie sind glücklich?« entgegnete Hubert, – »und sie konnten es sein, während ich ... nun, mögen sie's!«

»Und das sprichst du so kalt aus?« fragte Traudchen lächelnd.

Hubert sah sie fragend an. »Ach,« sagte er dann – »du scheinst heute nicht nur allmächtig, sondern auch allwissend, Traudchen. Nun, du magst es immerhin wissen. Ich bin ein Tor gewesen, und bin dann härter dafür bestraft, als es die Torheit verdiente. Ja, mögen sie glücklich sein, ich wünsche es ihnen von ganzem Herzen ... aber sieh', welcher Wagen kommt uns da mit solcher Eile entgegen!«

Traudchen hielt den ihrigen an. Sie winkte auch dem Führer der Kalesche, zu halten. Sie hatte eine bleiche Frau, in den Fond derselben zurückgesunken, erblickt; sich auf ihrem Platze erhebend, rief sie ihr zu: »Wohin wollen Sie, Frau von Averdonk? Haben Sie andere Entschlüsse gefaßt, als die waren, welche Sie an diesem Morgen festhielten, so kann ich Ihnen sagen, daß es zu spät ist. Ich habe mir selbst geholfen – ich bedarf Ihrer nicht mehr!«

»Wie,« rief Frau von Averdonk, wie elektrisiert auffahrend und sich ebenfalls erhebend, aus – »es ist Ihnen gelungen – Sie haben ...«

»Es ist mir gelungen – lassen Sie Ihren Wagen wenden und kehren Sie heim – ich habe dort mit Ihnen zu reden.«

Frau von Averdonk gab ihrem Kutscher rasch einen Befehl – die Nachricht von Huberts Befreiung gab ihr das Leben wieder – eine fürchterliche Last wälzte sich von ihrer Seele!

Traudchen trieb ihr geduldiges, zäh ausharrendes Tier vorwärts, und beide Wagen langten fast zu gleicher Zeit im Schloßhof von Dudenrode an. Traudchen ging dort zu Frau von Averdonk und gab ihr eine kurze Auskunft, wie es ihr gelungen, Hubert zu retten, und ließ dann Marien rufen, die mit lautem Jubelruf herbeigeeilt kam. Mit Marie war Franz herausgekommen, und beide hatten zuerst jubelnd Hubert begrüßt, und bei der gutmütigen Beschließerin hatten sie den langen Reichsfreiherrn Lactantius, dessen Aufregung über all die rätselhaften Vorgänge nicht gering war, und die stille Frau getroffen, die am Morgen in Ruppenstein gewesen war, um mit Ripperda die Unterredung zu suchen, von der wir gehört haben, und die dann in verzehrender Unruhe sich von dort ganz allein auf den Weg nach Dudenrode gemacht hatte, wo sie ja ihre Tochter mit der Marketenderin wußte. Des Kreises Mittelpunkt war natürlich der Gerettete, den Lactantius an sein Herz drückte und den er beteuerte als seinen Sohn adoptieren zu wollen. Und dann drängte sich Marie hinzu, die heute ganz Leben und Feuer war und ein überquellendes Bedürfnis empfand, mit Hubert Beteuerungen einer alles überdauernden Freundschaft zu wechseln, und Franz, der ihm etwas beschämt und gedemütigt immer von neuem ausdrücken wollte, was er alles an Dankbarkeit und Respekt vor ihm empfinde; während die stille Frau nur mit seligen Blicken ihn anschaute und vor sich hin wiederholte: »Ja, ja, er ist von einem braven. Manne aufgezogen!« Und dazwischen mußte Traudchen reden, erzählen, wie sie das Unglaubliche durchgeführt – und Traudchen redete auch, in kurzen Worten gab sie die Rechenschaft, der sie nicht entgehen konnte – sie pries ihre braven Österreicher, die alles getan ... aber alles andere hielt sie für sich, und, das Herz übervoll, nahm sie bald eine Gelegenheit wahr, sich aus dem Kreise fortzustehlen. An der Tür hatte sie Franz gewinkt, der ihr hinausfolgte.

»Bringen Sie mich zu Ihrer Tante.«

Traudchen trat ein und fand Frau von Averdonk im Gespräche mit Ripperda.

»Ich weiß nicht,« hatte dieser eben gesagt, »was mich gegen alles das gleichgültig macht. Ich denke nur immer daran, daß es ein so prächtiger Mensch ist, und daß er gerettet ist, und daß ich einen Sohn habe – etwas auf Erden, das mein ist und dem ich Gutes tun kann, nachdem ich bis jetzt im ganzen, um die Wahrheit zu gestehen, mehr Vergnügen daran fand, der Welt ein Bein unterzustellen, als das Gegenteil zu tun. Die Erlaucht wird freilich ganz entsetzlich wüten! Ich fürchte auch, er wird mich aus seinem Dienste treiben, der tolle Philipp – es ist sicher, daß er den Verdacht gegen mich hegt; ich habe die Hände im Spiele gehabt bei Mariens Entführung, obwohl dieser tapfere Bursche von Student nichts gegen mich ausgesagt hat in all den Verhören, womit sie ihn drangsaliert haben ... Aber mag aus mir werden, was da will – ich kann heute nichts anderes tun als innerlich jubeln.«

Frau von Averdonk wollte antworten; in diesem Augenblick aber erblickte sie Traudchen. »Ah, da ist sie ja selbst, unsere Marketenderin!« sagte Ripperda – »und wahrhaftig, wie ich's wohl geahnt hatte, es ist Traudchen Gymnich,« rief er aufspringend aus – »diese abscheuliche kleine Hexe, die ich gleich hier erwürgen möchte wegen ihrer Praktiken, wenn ich sie nicht noch lieber umarmte, wegen dessen, was sie an meinem Studenten getan ...«

Traudchen sah mit einem Blick auf Ripperda, welcher diesen nicht ermutigte, das, was er sagte, auszuführen – dann wandte sie sich an Frau von Averdonk mit den Worten: »Ich komme, mit Ihnen Frieden zu schließen.«

»Hören Sie, Traudchen,« fiel hier Ripperda ein – »Sie wollen, daß Franz von Ardey seiner Tante Güter erhält – ich habe das vorhin von Frau von Averdonk vernommen ... verlangen Sie das so eigensinnig und ausnahmslos, daß Sie sogleich mit Ihrer entsetzlichen Rache drohten, wenn auch nur ein gewisses kleines Stück davon abgenommen und in andere Hände gelegt würde?«

»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Traudchen stolz; »ich beabsichtige durchaus nicht, mich weiter in Dinge zu mischen, die mich nicht angehen; ich habe bloß im allgemeinen eine Garantie für die Zukunft meiner Freundin Marie Stahl verlangt.«

Ripperda lächelte. »Sie verstehen mich freilich nicht«, versetzte er. »Sagen Sie mir, um der Sache näher zu kommen – der wackere Student ist Ihr Schatz, und Sie werden ihn heiraten?«

»Das wäre allerdings möglich«, entgegnete Traudchen so gefaßt und kaltblütig, wie sie konnte, und doch errötend.

»Und wenn Frau von Averdonk nun etwas von ihren Besitztümern trennte, um es dem Studenten als eine Art Schmerzensgeld zu überlassen? Wie wäre das? Zum Beispiel das große alte Haus in Köln ... es wäre so eine Art Aussteuer für euere junge Ehe. Ich selbst würde ein kleines Kämmerchen in dem großen Hause beziehen, und den Rest würde ich Hubert am Ende doch wohl bereden können ... wenn ich nur erst einmal eine kleine gemütliche Unterredung mit ihm gehabt habe ... ich würde ihn bereden können, den Rest von mir anzunehmen, wenn er es auch von Frau von Averdonk nicht will!«

Traudchen hatte den Sprechenden während dieser Worte sinnend angeblickt. Sie dachte daran, daß Hubert schon früher bei dem Wappenmaler nach diesem Manne sich erkundigt habe; sie erinnerte sich einiger Ausrufungen und Andeutungen, welche sie am gestrigen Abende, ohne Gewicht darauf zu legen, von Mariens Mutter vernommen hatte; sie sah das bedeutsame Lächeln Ripperdas – und eine Ahnung der Tatsachen stieg in ihr auf. »So müßten wir mit Ihnen zusammenleben?« fragte sie nach einer Pause nachdenklich.

Ripperda brach in ein herzliches Gelächter aus. »Ja, Kind, Sie sehen, des Lebens Rosen sind nie ohne Dornen – darein müßten Sie sich fügen und zu der Rose Ihres zukünftigen Glücks einen so garstigen Dom, wie ich bin, nehmen! Es wird«, fuhr er lachend fort, »ganz eine Wirtschaft nach dem neuesten Zeitgeiste werden – die jungen Leute werden den alten, in der Jugend etwas vernachlässigten und durch das Leben etwas verwilderten Hausgenossen erziehen, und der wird es sich gefallen lassen, denn er ist innerlich friedsamer, zahmer und mürber geworden, als man's ihm ansieht!«

»Nun, Hubert wird darüber entscheiden; und worein er willigt, darein willige ich. Sie werden jetzt«, fuhr sie fort, »nach Ruppenstein zurückkehren?«

»Das werde ich allerdings,« versetzte er, »obwohl ich nicht weiß, wie der Tolle mich aufnehmen wird und wie ich mein Durchgehen am heutigen Tage, wo er große Jagd hat, entschuldigen soll. Aber jedenfalls kehre ich zurück ...«

»Dann bitte ich Sie um eins«, fuhr Traudchen fort. »Suchen Sie die österreichischen Offiziere dafür zu gewinnen, daß sie den Streich, den ihre Leute heute der Ruppensteinschen obrigkeitlichen Gewalt spielten, nicht zu ernst nehmen.«

Und so – um diesen Punkt dieser Geschichte gleich hier zu erledigen – geschah es denn auch. Nicht allein Ripperdas heimliche Vorstellungen, sondern auch ein anderer Umstand hielt eine schützende Hand über Kurzpichler, Myßlowatz und Krieshuber nebst Genossen. Und zwar der, daß das Bataillon kommandiert wurde von ebendemselben Offizier, welchen wir früher an Philipps Hofe trafen und der damals schon den lebhaften Wunsch faßte, der antighibellinischen Gesinnung Philipps III. einen tüchtigen Denkzettel hinterlassen zu können. Dieser Wunsch war nun überschwenglich erfüllt, denn die Befreiung Huberts und die Art, wie sie ausgeführt war, erregten einen Gemütszustand in Philipp III., der wirklich bedenklicher Natur schien und endlich in ein schweres, wochenlanges Gallenfieber überging, von welchem er eigentlich nie wieder ganz genesen sein soll. Die Nachwirkungen der Krankheit machten sich namentlich in einem finstern Mißmut geltend, dem er verfiel, so daß er sich nach und nach gänzlich von der Welt zurückzog und sich auf die Gesellschaft der Mamsellen-Mutter beschränkte, die ihm seinen Kamillentee bereitete und ihm La Fontaines Romane vorlas. – Was aber unsere braven Österreicher angeht, so wurde die Untersuchung in die Länge gezogen und durch die weitern Märsche der folgenden Tage verschleppt – sie war noch nicht beendigt, als das Bataillon unter dem siegreichen Erzherzog Karl im Jahre 1796 die Schlachten von Amberg, Regensburg, Würzburg usw. schlagen half, und hier haben unsere guten Freunde sicherlich die Gelegenheit wahrgenommen, sich eine Amnestie für alle kleinen Unterlassungs- und Begehungssünden ihrer Vergangenheit zu verdienen.

Und wie sich später denn so allmählich die dunkle und dräuende Wolle verzog, welche über den Häuptern der schuldigen Grenadiere hing, so verzog sich noch heute die weit drohendere Gewitterwolke, welche am Morgen dieses bewegten Tages über dem Haupte Gebhardens von Averdonk aufgestiegen war; sie verzog sich, ohne daß der Blitz, der diese vernichten konnte, daraus hervorgezüngelt wäre. Das Interesse aller derer, welche Haus Dudenrode bewohnten, und vor allem das des ehrlichen Freiherrn Lactantius war so in Anspruch genommen von der heroischen Weise, womit die fremde Marketenderin Hubert befreit und ihren Schatz sich aus der Höhle des Löwen geholt hatte, daß keinem der Gedanke aufstieg, es lägen hinter dieser Tatsache noch andere verstecktere; und wenn auch so etwas allenfalls den scharfsichtigern Mitgliedern der Gesellschaft sich in Beziehung auf das gegenseitige Verhältnis Ripperdas und Huberts aufdrängte, so war darin doch nichts enthalten, was Frau von Averdonk berührte. Diese vernahm von ihrem getreuen Baptist in ihrem stillen, einsam gewordenen Salon mit großer Befriedigung, wie all die ungeladenen Gäste, welche heute ihr Haus gefüllt, sich in alle Winde zerstreuten. Zuerst fuhr die Marketenderin mit ihrem Studenten davon, zunächst Haus Eggenrode zu, um dem alten Baron von dem Ausgang ihrer Unternehmung zu berichten, ihrer kranken, dort zurückgebliebenen Gefährtin den Wagen mit dem Rößlein wieder zuzustellen und sich von ihr zu verabschieden. Dann schied die stille Frau, die, da der Abend heiter und schön war, sich zu Fuß nach Elsen zurückbegeben wollte, und endlich schied Ripperda, der zu Pferde, wie er gekommen, heimritt nach Ruppenstein.

Die Dämmerung kam, und es wurde still auf Haus Dudenrode. Lactantius blieb fast den ganzen Abend unten bei Frau Eckenscheid, bei der seine zur Mitteilsamkeit ganz ungewöhnlich angeregte Stimmung ein weit besseres Echo fand, als er es bei seiner Gemahlin erwarten durfte. Und so blieb Gebharde von Averdonk allein in ihrem runden Wohngemach, allein mit ihren bittern und niederdrückenden Gedanken, mit trüben und gramvollen Erinnerungen an die Vergangenheit und lichtlosen Bildern der Zukunft.


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