Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

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Viertes Kapitel

Ein Opfer der Nemesis

Der Capitaine des chasses, oder, da wir jetzt den Namen des einäugigen Herrn mit der Schmarre kennen, Herr von Ripperda, entfernte sich unterdes mit seinem großen Hunde von dem Hause der Frau Zappes, um sich mit gemächlichem Schritt in das Innere der heiligen Stadt zu vertiefen. Er hielt das Haupt etwas gesenkt und den Blick auf den Boden geheftet, seine Blicke fesselte weder das Marktgewühl auf dem Weidmarkt, wo die Weiber der Kappesbauern ihren Gemüsehandel trieben und durch obligate Zungenübung dabei den Beweis führten, daß rhetorische Kunst noch immer, wie schon zu Ciceros und Demosthenes' Zeiten, ein schönes Eigen freistädtischer Gemeinwesen sei – noch die malerische Gruppe der »Funken«, jener berühmten reichsstädtischen Krieger in roten Röcken, die plaudernd und schmauchend ihren militärischen Pflichten vor dem Wachthäuschen oblagen. Auch die merkwürdigen düstern Häuser mit Erkern und Zackengiebeln, die Stirn gegen Stirn dicht und drohend einander gegenüber standen und ihre menschenfeindliche Gesinnung dadurch an den Tag legten, daß sie sich langgestreckte steinerne Ungeheuer, fabelhafte Drachen und unglaublich dünnbäuchige Löwen angeschafft hatten, die bei Regenwetter ganze Wassermassen auf den unglücklichen Wanderer ausspien, den der Mangel eines Bürgersteigs in die Mitte der Straße trieb – auch diese merkwürdigen alten Häuser gewannen ihm kein Interesse ab; und noch weniger taten dies die schönen, aber unbeschreiblich verwitterten Kirchen, an deren Portalen eine fürchterlich zudringliche Rasse von Bettlern saß, die von wohlgekleideten Fremden mit einer ganz rücksichtslosen Härte ihren Zoll eintrieben, erbarmungslos wie indische Zemindars, und ebenso geneigt wie diese, die Unglücklichen, die nicht zahlten, ein wenig zu foltern oder ans Kreuz zu schlagen. Für alle diese schönen Merkwürdigkeiten der heiligen Stadt zeigte der Fremde, wie gesagt, keine Teilnahme. Auch schien es, daß er von früher her wohl bekannt sei mit dem Gassenlabyrinth um ihn her. Er fand sicher und ohne zu fragen seinen Weg durch die Sternengasse über Cäcilienkloster zum Neumarkt. Als er in der Nähe der schönen Apostelkirche angekommen war, die mit ihren Kuppeln und Türmen wie eine verkleinerte Aja Sophia sich vor ihm erhob, fragte er einen Vorübergehenden nach der Wohnung des Kanonikus Klevesahl. Der Mann deutete auf eine hohe Mauer und ein Gartentor, hinter welchem die Wohnung des »Knünchs« liege. Ripperda schob mit einiger Mühe das schwere Tor auf und sah sich in einem geräumigen Garten, in dessen Mitte ein nicht großes, aber freundliches, unten von Reben umkleidetes Haus von drei Stockwerken lag. Am Mittelfenster über der Haustür sah er die Gestalt eines Mannes in reifen Jahren, mit einem runden blühenden Gesicht, das mit einem Ausdruck von großer Gutmütigkeit und neugieriger Freundlichkeit auf den durch den Gartenpfad Heranschreitenden niederblickte.

»Ich muß wünschen, Sie unter vier Augen zu sprechen, mein Herr Kanonikus Klevesahl«, redete ihn Herr von Ripperda an, als er die schmale hölzerne Wendelstiege emporgeschritten und von einem jungen Burschen in das Wohnzimmer geführt war. »Sie haben mir und einer gewissen andern Person einmal, als wir uns kannten, nicht ohne eigene Gefahr einen sehr großen und angenehmen Dienst geleistet; und da Sie die Wohltaten, die Sie erzeigen, vermutlich ganz vergessen, muß ich es Ihnen wohl sagen welchen; Sie waren damals noch nicht zum Kanonikus in der Stadt befördert, Sie waren noch Pfarrer einer weitentlegenen Landgemeinde; es war in der Kapelle zu Wolfshagen ...«

»Mein Himmel... Sie sind doch nicht...Herr von Walrave?« rief der Kanonikus erschrocken aus und fuhr einen Schritt zurück. »Richtig,« versetzte der Fremde, mit seinem einen Auge den Geistlichen spöttisch fixierend, »ganz richtig!«

»Leben Sie noch?! Sie leben noch?!«

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, wenn ich Sie dadurch inkommodiere!«

»Ich glaubte, Sie wären tot, lange schon!«

»Unkraut vergeht nicht, wissen Sie, lieber Klevesahl! Als Walrave bin ich aber eigentlich auch tot; der, den Sie vor sich sehen, ist ein Herr von Ripperda – wollen Sie die Güte haben, das zu beachten?«

»Ripperda? Nun, wie Sie wollen. Aber die ...«

»Ganz richtig, die ... nun, wir verstehen uns. Es war eben für sie nichts anderes zu machen. Eggenrode brauchte Gewalt! Sie kannten ihn ja auch, den Stierkopf!«

Der Geistliche ließ sich auf das schmale, mit schwarzer Serge überzogene Kanapee nieder, welches hinter seinem runden Tische stand, und starrte den Gast mit Augen an, welche zu verraten schienen, daß er immer noch nicht recht gewiß sei, ob er einen Lebenden oder ein Gespenst vor sich sehe.

»Beruhigen Sie sich,« fuhr der Fremde fort, »ich sage Ihnen ja, der Walrave, den Sie kannten, ist tot, und was Sie jetzt sehen, ist ein ganz anderer, ein durch das Leben gewitzigter, alter Mensch, der nur das Unglück hat, die unangenehmen Erinnerungen jenes Walrave, welcher sich in seiner Jugend etwas leichtsinnig aufgeführt haben soll, mit sich herumschleppen zu müssen. Die französische Revolution führt mich zurück.«

»Das heißt?«

»Ich bin Emigré.«

»Also in Frankreich hielten Sie sich bisher auf?«

»So ist es. Nachdem ich hier in Deutschland gestorben war, führte ich mein schattenhaftes Dasein in Frankreich weiter, und da ich in diesem Lande endlich bei der edlen Jägerei in Chantilly angestellt wurde – als Capitaine des chasses des Herzogs von Condé – so habe ich, wie Sie sehen, das Dasein des Wilden Jägers geführt, der auch tot ist und dennoch auf die Jagd geht, und zwar sehr leidenschaftlich, wie man sagt.«

»Wie der sehen Sie in der Tat beinahe aus! Und wie haben Sie diese entsetzliche Schmarre über der Wange bekommen?« fragte der Geistliche.

»Wie man so etwas bekommt«, antwortete achselzuckend der ehemalige Capitaine des chasses. »Man begleitet seinen Herrn auf kleinen Abenteuern, steht wohl gar Wache dabei, wird von tugendhaften Leuten, die ihre Degen ziehen und unvorsichtig damit umgehen, in eine Unterhaltung verwickelt... und hat eins weg, ehe man sich's versieht. Doch man hat ja auch auf der Jagd mancherlei Zufälle; ein wütender Eber bricht durchs Garn, ein brünstiger Hirsch erinnert sich, daß er ein Geweih hat... Sie dürfen immerhin annehmen, daß ich einem dieser Umstände ein solches Glück verdanke.«

»Glück? Sie sagen das mit einem Ausdrucke, als wenn es keine Ironie wäre!«.

»Ist's auch nicht. Es ist ein Glück für mich, daß ich, was ein zerfetztes Gesicht angeht, den berühmten Balafré aussteche. Denn da ich hinüber will auf den Schauplatz meiner frühern rühmlichen Taten, so müßte ich sonst gefaßt darauf sein, daß man mich dort einfinge, mir eine eiserne Maske vors Gesicht schnallte und mich damit in die Kerkerzellen von Dudenrode würfe... Es gibt Leute, welche dafür sorgen würden, mein lieber Kanonikus, Sie begreifen das! Jetzt aber, in diesem Zustande, bin ich harmlos; es ist unmöglich, mich wiederzuerkennen.«

Der Geistliche schüttelte den Kopf.

»Aber was wollen Sie denn drüben?«

»Meine Dienste dem Tollen anbieten; der Tolle wird mir höchstwahrscheinlich eine Stellung verleihen.«

»Das ist eine unheilvolle Geschichte!« sagte der Geistliche mehr wie für sich als laut. »Und sie,« fuhr er dann lauter fort, »ahnt sie ...?«

»Sie denken, Sie müßten sofort, wenn ich dieses Zimmer verlassen haben werde, eine Stafette an sie abschicken, um ihr einen Wink zu geben, welche Freude ihr bevorstehe ... aber beruhigen Sie sich, Klevesahl, und sparen Sie sich diese Auslage. Sie ist von allem unterrichtet. Wir haben uns bereits gesprochen, haben uns in den letzten Jahren schon einigemal Rendezvous hier in Ihrem alten heiligen Köln gegeben, und sie hat es jetzt über sich genommen, die Unterhandlungen zu führen, welche mir eine neue Anstellung vermitteln sollen. Aber ich bin gezwungen, Sie inzwischen mit einer Bitte zu belästigen.«

»Was soll ich für Sie tun?«

»Nichts, als mir ein kleines Attest ausstellen, daß Sie mich kennen und eine gewisse moralische Bürgschaft für mich übernehmen.«

»Eine moralische Bürgschaft ... für Sie?!« rief der Kanonikus fast erschrocken aus.

Herr von Ripperda lächelte bitter.

»Ihr Erschrecken hat etwas sehr Schmeichelhaftes für mich«, sagte er. »Aber ich entschuldige es, weil es Ihnen immer noch nicht geläufig geworden ist, zwischen dem frühern Walrave und dem jetzigen Ripperda zu unterscheiden. –

Sie wissen, Ihre Stadtregierung ist dem Aufenthalte von Emigranten innerhalb ihrer von St. Ursula beschützten Mauern abgeneigt. Man hat mir erklärt, nur wenn ich ein Zeugnis eines achtbaren und bekannten Bürgers beibringe, daß ich unverdächtig und wirklich ein geborener Deutscher sei, so werde mein Aufenthalt hier gestattet. Um eines solchen Zeugnisses wegen komme ich nun zu Ihnen, hochwürdiger Klevesahl, Sie werden es mir ausstellen.«

Der geistliche Herr seufzte.

»Wie soll ich denn das aufsetzen?« sagte er.

»Um Ihnen alles Kopfzerbrechen dabei zu ersparen, habe ich selbst es aufgeschrieben«, versetzte Herr von Rippeida, und bei diesen Worten zog er ein gefaltetes Papier aus der Brusttasche hervor und legte es vor den Geistlichen auf den Tisch.

Der Kanonikus suchte unter seinen Büchern und Schriften nach seiner Brille, und nachdem er diese glücklich gefunden, las er die Schrift, welche ziemlich auf der Mitte eines Folioblattes stand, halblaut vor sich hin: »Um eine Anstellung in Frankreich zu suchen, verließ Herr von Ripperda das teutsche Vaterland, wurde Capitaine des chasses des Herzogs von Condé und kehret anitzo, weil der Herzog sich hat flüchten müssen, zurück. Ich bitte deshalb, ihme, als mir wohlbekanntem und respectablem Manne, kein Hinderniß in den Weg zu legen, wenn er hiesigen Ortes zu verweilen wünschet.«

»Hm,« sagte der Geistliche, als er dies gelesen hatte, »es ist kurios gesetzt: ›Um eine Anstellung zu suchen, verließ‹ ... es wäre doch besser, wenn man setzte: ›Herr von Ripperda ist gebürtig aus Gelderland, wie ich demselben hiermit‹ ...«

»Mein lieber Klevesahl, es kommt gar nicht darauf an, wie es gesetzt ist,« fiel Herr von Ripperda ihm in die Rede, »es ist ja keine wichtige Urkunde, sondern nachdem der fürsichtige und wohlweise Ratsherr einen Blick darauf geworfen hat, wird er es dazu gebrauchen, seine holländische Pfeife damit anzuzünden. Darum habe ich's so aufs Papier geworfen, ohne mich lange zu besinnen, und nun unterschreiben Sie's nur kecklich, damit ich die Angelegenheit erledigen kann.«

Der Kanonikus las noch einmal die paar Zeilen durch. Dann sagte er gewissenberuhigt:

»Unterschreiben kann ich's ... nur was da steht von Capitaine des chasses ... davon ist mir doch eigentlich nichts bewußt ...«

»Ungläubiger Thomas!« rief Ripperda aus und zog ein anderes Papier aus einer großen Brieftasche hervor, »da ist mein Brevet!«

Es erfolgte eine abermalige Prüfung von seiten des Geistlichen; Kanonikus Klevesahl war jetzt völlig beruhigt und trat an einen Nebentisch, wo sein Schreibgerät stand. Er unterschrieb mit großen festen Zügen die Schrift Ripperdas. Dann holte er aus einer Lade seines Schreibtisches ein großes Siegel hervor, und nachdem er sich mit Stahl und Zunder selbst zu Licht verholfen, untersiegelte er damit das Zeugnis.

Herr von Ripperda verbarg es in seiner Brusttasche und verließ den Geistlichen mit so wenig Umständen wie beim Kommen. Wir wissen nicht, auf welche Weise und wo Herr von Ripperda und sein Hund die nächsten Stunden des Tages zubrachten. Als Traudchen Gymnich am Nachmittage zur Frau Zappes hinüberging, um zu sehen, ob ihre Dienstleistungen begehrt würden, war der neue Mieter noch nicht in sein Quartier heimgekehrt.

Traudchen brauchte nicht lange stehenzubleiben, um noch mit der lebhaften Frau zu plaudern, als diese, wie es das junge Mädchen erwartet und jetzt gewünscht hatte, aufs neue von dem noch immer ausbleibenden Studenten begann.

»Weshalb gehen Sie nicht auf sein Zimmer und sehen da nach, ob er etwa einen Zettel für Sie zurückgelassen hat? Als er fortging, waren Sie vielleicht nicht da, und er hat es schriftlich hinterlassen, wann er zurückkehrt,« bemerkte Traudchen, um eine Gelegenheit zu bekommen, Huberts Stube zu betreten.

»Die Magd ist oben gewesen und hat aufgeräumt,« antwortete Frau Zappes, »von einem Zettel hat sie nichts gesagt.«

»Kann sie denn lesen?« versetzte Traudchen. »Lassen Sie uns doch selbst zusehen.«

Frau Zappes ging die Treppe hinauf, und Traudchen folgte ihr. Der Schlüssel hing an einem Nagel neben der Tür. Die Hauswirtin öffnete diese; mit einer eigentümlichen Beklemmung trat das junge Mädchen hinter ihr über die Schwelle. Das erste, was sie durch das der Tür gegenüberliegende Fenster erblickte, war die düster und schwarz herübersehende Front des alten Hauses mit dem Stiegenturm an der Ecke, wie es sich über allerlei kleinere Ställe und Hinterbauten erhob und ein spitziges Doppeldach mit hohen Essen trug ... die Essen, aus denen Hubert nächtlicherweile Rauch glaubte hervordringen gesehen zu haben, und die dadurch schuld an allem geworden. – Das Zimmer des Studenten selbst war freundlich, obwohl klein, und für die Wohnung eines Studiosen war es sehr rein und ordentlich gehalten. Frau Zappes trat in das kleine Schlafzimmer nebenan und schloß hier das Fenster, das die Magd am Morgen offengelassen. Während sie sich dabei an den Schubriegeln mühte, hatte Traudchen einen Gegenstand ins Auge gefaßt, der in hohem Grade ihre Aufmerksamkeit fesselte; ihr Arm zuckte danach, fiel dann wieder nieder, und dann erhob er sich aufs neue, und die Finger streckten sich aus, wie in unwiderstehlicher Begehrlichkeit ... es war ein sauberes rotes Portefeuille, das auf dem Tische Huberts unter Büchern und Heften lag ... und jetzt hatte Traudchen es mit zitterndem Griffe gefaßt und hastig in ihre Tasche geschoben.

»Ich will es ihm aufbewahren,« sagte sie sich, »es wäre unvorsichtig, es liegenzulassen«; und damit war ihr Gewissen beruhigt, und mit dem Tone großen Gleichmuts konnte sie jetzt Frau Zappes, die eben wieder eintrat, fragen: »Hat denn der Herr Bender vielleicht seine Verwandten hier in der Nähe, zu denen er gegangen sein kann?«

Frau Zappes schüttelte den Kopf. »In der Nähe?« sagte sie ... »Denk' nicht daran ... er ist weit her, von jenseit des Rheins... er ist der Sohn eines Chirurgus da im Lande, glaub' ich, aber seine Eltern leben nicht mehr. – Schließen Sie zu, Traudchen!«

Traudchen eilte, in ihre Wohnung heimzugelangen. Und als sie endlich in dieser war, die Tür wohl verschlossen hinter sich – mit welcher Aufregung zog da das junge Mädchen die Brieftasche aus den Falten ihres grünen Sergerockes hervor, und mit wie zitternden Händen öffnete sie die roten Korduandeckel! Es lagen ein paar alte Quittungen darin, auf die eingebundenen Pergamenttafeln waren allerlei Notizen geschrieben, kleine Ausgaben notiert, Adressen, Büchertitel, lange lateinische Namen verzeichnet... auf einem der Blätter stand oben ein großes, sauber in Frakturschrift gemaltes T, und darunter ein zweites, und dann ein drittes; und neben dem dritten stand in höchst zierlichen, aber fast unlesbar kleinen Buchstaben noch raudchen dazugeschrieben und umher waren schöne, höchst kühne und schwungvolle Schnörkelzüge gezogen ... es war wirklich ein Meisterstück von Kunst, und außerordentlich schön anzusehen; und wenn es im allgemeinen der Zweck der Kunst ist, zu erheben und zu erfreuen, so können wir in Wahrheit sagen, daß sie hier in einem ganz schrankenlosen Umfang ihren Zweck erreichte. Denn Traudchens Auge flammte förmlich, als ihr Blick darauf traf, und dann haftete es sicherlich ebensolange darauf, als die Augen des Schreibers auf diesem Pergamentblatt gehaftet hatten, während seine Hand mit so viel Fleiß die Buchstaben gemalt hatte.

Nach langer Pause erst untersuchte Traudchen Gymnich weiter den Inhalt des Portefeuille. Sie nahm noch ein versiegeltes Papier heraus, es fühlte sich an wie ein kleines Päckchen, es führte auch eine Aufschrift; und als Traudchen auf diese blickte, zuckte es plötzlich in ihrer zitternden Hand. Die Aufschrift bestand aus einem Kreuz und den Worten darunter: Rattengift, präpariert von mir aus Datura Stramonium.

Welche Gedanken gingen mit einem Male durch Traudchens Haupt, als sie diese Worte gelesen hatte und die Brieftasche hastig schloß, um sie wieder in die Falten ihres Kleides zu verbergen, aber das Päckchen mit dem Gift neben sich auf den Tisch legte? Sie versank in ein unruhiges Sinnen; bald erhob sie sich und schritt auf und ab in dem kleinen Wohnzimmer, bald setzte sie sich wieder und nahm das Spinnrad, welches neben dem Ofen stand, vor sich, und ihr kleiner Fuß legte sich so energisch auf das Trittbrett unten, daß das Rad sich umzuschwingen begann, als ob es den Verstand verloren habe, und daß die Spindel schnurrte, als wolle sie dem großen Rade zeigen, sie, die kleine Spindel, könne, wenn es auf Verrücktheit ankomme, noch tausendmal mehr leisten als solch ein großes ungeschlachtes Rad. Und dabei griffen Traudchens Hände wie fieberhaft in den Flachswocken und zogen den Faden mit einer Hast heraus, daß derselbe sehr bald zerriß und dann abermals riß, und dann zum drittenmal riß; und dann schob Traudchen das Spinnrad so heftig von sich, als sei es irgendein abscheulicher, widerwärtiger Mensch, der sich an sie gedrängt habe, und sprang empor und schritt wieder auf und ab in steigender Unruhe. – Dann, ehe sie zu ihrer Dienstleistung in die Wohnung des Herrn von Ripperda herüberging, machte sie sich eine Weile in der Küche vor dem Schranke, welcher die Speisevorräte aufbewahrte, zu schaffen. Als Traudchen am andern Tage um die bestimmte Stunde – es war aber eigentlich schon ein Bedeutendes darüber – wiedererschien, klopfte sie erst an das kleine Fenster, das, mit roten Kalikovorhängen bedeckt, aus Frau Zappes' Wohnzimmer auf den Hausflur ging. Die geschäftige Matrone erschien denn auch sogleich, aber noch lebhafter war sie heute, als sie alle Tage war, und mit aufgeregter Stimme rief sie Traudchen entgegen:

»Jungfer Traud, denke Sie sich, was wir für eine Nacht gehabt haben ... das hat einen Lärm gegeben – der Hund, der große Hund von dem neuen Zimmerherrn... der Mann ist außer sich ...«

»Was ist denn mit dem Hunde, Frau Zappes?« fragte Traudchen mit stammelnder Zunge totenblaß.

»Der Hund ist tot ... mitten in der Nacht ist das arme Tier gestorben, der Herr sagt, es müßte vergiftet sein.«

»Das ist ja unglaublich!« stotterte Traudchen, »wer sollte das getan haben?« Und mit einer heroischen Anstrengung sich fassend und zusammennehmend, ging sie die Treppe hinauf. Als sie die Tür zu dem Zimmer Ripperdas öffnete, war es ihr, als müsse das Klopfen ihres Herzens sie ersticken. Ihr Auge scheute sich, die Blicke umherzuwerfen, und doch flogen ihre Blicke, wie magnetisch gezogen, mit scheuem Flattern in jeden Winkel des Zimmers. Aber sie trafen nicht auf das, was sie suchten und wovor sie doch bangten. Die Leiche des Hundes war nicht da, man mußte sie schon entfernt haben. Aus der offenen Tür des Schlafzimmers hörte Traudchen Ripperdas Stimme. Er lag noch im Bett. Er rief ihr mit einem mürrischen, zornigen Tone einige Aufträge zu, kleine Ankäufe, die sie ihm besorgen solle; sie flog hinaus und davon, es auszurichten, während er mit einem zwischen den Zähnen gemurmelten Fluche sich auf die andere Seite warf.

Als sie draußen war, atmete sie tief auf, so tief, als könne sie damit eine ganze Last von der Brust fortwälzen, und dann ging sie weiter, und als sie an den Seiteneingang der St.-Georgs-Kirche, an die immer offene Vorhalle kam, wo zu jeder Tageszeit arme Menschen vor einem großen schwarzen Kruzifix knien und Kerzen opfern – da trat Traudchen hinein und kniete auf die letzte Bank nieder. Nicht um zu beten. Das konnte sie nicht. Nein, um ihr Antlitz zu verbergen, über das Tränen herabrollten; um ihr Gesicht mit den Händen zu bedecken, damit niemand das Schluchzen sehe, von dem sie übermannt worden.

Ihr war zumute wie einer Mörderin. Aber sie hatte Hubert Rache gelobt; die Liebe hatte den Schwur geleistet, die Leidenschaft ihn besiegelt, und von diesem Augenblicke an wurde ihr eigenes Schicksal, ihr eigenes Wohl und Wehe ihr gleichgültig.

Um die Nachmittagsstunde kehrte, gegen seine Gewohnheit, der Ohm Gymnich nach Haufe zurück, nahm die Schlüssel zu dem alten Hause aus dem Spind und begab sich damit über den Hof an das Hauptportal, wo er die Steine und andere Gegenstände, die auf den Treppenstufen lagen, wegräumte und dann die große Tür aufschloß. Traudchen erinnerte sich der Zeit nicht, wo dies geschehen. Er trat dann ins Innere ein; das junge Mädchen nahm sich ein Herz und folgte ihm. Sie fand ihn beschäftigt, Läden und Fenster zu öffnen; als er sie erblickte, vertrieb er sie nicht, sondern sagte kaltblütig: »Das Haus soll vermietet werden. Wenn Leute kommen, die es besehen wollen, so rufe mich aus der Fabrik!«


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