Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

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Drittes Kapitel

Jungfer Traud

Trotz des Befehls, in der Stube zurückzubleiben, hielt Traudchen es zwischen den engen vier Wänden natürlich nicht aus. Sie folgte dem Ohm leise bis auf den Hof. Zehn Minuten, vielleicht noch mehr mochten vergehen. Auf den Stadttürmen schlug es halb zehn. Aus dem Hintergrunde des Holzstalles blitzte ein Lichtschein auf; es war der Ohm, der zurückkam.

»Um Gottes willen, was habt Ihr gesehen, Ohm?« sagte sie, zitternd vor Spannung.

»Blohß de Lantän' uus!« versetzte der Ohm. »Gangk noh'm Bett. – Kömmer dich nicht drömm; ich sagen deer, et eß dien Unglöck, wann do e Woht dervun sprichs!«

Ohm Gymnich sprach diese Worte nicht mehr in zornigem, kreischendem Tone wie vorher, sondern ruhig, halblaut. Seine Trunkenheit war mit einem Male verschwunden. Das braune, wettergepeitschte Gesicht zeigte viel mehr Spuren der Betroffenheit und Niedergeschlagenheit als des Zorns. Er nahm ein großes zerlesenes Buch, ein Leben der Heiligen, von der Fensterbank und schlug es vor sich auf; aber Traudchen bemerkte nicht, daß er die Blätter umwandte; er stierte darauf hin, offenbar mit andern Gedanken beschäftigt.

Das junge Mädchen wußte nicht, was beginnen. Die Ruhe des Alten brachte sie zur Verzweiflung. Sie versuchte nach einer Weile, unbeachtet wieder hinauszuschlüpfen. Der Ohm bemerkte es jedoch und rief sie zurück.

»Aber Ohm, so sprecht doch, so tut doch Euern Mund auf ... Was haben sie angefangen mit dem Studenten?«

»Geiht et dich jet an?«

»Sie haben ihn totgemacht!« schrie sie in ihrer Seelenangst auf, ohne ihre Stimme im mindesten zu dämpfen.

»Dhudt! Mer mäht ene Minsch nit esu bahl dhudt! Wat hät dä Lotterbov en dem ahlen Huus zu dhunn gehat? Wat hät hä sich enzoschliche we 'nen Deev, dä Cujon?«

Mit solchen Reden war Traudchen freilich nicht beschwichtigt, aber es gelang ihr nun einmal nicht, dem alten tückischen Manne mehr abzugewinnen. Sie mußte sich endlich zur Ruhe legen, ohne auch nur durch eine Silbe weiter von ihm beruhigt zu werden, und mußte noch obendrein ihrem Schöpfer danken, daß des Oheims Zorn sich nicht in hellen Wogen über sie ergoß, obwohl dies wieder ein neuer Grund der Angst für sie wurde. Hatte das, was er drinnen gehört oder gesehen, ihn so erschüttert, daß er darüber seinen Zorn gegen sie vergessen? Mußte es nicht etwas Fürchterliches sein, was ihn sofort nüchtern gemacht? Über was brütete er, daß er gar kein Verhör mit ihr anstellte, wie denn alles gekommen? – Daß Traudchen über alledem die ganze Nacht schlaflos zubrachte, brauchen wir nicht zu erwähnen. Mit dem frühesten war sie am andern Morgen wieder auf. Der Ohm schlief noch ... sie öffnete sacht die Tür zu seiner Kammer und überzeugte sich, daß er wirklich ruhig schnarchte. Sie machte ein absichtliches Geräusch, um ihn zu wecken. Sie wollte sein Ausgehen beschleunigen. Nach dem Frühstück ging der Alte zu einer Cichorienfabrik im Ferkulum, wo er die zahlreichen Mußestunden, die ihm sein Hausmeisteramt übrigließ, durch Teilnahme an dem Geschäft als eine Art Magazinverwalter verwertete. Gegen neun Uhr sah Traudchen ihn denn auch wie immer, in seinen Mantel gehüllt, richtig abziehen. Darauf nur hatte sie gewartet, um nun ihre weiteren Nachforschungen zu beginnen. Sie eilte in den hintern Hof zu den alten verfallenen Stallungen und Nebengebäuden, ob sich Hubert Bender dahin vielleicht gerettet. Aber sie waren verschlossen wie immer, der feuchte Boden vor denselben zeigte keine Spuren von Fußstapfen. In dem Raume unten im Treppenturme konnte sie dann mit Muße die große, jetzt schwarz geronnene Blutlache betrachten. Noch einmal versuchte sie die ins Innere führende Tür zu öffnen, aber vergeblich; auch als Traudchen unten, wo die Tür etwas aufklaffte, den Stiel eines von den alten Gartengeräten einschob und damit die Tür aufzusprengen versuchte, leistete diese hartnäckigen Widerstand. Dabei kam ihr der Gedanke, daß es noch einen Zugang zu dem geheimnisvollen Hause gebe. Er lag seitwärts an einer der nach dem Georgsplatz führenden Gassen. Zwei Häuser standen dort, die, mit den Hinterseiten an den alten Bau stoßend, ein ganz schmales Gäßchen zwischen sich freiließen. Das Gäßchen aber war mit einer Holzplanke, die nie geöffnet wurde, verschlossen. Doch eilte Traudchen dorthin. Sie fand, wie sie erwartet hatte, von dem verwitterten alten Brett den Zugang zum Gäßchen gesperrt. Durch eine Ritze an der Seite konnte sie jedoch wahrnehmen, daß der Gang, der eigentlich nur eine Gasse zwischen den beiden Häusern war, auf eine kleine spitzbogige Tür zulief, die in das Gebäude, in welches sie so gern eingedrungen wäre, führte. Draußen, da, wo sie jetzt spähend stand, befanden sich, dem Schmutze der Straße eingedrückt, Fußstapfen, auch Wagenspuren genug. Sie konnten aber von den Vorübergehenden, die an den vergleichungsweise trocknern Seiten der Straße ihren Weg gesucht hatten, gemacht sein. Im Innern der schmalen Gasse, die gepflastert war, suchte Traudchen vergeblich Fußstapfen zu erspähen. Nun wäre sie gern zu dem Hause gegangen, in welchem, wie sie wußte, Hubert Bender wohnte. Sie dürstete nach der Gewißheit, daß er nicht heimgekommen. Aber eine eigentümliche Scheu hielt sie ab. Es war ihr, als würde man den unglücklichen jungen Mann von ihr verlangen, als würde man sie verantwortlich machen für sein Mißgeschick! – –

Es war um diese Zeit oder etwas früher, daß der Professor Anatomiae et Chirurgiae practicae D. Bracht von seinem gewöhnlichen ersten Morgengange aus der Messe in der Minoritenkirche nach Hause heimkehrte. Professor Brachts äußeres Erscheinen in der Öffentlichkeit war stets von einem gewissen Dekorum begleitet, und das Gepräge bürgerlicher Stattlichkeit, welches den Ehrenmännern des verflossenen Zeitabschnittes eigen war, wurde von diesem würdigen Mitglied einer gelehrten Zunft mit jenem Maße von Selbstbewußtsein zur Schau getragen, das freilich mehr Gelegenheit hatte, sich auf der Straße zu entwickeln, als in der mannigfach bedrängten Häuslichkeit.

So sehen wir denn den Professor in sein Museum treten, auf dem gelehrten Haupt eine schöne Mütze von Fuchspelz, von der der lange weichhaarige Schwanz in anmutiger Bewegung auf den Rücken niederhängt; ein kurzer Radmantel von blauem Tuch fließt faltig von seinen schmalen Schultern herab und bedeckt den braunen Tuchrock mit großen Knöpfen von Glasguß; ein graues Beinkleid umhüllt seine bescheidene Lende und hält sich vorsichtig um die Breite einer Hand von den ledernen Teilen des Anzugs entfernt, welche die nicht beneidenswerte Bestimmung haben, den zunächst auf die Berührung mit dem Erdenschmutz angewiesenen Teil des Menschen zu schützen – beim Professor Bracht sind sie geschmückt mit schön glänzenden, gelblackierten Klappen.

So, wie gesagt, tritt der gelahrte Herr durch den Laden in seinen Hörsaal und sieht sich alsbald umringt von einer kleinen Schar Kinder, die aus des Professors Studierstüblein hervorstürzt, das, hinter dem Museum oder Auditorium liegend, die eigentliche Tempelzella ist, welche Zeuge und Schauplatz seiner Anstrengungen im Priestertum der Wissenschaft. Die kleine Bande – es sind zwei Mädchen, so dünn und lang aufgeschossen wie wasserblaue Winden, und ein desto derber aussehender Knabe von sieben Jahren – beginnt damit, den Papa seiner überflüssigen Kleidungsstücke zu entledigen, und während Nieschen und Billchen ihm den Mantel von den Schultern ziehen, hat Drickeschen sich seines spanischen Rohrs bemächtigt; und nach des Vaters Hauptzierde begierig, jedoch nicht imstande, bis da hinaufzureichen, schiebt dies sinnreiche Kind von hinten her so ungestüm mit dem Stocke daran, daß die schöne Pelzmütze dem Papa auf die Nase rutscht.

»Drickeschen, do Lotterbov!« ruft der Professor einigermaßen unwillig aus – »wat mähß do?« Und während Nieschen dem Kleinen den Stock zu entreißen sucht, den dieser mit lautem Schreien verteidigt, fragt der Papa Billchen, weshalb sie überhaupt hier und nicht oben bei der Mama seien.

»Die Mama«, antwortet Billchen, »wollte Ruhe haben und hat uns herabgeschickt in dein Zimmer, da sollen wir bleiben und gut auf dich achtgeben, Papa, daß du das Zeug hängen lässest, das die Magd gestern gewaschen und um deinen Ofen aufgehängt hat.«

Der Professor schreitet in sein Stüblein, aus welchem ihm ein Qualm von Hitze und Wäschedunst entgegenquillt; und in der Tat ist sein getreuer Freund, sein wärmespendender Kachelofen, mit einer Fülle weißer Leinwand umgeben, die an Anzahl der Quadratellen wetteifern kann mit der, womit ein Rangschiffer alle seine Masten bekleidet, wenn er mit günstigem Winde rheinabwärts gegen Emmerich fährt.

Nieschen und Billchen wissen jedoch durch diese nassen Zeugwolken zu schlüpfen, um dem Papa seinen warmgehaltenen Kaffee aus dem Ofenloch zu holen; während Nieschen ihm einschenkt und Billchen die Milch in die Tasse gießt, reitet Drickeschen, die eroberte Pelzmütze auf dem blonden Kopf, das spanische Rohr zwischen den Beinen, in dem engen Stüblein mit einem ganz unnützen Aufgebot von Kräften und Geschrei umher.

»Papa, do solls nit zo vill Zucker nemme, hät de Mama gesaht,« bemerkt Nieschen mit einigem nicht ganz kindlichem Vorwitz.

»Nä, no süch enß, Niesche,« sagt Billchen, »no hät der Papa widder de Sonntagsstievvelen angetrocke, un nit de ahle!«

»Et eß nicks met dem Mann anzofange!« bemerkt Nieschen, mit altklugem Schütteln des Kopfes eine Lieblingsredensart der Mama echoend, und setzt sich auf einen Stuhl ans Fenster, wo sich die fleißige Kleine mit einem Strickstrumpf beschäftigt.

»Papa,« erzählt Billchen nun, »der Drickes well nit en de Schull gonn.«

»Do unadige Jung ... wat geihß do nit en de Schull?«

»Gangk en de Schull«, rät auch Nieschen dringend dem kleinen Mann.

»Ich mag nit!« antwortet Drickes.

»Maach dich av un fang de Möschen em Hohf!« schlägt Billchen nun resigniert dem tobenden Bruder vor.

Aber Drickes ist nicht gewillt, das Feld, welches er zum Schauplatz seiner kindlichen Spiele erkor, zu räumen; im Gegenteil, wie um auch diejenigen Teile des Raums, in welchem sein holdes Selbst nicht weilt, mit dem Nachhall seines Daseins zu füllen, beginnt er jetzt eines jener sinnigen Sankt-Martins-Lieder:

De Drifoß, wi heisch dat Huus,
Et kohm ene Mann met Küchen eruus
Uus dem selvige Mannshuus.
Am Zint Määtens Ovend
Dann maachen de Wiever de Woosch:
Wann meer Geld em Rippet han,
Dann läsche mer uns der Doosch!

Der Professor hält sich vor Verzweiflung die Ohren zu bei den von gellendem Diskant vorgetragenen Ausbrüchen dieser gemütlichen Volkspoesie, als ihm plötzlich eine unerwartete Hilfe für seine gequälten Kopfnerven kommt. Die Tür des Stübleins öffnet sich, rasch aufgerissen, zwei entschlossene Arme fassen den geräuschvollen Drickes an den Schultern und spedieren ihn mitten in seiner Äußerung harmloser Lebensfreude zum Zimmer hinaus; und als Billchen und Nieschen mit dem frohen Ausruf: »Tante Traud – guten Morgen, Tante Traud!« dem jungen Mädchen entgegenhüpfen, werden auch sie jede an einem der respektiven Ärmchen gefaßt und Drickes nach in das Auditorium geschoben, wo sie lärmend protestieren mögen, solange sie wollen – denn Jungfer Traud ist so vorsichtig, sogleich die Tür zu verriegeln.

»Jungfer Traud,« sagte Professor Bracht, erleichtert aufatmend, »setzen Sie sich, Traud, Sie sieht ja ganz aufgeregt aus ..., ist die Sache gestern nicht gut abgelaufen?«

Traudchen erzählte ihm mit geflügelten Worten das ganze Abenteuer der vorigen Nacht.

Der alte Mann sank bestürzt in seinen Sessel zurück.

»Der arme junge Mensch, der arme Bender! Und das mitten in seinen Studiis, eben im neuen Semester!«

Wir wissen nicht, ob es für Hubert angenehmer gewesen wäre, erst nach absolviertem Semesterkursus den Hals zu brechen – für den Professor schien die Tatsache von Erheblichkeit, denn er wiederholte:

»Mitten aus seinen Studiis fort! Es ist ja entsetzlich, Traudchen! Sie müssen zum Gewaltrichter gehen und sich ein Paar Stockknechte mitgeben lassen und dann mit Gewalt in das Haus dringen ...«

Traudchen machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Nur keinen Lärm gemacht und keine Gewalt gebraucht – der Ohm Gymnich stäche mich mit dem Brotmesser tot, den ersten Abend, wo er aus der Weinschenke nach Hause kommt. Auch glaube ich nicht, daß wir in dem schrecklichen alten Hause etwas finden würden. Ich glaube, es würde niemand mehr darin sein, und auch Hubert Bender nicht. Wenn ich den Studenten wiederfinden will, so muß ich andere Wege gehen!«

Bei diesen Worten zog Traudchen ein abgerissenes Stück Papier, ein Fragment eines Briefumschlages aus ihrem Busen hervor; es war ein Wappen in grünem Lack darauf abgedrückt. »Kennen Sie das?« fragte sie. »Ich habe es vorlängst beim Zimmeraufräumen unter des Ohms Kleiderschrank gefunden.«

Der Professor schüttelte den Kopf, als er das Wappen betrachtet hatte. Es waren drei Gegenstände darauf abgebildet, von denen sich nicht viel anders sagen ließ, als daß sie sehr eckig und stachelig aussahen. Osteologisch ließen sie sich auf keinen Fall fassen.

»Ich verstehe nichts davon!« sagte Professor Bracht.

»Aber Sie müssen doch jemand kennen, der es versteht und weiß, wem es gehört; jemand, an den ich mich wenden kann.«

Der Professor besann sich. An der Hochschule zwar war das Fach der Genealogie und Heraldik nicht besetzt. Es mußte aber dennoch irgendein in solchen Dingen bewanderter Mann in der Stadt aufgefunden werden können. Und der Professor hatte in der Tat nicht lange zu suchen. Er kannte einen Maler, und dieser Maler war der rechte Mann, es auszulegen.

»Ein Maler?« fragte Traudchen verwundert.

»Maler Stevenberg«, versicherte Bracht, »wird es sagen können, wer so siegelt und wie die Person heißen muß, die dem Ohm Gymnich diesen Brief geschrieben hat – wenn irgend jemand in der Stadt etwas darüber zu sagen weiß, so ist er es. Maler Stevenberg macht die Stammbäume für jeden Kavalier im Lande, der sich irgendwo zu Kapitel, Landtag oder Stift aufschwören läßt – auch reist er auf den Gütern hüben und drüben im Lande umher, wenn er solch einen Auftrag hat, um die alten Pergamentscharteken, deren er dabei bedarf, zu betrachten – er ist der Mann für uns, Traud, wenn Sie glaubt, wir hätten den Hubert zu fordern von dem Mann oder der Frau, die ihr Siegel in dieses grüne Wachs gedrückt haben.«

»Wo wohnt Maler Stevenberg?« fragte Traudchen. »Wollen Sie mich hinbegleiten?«

Der Professor war dazu bereit. Traudchen Gymnich hätte nicht seiner Frau rechte Cousine und die tätige, teilnehmende Hausfreundin zu sein brauchen ... er wäre auch ohne das gern mit ihr gegangen, um seiner eigenen gespannten und aufgeregten Teilnahme für seinen verschwundenen Zuhörer willen, dessen verlängerte Abwesenheit seine Hauptvorlesung mit dem völligen Untergang bedrohte.

Er stand rasch auf und nahm seinen Mantel; die Fuchspelzmütze mußte draußen Drickes aberobert werden, was mit überraschender Leichtigkeit gelang, da Traudchen diese Aufgabe übernahm. Billchen und Nieschen wollten sich dem Ausgehen des Vaters widersetzen, da die Mutter angeordnet hatte, daß er auf den Laden achtgeben solle, sobald Nettchen, die Dienerin, nicht länger in der Küche zu entbehren sei; aber Bracht schritt heldenmütig durch die beiden kleinen Vormünderinnen hindurch und eilte aufgeregt, wie er war, an Traudchens Seite zum Hause hinaus, um draußen die Richtung nach den »Kranenbäumen« einzuschlagen, wo der Maler wohnte.

Am Lupuseck wurden sie aufgehalten. Dr. Heukeshoven, Professor Brachts Collega an der Hochschule und vielbeschäftigter praktischer Atzt, kam ihnen von einem Patientenbesuch entgegen und blieb begrüßend stehen, um dem Professor Mitteilung von einem seltenen klinischen Falle zu machen, von einem Falle ganz eigentümlicher Art, einer Entzündung nämlich infolge einer die Vena jugularis externa verletzenden Halswunde. Er war, erzählte er, gestern spät abends hinzuberufen worden zu einer durchpassierenden Herrschaft, die im Wagen vor dem weißen Falken in Deutz gehalten hatte. Es war ein Bedienter der Herrschaft gewesen, der von einem großen Hunde angefallen worden, bei welcher Gelegenheit die Jugularvene eine arge Verletzung erhalten hatte. Professor Heukeshoven teilte die Umstände genau spezifiziert seinem Kollegen mit.

Bald blaß, bald rot werdend, stand das junge Mädchen daneben. Ängstlich blickte sie in das gebräunte Antlitz des Arztes – endlich hielt sie sich nicht länger und rief mit Heftigkeit aus:

»Aber mein Gott, Sie sagen ja nichts, ob der junge Mensch gerettet ist oder sich verblutet hat!«

Professor Heukeshoven sah sie verwundert an.

»Ja, mein Kind, das weiß ich nicht«, sagte er mit einem Tone, der deutlich ausdrückte, daß ihm dies die weniger interessante Seite des Falles sei. »Ob er sich verblutet hat? Es ist wohl möglich, besonders da sie in Nacht und Nebel mit ihm davonfuhren. Ich habe ihn in dem Reisewagen, in den sie ihn gelegt hatten, verbinden müssen. Sie schienen große Eile zu haben ...«

»Ein Herr und eine Dame?« fragte Traudchen, ohne ihre Aufregung bemeistern zu können.

»Eine Dame; nur eine ältliche Dame war im Wagen, sonst außer dem Kranken niemand.«

»Und der Wagen hielt vor dem Weißen Falken?«

»In Deutz.«

»Um welche Stunde?«

»Um zehn oder halb elf etwa war es, als ich dahin gerufen wurde.«

»Und wie hieß die Dame?«

»Das weiß ich nicht, danach habe ich auch nicht gefragt,« versetzte der Professor, »es mußte aber eine vornehme Herrschaft sein, sie hatte außer dem kranken Menschen noch einen Kammerdiener bei sich und sechs Postpferde vor dem Wagen, was denn freilich bei jetziger Jahreszeit auch nicht zuviel ist. Als Deservitum gab mir der Kammerdiener einen Kronentaler.«

»Und sie sagte Ihnen, der Kranke sei einer ihrer Bedienten?«

»Sagte sie es ... oder sagte sie es nicht ... ich entsinne mich dessen nicht genau; aber mir schien es so. Doch nun Gott befohlen, Herr Collega, ich muß anitzo weiter zu meinen Patienten.«

Damit schloß Professor Heukeshoven seine Mitteilungen und stapfte an seinem großen Rohr mit goldenem Knopf davon.

Jungfer Traud und ihr Begleiter sahen sich mit betroffenen Mienen an.

»Das ist niemand anders gewesen als Hubert Bender!« sagte Traudchen.

Professor Bracht nickte. »Ganz ohne Zweifel«, versetzte er.

»Und ihn so in Nacht und Nebel fortzuführen!«

»Höchst unbesonnen bei seinem Zustande! Es mußte seinen Zustand doppelt bedenklich machen!« fiel Bracht ein.

»Es hieß ihn töten, ihn in einem Wagen hin- und herstoßen zu lassen!«

»Professor Heukeshoven hätte abraten sollen«, bemerkte der sanfte Gelehrte.

»Er hätte sich widersetzen, er hätte zum Gewaltrichter laufen sollen«, rief leidenschaftlich Traudchen aus. »Es ist entsetzlich! Ihn wie einen Gefangenen mit sich schleppen... aber kommen Sie, Professor, kommen Sie zu dem Maler, wir wollen wissen, mit wem wir es zu tun haben; und wenn der Maler uns keine Aufschlüsse geben kann, zum Weißen Falken!«

Der Maler konnte aber Aufschlüsse geben. Es war ein merkwürdiger alter Junggeselle, dieser Maler Stevenberg. Er wohnte in einem alten Hause »unter Kranenbäumen« in einem großen Zimmer oder einer Art Gartensaal, dessen Fenster er unten samt und sonders mit alten Tüchern und Bruchstücken ausgedienter Teppiche verhüllt hatte, als triebe er irgendein verbotenes Handwerk hier, bei dem ihn niemand belauschen sollte. So kam es wenigstens Traudchen vor, die nicht wußte, daß es geschehen, um dem Lichte den rechten Einfallwinkel zu geben; auch schien ihr nur natürlich, daß Herr Stevenberg ängstlich die Blicke fremder Menschen von dem schrecklich unordentlichen Wirrwarr auszuschließen suche, der in seinem Zimmer herrschte. Wie der Mann abends in das große Himmelbett komme, welches in der Ecke stand, war Traudchen vollends unbegreiflich. Das Bett schien ihm nämlich als Eßtisch und nebenbei als schicklichster Platz zum Farbenreiben zu dienen. Auf der Decke stand eine Platte mit Brot, Bier und Wurst, und daneben lag ein schwerer, farbebedeckter Reibstein, der tief in die weiche Unterlage eingesunken. Der Tisch, an welchem der Maler arbeitete, war bedeckt mit Pergamentrollen, alten Urkunden, Pinseln, Farbentöpfen, Mastix- und Terpentinflaschen, die einen ganz entsetzlichen Geruch verbreiteten. Über diesem Wust erhob Herr Stevenberg mit fragender Miene sein kahles Haupt, als der magere Professor der Osteologie und das hübsche blühende junge Mädchen bei ihm eintraten.

Professor Bracht trug dem Maler – es war ein kräftig gebauter Mann mit starkem Unterkinn – sein Anliegen vor, und Herr Stevenberg betrachtete dann aufmerksam das grüne Siegel, welches Bracht ihm reichte.

»Es sind drei goldene Pferdeprammen im grünen Felde mit einer Freiherrnkrone,« sagte der Wappenmaler mit sehr düsterm Ernst; »Pferdeprammen sind sehr häufig; es ist ein Stallmeisterwappen – ha, ha, ha, ha!« – Herr Stevenberg brach plötzlich in ein lautes, herzliches Lachen aus.

Professor Bracht und seine Begleiterin waren weder durch den Ernst noch durch den Heiterkeitsanfall des Herrn Stevenberg viel klüger als zuvor geworden, und das junge Mädchen sagte:

»Es käme uns darauf an, zu wissen, wem das Wappen gehört, wer es führt.«

»Von Averdonk zu Dudenrode«, sagte er dann in einem Tone, als ob er das junge Mädchen fühlen lassen wolle, daß es unmoralisch sei, solche Worte wie: von Averdonk zu Dudenrode, sich vorsagen zu lassen. Plötzlich aber lachte er wieder hellauf, als er hinzusetzte: »Das sind wunderliche Leute! Ha, ha, ha, ha!«

»Kennen Sie die Familie«, fragte Traudchen, »so seien Sie so gut, uns zu sagen, was Sie davon wissen – wir haben ein dringendes Interesse, es zu erfahren!«

Das Gesicht des Malers überschattete wieder ein düsterer Ernst, der jedoch bald darauf der strahlenden Sonne der Heiterkeit wich, die ganz unerwartet über seine kahle Stirn und sein gutmütiges Gesicht leuchtete. Der seltsame Mann hatte sich offenbar vorgesetzt, dem Ernst des Lebens und dem heitern Scherz gleichen Anteil an seinem Dasein einzuräumen; und da es ihm nicht gegeben war, beide in einem angenehmen Humor zu vereinen, so stellte er getrost beide Farbentöne so grell dicht nebeneinander, wie die Tinkturen auf seinen Wappen.

»Die Averdonk zu Dudenrode?« antwortete er also sehr ernst, »jawohl, kenn' ich die ...« und er gab die verlangte weitere Auskunft, bis Traudchen alles erfahren hatte, was er wußte: Die Reichsfreifrau von Averdonk zu Dudenrode war eine ältliche Dame von sehr energischem Charakter, die jenseit des Rheins im Süderlande auf einem Gute wohnte, auf welchem sie auch noch einem Reichsfreiherrn von Averdonk, ihrem Gatten, der aber nicht weiter in Betracht zu kommen schien, und einem Neffen, Franz von Ardey, zu wohnen und sich unter ihrem Zepter der süßen Gewohnheit des Daseins zu erfreuen verstattete. Sie war etwa fünfzig Jahre alt, sehr reich, und von ihr stammten die Güter her, ein Umstand, den sie ihrem Gemahl keinen Augenblick zu vergessen gestattete.

»Und können Sie mir vielleicht auch sagen,« fragte Traudchen, »wer denn ›der Tolle‹ ist?«

»Der Tolle?« versetzte Herr Stevenberg so düster, als sei er in seinen besten und reinsten Gefühlen verletzt, daß unsere Umgangssprache solche unmoralische Ausdrücke besitze, und daß er sie von dem Munde eines so jungen Mädchens vernehmen müsse: »Der Tolle? das weiß ich nicht – aber wenn Sie in die Gegend da« – und er machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle er gen Osten über den Rhein hindeuten – »wenn Sie dahin kommen, werden Sie Tolle genug finden!« Und dabei brauste Herr Stevenberg in einem Gelächter auf, als wenn er jetzt plötzlich auch unter die Tollen gegangen und sich vor Vergnügen über diese Wendung der Dinge gar nicht zu lassen wisse!

Traudchen begleitete den Professor bis an seine Wohnung zurück. Beide sprachen wenig. Das junge Mädchen wälzte Pläne in ihrem Geiste herum, zu deren Vertrauten sie den Gelehrten in diesem Augenblicke noch nicht machen konnte. Er hätte am Ende gar den tiefsten und eigentlichsten Grund, weshalb Traudchen so bewegt war, nicht verstanden, höchstens als hysterische Störung des Allgemeingefühls gelten lassen und diese zur Behandlung und Kur ad legem artis seinem Collega Heukeshoven überwiesen.

An der Tür seines Ladens und Hauses erwarteten Professor Bracht seine beiden hoffnungsvollen Töchter, das Nieschen und das Billchen. Das Nieschen empfing ihn mit lauten Vorwürfen, daß er so lange ausgeblieben; das Billchen legte ihre Gefühle über des Papas unverantwortliches Vagabondieren durch schweigendes Schmollen an den Tag. Jungfer Traud überließ ihn nach herzlichem Dank für seine Begleitung seinem Familienglück und der Freude, welche ihm beim Wiedersehen mit seinem hoffnungsvollen Sohne Drickes bevorstand, welcher letztere ihn in seinem Studierzimmer erwartete, wo Drickeschen die ihm entzogene Fuchsschwanzzierde durch eine hohe Papiermütze ersetzt hatte, kunstreich gebildet aus Professor Brachts zuletzt ausgearbeiteten Vorlesungsbogen. Dann schritt das junge Mädchen rasch ihrer Wohnung hinter St. Georg zu. Als sie einsam durch die belebten Straßen dahinschritt, überlegte sie, ob sie jetzt nicht sogleich noch nach Deutz hinübergehen solle, um zu versuchen, im Weißen Falken mehr über die geheimnisvollen Reisenden in Erfahrung zu bringen. Auch auf der Post, wo sie Pferde genommen, war vielleicht über sie, über die Reiseroute, welche sie eingeschlagen, etwas zu erfahren. Aber Traudchen war zu ermüdet, sie sehnte sich zu sehr, mit ihren Gedanken eine Weile allein zu sein, und so setzte sie den Weg nach ihrer Wohnung fort. Als sie dieselbe erreicht hatte und damit beschäftigt war, die kleine Einlaßtür zum Vorbau zu öffnen, wurde sie plötzlich durch eine Berührung ihrer herabhängenden linken Hand erschreckt. Sich umwendend sah sie die abscheuliche Bestie, den großen Weißen Hund, der gestern die Katastrophe über sie gebracht, neben sich stehen und sie aus seinen braunen intelligenten Augen anschauen.

»Sultan!« rief eine Stimme, wenige Schritte von ihr entfernt. Traudchen erzitterte heftig, sie erkannte diese rauhe Stimme, und aufschauend sah sie den Mann daherkommen, den sie gestern mit Hubert belauscht hatte, den Herrn im grünen Rock, der oben im alten Hause am Kamin der Dame gegenübergesessen.

Vielleicht Wäre sie erschrocken über diese Erscheinung, hätte sie ihn an seiner Stimme auch nicht wiedererkannt. Sein Gesicht war nicht beschaffen, um einem jungen Mädchen, bei einsamer Begegnung wenigstens, großes Vertrauen einzuflößen. Ursprünglich mochte es regelmäßig, männlich und schön gewesen sein, aber jetzt zeigte es sich in hohem Grade entstellt; es fehlte ihm ein Auge; über die linke Wange lief von dem erstorbenen Auge herab eine starke Narbe bis zum Munde; das gesunde Auge hatte einen unheimlichen Ausdruck, weil es groß und stier war und sich jeden Moment unter einem breiten Augenlide barg, so daß es aussah wie das eines Raubvogels. Das Kinn war männlich breit, stark ausgebildet und glatt geschoren; der Mund war klein, edel geformt, aber die aufgeworfenen Lippen trugen ein Gepräge von Sinnlichkeit, zu dem noch ein Ausdruck von mürrischer Weltverachtung, der in den hängenden Mundwinkeln seinen Sitz hatte, hinzukam.

»Erschrick nicht, mein Kind,« sagte der Mann mit etwas spöttischem Tone, als er neben Traudchen angekommen war und ihr zum Gruße nicht ohne Freundlichkeit zunickte, »erschrick nicht vor dem Hunde. Es ist das gutmütigste Geschöpf auf der Welt.«

»Er sieht bös genug aus,« erwiderte Traudchen, die bald den Hund, bald den Fremden mit ihren großen, dunkeln, forschend von einem zum andern irrenden Blicken anstarrte; »er sieht sehr böse aus, und wenn er mir gehörte, so würde ich ihn lieber totschießen als leben lassen!« Und dabei fixierte Jungfer Traud die Bestie mit einem plötzlich so scharf aufflammenden Blicke, als wünsche sie nichts mehr und inniger, als daß sie ihn damit tot zu ihren Füßen hinstrecken könne.

»Totschießen!« lachte der Fremde etwas gezwungen auf. »Du mußt wissen, schönes Kind, daß es ein Hund aus der Camargue ist, wenn du jemals von dieser Gegend gehört hast; und daß ich ihn nicht mit großen Kosten aus Frankreich mitgebracht habe, um ihn hier totschießen zu lassen. Aber genug davon. Wohnt hier ein Herr Gymnich?«

»Der Ohm Gymnich ... kommt wohl vor Abend nicht zu Hause, und dann geht er bald wieder aus, in seine Gesellschaft ... Sie täten am besten, Herr, wenn Sie es mir auszurichten aufgaben, was Sie ihm sagen wollen.«

»Das kann ich allerdings, mein Kind. Ich suche ein kleines Privatquartier in der Stadt, um es auf einige Wochen zu bewohnen, und dann suche ich eine Person zur Aufwartung, die meine Zimmer imstande hält und für mein Frühstück sorgt. Ich bin deshalb an deinen Ohm Gymnich von einer Person, die ihn kennt, gewiesen und empfohlen worden«.

»Es steht hier ganz in der Nähe ein Quartier frei«, versetzte Traudchen nachdenklich und mit so gleichgültigem Tone wie möglich, während ihre Gehirnfibern in raschester und angestrengtester Tätigkeit waren, »und was die Aufwartung angeht, so bin ich bereit, die zu übernehmen, denn da der Ohm Gymnich den ganzen Tag in der Fabrik ist, so habe ich freie Stunden genug übrig.«

»Du selbst?« fragte der Fremde lächelnd und, wie es schien, etwas überrascht.

»Weshalb nicht?«

»Nun, offengestanden, mein Kind, es ist mir schon vorgekommen, daß so hübsche junge Mädchen, wie du eins bist, sich ein klein wenig vor mir fürchteten!«

Dabei nahmen seine Züge ein faunisches Lächeln an, welches sie sehr häßlich machte.

»Ich fürchte mich vor niemand!« versetzte Jungfer Traud mit eisiger Kälte.

»Aber doch vor Hunden?«

»Ja, vor Hunden. Man hat Fälle, wo sie Menschen umgebracht haben.«

»Hm!« räusperte sich der Capitaine des chasses, und es war auffallend, wie plötzlich er den scherzhaften Ton fallen ließ, den er angeschlagen hatte. »Umgebracht haben! Das wäre ja schrecklich. Sultan ist dazu nicht imstande. Er ist nichts als ein großes Kalb, nur mit einem zottigern Pelz, als gewöhnlich Kälber ihn haben. Aber um bei der Sache zu bleiben – ich werde dir wöchentlich einen Taler zum Lohn geben – wird dir das genügen?«

»Vollständig!«

»Gehen wir«, versetzte er. »Aber weißt du, Kind, daß. du dich mir als Dienerin verdungen hast, ohne nur meinen Namen zu kennen?«

»Ist das nötig?« fragte sie gleichmütig.

»Nötig? Nun, du mußt doch wissen, wie du mich zu nennen hast!«

»Wie heißen Sie denn?«

»Ripperda... Herr von Ripperda hast du mich zu nennen.«

»Ich will es mir merken.«

Vor einem gutaussehenden Bürgerhause an der Ostseite des Georgsplatzes hielt sie an und hieß den Fremden in die offene Haustür eintreten. Eine reinlich gekleidete Bürgerfrau kam ihnen aus der Küche entgegen.

»Ich bringe Ihr einen Mietsherrn für Ihre leeren Zimmer, Frau Zappes!« sagte Traudchen, und Frau Zappes war augenscheinlich sehr zufrieden damit. Auch der Fremde erklärte sich befriedigt mit der Wohnung und dem Preise.

»Hat Sie nichts von Herrn Bender gehört, Jungfer Traud?« fragte Frau Zappes, als der Herr das Haus verlassen.

»Nichts!« versetzte Traudchen, das errötende Gesicht abwendend.

»Er ist die Nacht nicht nach Hause gekommen und macht doch sonst keine Übernächtigen Studentensuiten mit!«

Traudchen zuckte die Achseln und spielte die Unwissende. Dann eilte sie, von der gesprächigen Frau sich loszumachen und heimzukehren.


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