Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

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Fünfzehntes Kapitel

Die beiden Retter und eine Katastrophe

Es war etwa acht Uhr abends. Hubert war in seinem Dachstübchen mit den Vorbereitungen zu seinem Unternehmen und zu seiner Flucht beschäftigt. Er hatte aus seinen sämtlichen Adjustierungsgegenständen ein Paket gemacht und es, sorgsam versiegelt, mit einer Adresse an den Kriegsherrn der gräflich Ruppensteinschen Armee versehen. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, daß er mit den ihm anvertrauten militärischen Ausrüstungsgegenständen, mit Philipps III. Eigentum durchgegangen. Ein winzig kleines Paket, nicht größer, als um es in einer Rocktasche unterbringen zu können, enthielt, was er für sich selbst an nötigster Wäsche, die er im Städtchen von seiner schmalen Chirurgusgage sich gekauft hatte, mitnehmen wollte. Jetzt ging er dazu über, sorgfältig ein Paar guter Pistolen zu laden, die er sich von einem vertrauensvollen Unteroffizier unter dem Vorwand, nach der Scheibe schießen zu wollen, geliehen hatte. Als er hiermit beschäftigt war, hörte er Schritte die hölzerne Treppe, welche zu seiner Kammer führte, heraufkommen. Er warf hastig ein Tuch über die Pistolen und schob das Paket unter sein Bett. Dann ging er zu öffnen.

Draußen stand ein Mann in Wams und Zipfelmütze, der mit einer hochgehaltenen Lampe den Treppenraum zu erleuchten suchte, und auf der Stiege sah Hubert einen Fremden emporsteigen, der jetzt in dem Lichtkreis der Lampe auftauchte. Sein Führer, der Hauswirt, entfernte sich wieder, als er denselben glücklich am Ende der steilen Stiege angekommen sah. Es war Franz von Ardey. »Sie hier?« sagte Hubert verwundert; »was bringen Sie? Treten Sie ein!«

Franz von Ardey war in einen weiten Mantel gekleidet, unter dem er einen Jagdanzug mit einem großen Hirschfänger trug. Er trat in Huberts Stube, und indem er sich dort auf einen Stuhl niederließ, auf dessen Lehne er den Mantel von seinen Schultern zurückwarf, sagte er: »Ich bin's, Herr Bender. Ich meine, es kann Ihnen nicht ganz unerwartet sein, daß ich zu Ihnen komme.«

»Ich habe Sie hier nicht erwartet, Herr von Ardey, so wenig, daß ich bei Ihrem ersten Anblick befürchtete, Sie brächten eine unangenehme Nachricht, eine Warnung ...«

»Ich bringe Ihnen Hilfe.«

»Das heißt?«

»Ich will Ihnen beistehen.«

»Ich bedarf keiner Hilfe. Ich werde, wenn anders Ripperdas Angaben richtig sind, ohne viel Mühe und Gefahr Marie Stahl allein heute abend aus der Hölle des Ogers befreien.«

»Glauben Sie nicht, daß eine Arbeit, die zwei zusammen angreifen, leichter vonstatten geht, als wenn bloß einer es unternimmt?«

»Nicht immer. Hier, wo bloß Vorsicht und Klugheit nötig sind, um einer Entdeckung vorzubeugen, ist es jedenfalls besser, daß einer es ausführt, als zwei.

»So lassen Sie mich dieser Eine sein!« sagte Franz.

»Unmöglich!« rief Hubert aus. »Mir liegt die Pflicht ob, es zu tun, und diese lass' ich mir von niemand abnehmen.«

»Die Pflicht? Darüber wäre doch zu streiten, Herr Bender!«

»Wenn ich Ihnen nun aber erkläre, daß ich Verpflichtungen gegen Marie Stahl habe ...«

»Das haben Sie nicht,« versetzte Franz von Ardey, heftig auffahrend ... »das haben Sie nicht, nun und nimmermehr! Sie haben sich in unser gegenseitiges Verhältnis eingedrängt – ich nehme an, aus der besten Absicht, aber ich glaube auch, ganz überflüssigerweise, denn es hat nichts gebessert, es ist ohne allen Einfluß auf die Lage der Dinge geblieben ... Die Hilflosigkeit und Schwäche von Mariens Eltern haben es aber nun einmal geduldet, und so will ich über das, was geschehen ist, nicht rechten. Aber ich dulde es nicht, daß Sie ferner noch sich in Beziehungen zu dem jungen Mädchen stehend glauben, und es ist, wie ich sehe, die höchste Zeit, daß ich Ihnen dies erkläre!«

Hubert Bender sah eine Weile höchlich überrascht über diese Kriegserklärung den jungen Edelmann an. »Ich muß annehmen,« versetzte er dann kaltblütig, »daß Sie über den Stand der Dinge nicht unterrichtet sind, denn sonst würden Sie nicht diese Sprache gegen mich führen. Ich weiß sehr wohl, daß zwischen Ihnen und Marien etwas wie ein Verhältnis stattgefunden hat. Dieses Verhältnis hat aber Marie Stahl nicht den mindesten Schutz gewährt, als sie in eine verzweiflungsvolle Lage geriet; sie ist auch wohl vernünftig genug, einzusehen, daß dieses Verhältnis nur zu ihrem Unglück, ja Untergang leiten kann ...«

»Untergang? Wie können Sie wagen, eine solche Sprache gegen mich zu führen?« rief Franz mit von Zorn flammendem Gesicht aus. »Wenn hier von dem Untergang von irgend jemand die Rede ist, so kann es nur von dem eines Menschen sein, der sich so in meine Angelegenheiten drängt. Ich würde Sie eher töten, als daß ich noch länger Ihre Einmischung in das, was allein Marien und mich angeht, dulde. Ich werde Marien von hier sofort in Sicherheit bringen, und ehe wenige Wochen vergehen, ist sie mein Weib.«

»Und Ihre Tante, Frau Gebharde von Averdonk?« warf Hubert mit einer Ruhe ein, welche etwas von kaltem Hohne hatte.

»Sie kann mich bloß enterben! Mag sie's!«

»Können Sie arbeiten für Marie?«

»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen Rechenschaft über die Art und Weise, wie ich meine Zukunft gestalten werde, schuldig bin.«

»Nein, das verlange ich nicht«, versetzte Hubert. »Ich verlange nichts, als daß Sie jetzt nicht störend in meinen Entschluß eingreifen, Marie diese Nacht aus dem Schlosse zu führen. Ich werde sie an den Ort bringen, wo Sie mit einem Wagen ihrer harren sollten. Es ist alles eingeleitet und in Ordnung. Ist Marie frei, so wird sie selbst über sich bestimmen, das ist mein Abkommen mit Ripperda, und dabei bleibt es.«

»Nun wohl, damit«, sagte Franz lebhaft, »bin auch ich einverstanden. Nur werde ich mich nicht begnügen, die Hände in den Schoß zu legen und, weit von der Gefahr entfernt, geduldig zu harren, bis man kommt mich aufzusuchen. Ich verlange, daß ich die Stelle angewiesen erhalte, wo die Gefahr ist.«

»Die werde ich nicht angeben.«

»So werde ich wenigstens die Gefahr teilen.«

»Sie erhöhen dadurch die Gefahr!«

»Das ist mir gleichgültig.«

»Auch riskieren Sie, daß Sie Ripperda, ohne dessen Beistand wir nichts vermögen, diesen Beistand uns vorenthalten machen. Er will nicht, daß Sie ...«

»Riskieren wir es«, unterbrach ihn Franz kaltblütig.

Hubert wußte nicht mehr, was er dem jungen Manne einwerfen sollte. Er nahm schweigend das Tuch von seinen Pistolen und schüttete das noch fehlende Pulver auf die Pfannen.

»Ist das eine Demonstration?« fragte, als Hubert fertig war, Franz, der ihm mit gerunzelter Stirn zugesehen hatte. »Ich stehe zu Diensten.«

Hubert lächelte. »Es würde sehr unzweckmäßig sein,« sagte er, »wenn wir uns einen Arm oder ein Bein untauglich machten, wo wir heile Glieder so nötig haben. Wenn Sie es wünschen, können wir uns nachher damit beschäftigen.«

Dabei steckte er die Pistolen in die Taschen seines Rockes, nahm seine Dienstmütze und sein Verbandzeug in die Hand und sagte: »Es ist Zeit!«

»So werde ich Sie begleiten«, entgegnete Franz aufstehend und den Mantel um sich schlagend.

»Nun dann, in Teufels Namen begleiten Sie mich,« rief Hubert zornig aus, »raufen kann ich mich in dieser Stunde nicht mit Ihnen darum!«

Der Student holte aus einer Ecke eine Blendlaterne hervor, zündete sie an, und nachdem er das Licht auf seinem Tische ausgeblasen, schritt er voran, zur Tür hinaus. Franz folgte ihm. Dem Manne in Wams und Zipfelmütze unten im Hause sagte Hubert, er solle ihm die Haustür offen lassen, da er bald zurückkehren werde, nachdem er des Jägermeisters Wunde noch einmal verbunden.

Draußen wandten sich die beiden jungen Männer dem Schlosse zu.

Unter dem Torbogen war das Gitter herabgelassen, auf Huberts Anruf wurde es ihnen aufgezogen, und die Wache ließ sie vorüber, nachdem der Student den verabredeten Grund seines Kommens angegeben, während Franz von Ardey vorschützte, daß er Ripperda besuchen wolle. Ein Kavalier wie Franz war eine unverdächtige Person.

Ripperda hatte sein breites Fenster durch die Läden wohl verschlossen. Er ging in seinem Wohnzimmer auf und ab; wie es schien, hatte er sich in seiner Einsamkeit durch einen kleinen freundschaftlichen Verkehr mit einer dickbäuchigen holländischen Flasche Rotwein getröstet, die nebst einem halbgefüllten geschliffenen Spitzglas von altfränkischer Gestalt auf dem runden Tische stand.

»Sang de Dieu!« sagte er überrascht, als er hinter Hubert Franz von Ardey eintreten sah, »was wollen Sie hier?«

»Ich komme Ihnen in die Quere, scheint es, Herr von Ripperda!« erwiderte Franz mit sehr entschiedenem Tone.

»Das können Sie sich selbst sagen ... Sie wissen es!«

»Meinethalb! Aber ich kümmere mich nicht darum.«

»Sagen Sie mir, was Sie herführt. Haben Sie vielleicht keinen Wagen bereit halten können?«

»Der Wagen steht bereit an der bestimmten Stelle. Es handelt sich jetzt um nichts weiter, als daß wir Marie Stahl abholen, um sie dahin zu bringen.«

»Das wird Bender tun – Sie wissen es ja!«

»Ich werde dabei sein!« entgegnete Franz.

Ripperda blickte mit seinem einen funkelnden Auge den jungen Mann an, wie um sich zu überzeugen, ob er es hier mit einem festen Entschluß zu tun habe, der sich nicht beugen ließ. »Lassen Sie uns immerhin beide gehen,« bemerkte Hubert unterdes. »Herr von Ardey scheint nun einmal seinen Kopf daraufgesetzt zu haben, und wir dürfen keine Szene machen!«

»Wenn Sie damit einverstanden sind,« entgegnete Ripperda nach einer Weile Nachdenkens, »so mag es sein. Ich habe nichts dawider ... Es darf nur niemals irgend jemand etwas davon erfahren. Kommt es morgen zur Untersuchung, so leugne ich, daß einer von Ihnen bei mir gewesen ist. Merken Sie sich das für alle Fälle und kompromittieren mich nicht, wenn Sie erwischt werden. Erfährt Ihre Tante jemals, daß Sie in dieser Stunde bei mir waren, daß Sie mit meiner Zustimmung den törichten Streich, den Sie machen wollen, ausführten, Ardey – dann sind wir unversöhnliche Feinde!«

Ripperda begleitete diese Worte mit einem Mienenspiel seiner häßlichen und entstellten Züge, welches hinreichend andeutete, daß diese Drohung zu verachten sehr unbesonnen sein würde.

»Haben Sie den Anzug für Marie und für mich in Bereitschaft?« fragte Hubert.

»Alles«, versetzte Ripperda, indem er zu seinem Bette im Hintergründe des Gemachs ging und die Decke zurückschlug, so daß zwei sorgfältig zusammengefaltete Packen von Kleidungsstücken sichtbar wurden. Nachdem er sie wieder verhüllt, nahm er die Laterne Huberts, öffnete die Tür seines Zimmers, die auf den Vorplatz führte, horchte eine Weile hinaus, ließ den Schein des Lichts in jede Ecke fallen und winkte dann den beiden jungen Leuten, ihm zu folgen. Franz von Ardey warf seinen Mantel ab und lockerte seinen Hirschfänger in der Scheide. Ripperda hatte sich unterdes vergewissert, daß die vom Vorplatz auf den Schloßhof führende Tür verschlossen sei, und schob leise einen Riegel vor. Dann wandte er sich dem Hintergrunde, wo die Treppe war, zu, und alle drei schritten vorsichtig, so geräuschlos wie möglich hinauf. Als sie den Absatz in dem zweiten Stockwerke erreicht hatten, übergab Ripperda Hubert einen kleinen Bund Schlüssel, den er aus seiner Tasche hervorholte, und die Laterne, mit der Mahnung, oben auf den Speicherräumen zu verhüten, daß der Schein durch die Dachluken hinausleuchte und so von außen her sichtbar werde und kehrte in sein Wohngemach zurück.

Die beiden jungen Leute schritten unterdes in die stillen, dunkeln Räume hinein, die vor ihnen lagen, und die sich wie eine ganz merkwürdige und höchst abenteuerliche, von den schwarzen Schleiern der Nacht verhüllte Welt vor ihnen darstellten. Es war wie eine kühne Entdeckungsfahrt in Gegenden, die gehütet zu werden schienen von lauter Wesen und Mächten unheimlicher und schauerlicher Art; wo ihnen bald ein in der Dunkelheit seiner wahren Natur und Gestalt nach gar nicht zu erkennendes Ding aus einer finstern Ecke drohte, bald ein anderes sich förmlich vor ihre Füße legte, wie um sie zu Falle zu bringen; wo bald irgendein greuliches Wesen mit den Flügeln eines Nachtvogels um ihre Köpfe flatterte, bald ein anderes mit höchst auffallenden und unheimlichen Lauten sie zurückschrecken zu wollen schien. Da der Schein der Diebeslaterne, welche Hubert trug, nur sehr dürftig und wenig Licht verbreitete und die Gegenstände erst dann erleuchtete, wenn sie unmittelbar vor ihnen standen, so konnte es nicht ausbleiben, daß diese Gegenstände beim ersten Aufdämmern aus der Entfernung von sechs, acht oder zehn Schritt höchst seltsame und unbegreifliche Umrisse zeigten; daß ein alter Ofenschirm, eine außer Dienst gesetzte spanische Wand, eine nach langjähriger Funktion für treugeleistete Dienste, in diese höchsten Regionen beförderte alte Säulenbettstatt von weitem wie riesige Männer aussahen, die sich den Eindringlingen tückisch feindlich in den Weg stellten. Das plötzliche Aufspringen eines Iltis oder eines Marders in einem fernen Teile dieser Dachregion, mit einem Lärm, der in der nächtlichen Stille dem Davongaloppieren eines Pferdes glich; das Aufflattern und lautlose, aber wahnsinnig schnelle Umherschießen der Fledermäuse – das alles trug dazu bei, das Herz der jungen Männer, die sich in diese nächtlichen Gegenden ohne Kompaß und Kunde wagten, schneller schlagen zu machen. Sie hatten bald eine Tür am entgegengesetzten Ende des ersten Raumes erreicht; sie zeigte sich nur durch eine Krampe geschlossen und ließ Hubert und Franz deshalb ungehindert in den zweiten Raum ein. Es war dies das Dach der Schloßkapelle; über die konvexe Seite der Wölbungen fort, die sich ihnen wie ein kleines Meer von lauter Backofenbrücken darstellten, kletterten sie nach jenseits, wo eine zweite Tür den Eingang in die Dachräume über dem Wiprechtsbau bildete. Diese Tür zeigte sich verschlossen; Hubert zog deshalb sein Bündel mit Dietrichen hervor – aber Franz von Ardey hatte unterdes schon gefunden, daß ein starker Druck der Hand hinreichte, um das alte gänzlich verrostete Schloß nachgeben zu lassen.

Sie schritten nun, nachdem sie einige wackelige Stufen niedergestiegen waren, in einen noch weitern dunkeln Raum hinein. In ihren Weg stellten sich hier riesige, über das Dach hinaufsteigende Kaminschlote, auf deren schwarze Seiten der Schein der Laterne fiel und den dicken daran niedertröpfelnden Rußteer zeigte; zuweilen knarrte eine morsche alte Diele unter den Füßen der nächtlichen Wanderer, oder sie stolperten über irgendeinen daliegenden tückischen Gegenstand von vollendeter Überflüssigkeit, der sie stehenbleiben und besorgt den Atem anhalten ließ, als ob sie damit die etwaigen schlimmen Folgen eines vernommenen Geräusches abwenden und unterdrücken könnten.

So kamen sie an der langen Ständerreihe des Dachstuhles entlang über den Wiprechtsbau fort. Am Ende desselben, links, befand sich ein Gitterverschlag mit einer verriegelten Tür in der Mitte; aber mit großer Zuvorkommenheit für unsere beiden Abenteurer hatte der Zufall dicht neben der Tür eine Latte ausgerissen, so daß sie bequem hindurchschlüpfen und die kleine Stufenreihe niedersteigen konnten, welche jenseits des Gitters hinabführte auf den Bodenraum über dem Teile des Gebäudes, worin Marie Stahl sich befinden sollte. Mit tiefgebückten Häuptern schlichen sie hier unter den niederen Querbalken des Mansardendaches dahin und gelangten so an das Ende des Raumes, wo sich eine wirklich und ernsthaft verschlossene feste Tür ihrem Weiterbringen entgegenstellte.

»Hier heißt es vorsichtig sein«, sagte Hubert, dem bei dieser ganzen Unternehmung sich nach und nach sein Abenteuer in dem alten Hause zu Köln so lebhaft ins Gedächtnis zurückgedrängt hatte, daß er trotz aller seiner Verwegenheit das Beklommensein, das ihm das Herz klopfen machte, sich in hohem Grade steigern fühlte. – »Halten Sie die Laterne, Ardey«, setzte er hinzu.

Während Franz das Licht nahm, machte Hubert seine sanften Versuche, das Schloß mit den Dietrichen zu öffnen.

»Ist Ihnen nicht, als hörten Sie da unten Stimmen?« flüsterte Franz.

Hubert lauschte. »Ich höre etwas, aber keine Stimme. Ich glaube, es ist der Schritt der Schildwache, die in dem unteren Stockwerke aufgestellt sein soll.«

Er fuhr mit seinen Versuchen fort; der Riegel im Schloß gab endlich nach, die Tür konnte aufgemacht werden; es kam nur darauf an, daß sie dabei nicht wie eine aus dem Nest aufgescheuchte alte Dohle zu krächzen begann. Zu dem Ende hob Hubert sie mit starker Faust soviel wie möglich in ihren Angeln, und stieß sie dann mit einem plötzlichen Ruck auf; so blieb sie unhörbar; und der Weg über die Treppe in den Korridor hinab, in welchem die erste Tür links die zu Mariens Stube sein sollte, lag offen vor den jungen Männern.

»Stützen Sie die ganze Last Ihres Körpers auf das Geländer der Treppe und treten Sie auf die Stufen nicht mit dem Vorderteil des Fußes, sondern bloß mit der Ferse«, raunte Hubert seinem Begleiter zu; »dann wird die Treppe kein Geräusch machen.«

Zugleich ging er Franz mit dem guten Beispiel voran.

Als sie etwa auf der Mitte der Treppe waren, blieb Hubert stehen. »Still!« sagte er leise und zu seinem Begleiter sich zurückwendend.

»Was ist? ... es wird da unten gesprochen!« versetzte Franz, den Atem anhaltend.

»In Mariens Zimmer«, flüsterte Hubert zurück.

So war es in der Tat; man vernahm nämlich ganz deutlich zweierlei Art von Geräuschen; aus der Ferne den schweren, langsam auf- und abwandelnden Schritt eines Mannes – der Schildwache im unteren Stocke; aus der Nähe Stimmenwechsel, der in diesem Augenblicke bedeutend lauter wurde, als er bis jetzt gewesen zu sein schien.

Hubert murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen. »Wir müssen uns zurückziehen,« raunte er Franz zu, »bis wir wahrnehmen, daß die Person, die bei Marie Stahl ist, sich entfernt hat.«

Er wandte sich, um sacht die Treppe wieder hinaufzusteigen, aber Franz legte die Hand auf seine Schulter.

»Hören Sie, was ist das?« flüsterte Fram dabei, indem jeder Zug seines Gesichts die peinvollste Spannung ausdrückte.

Hubert blieb jetzt auch wie festgebannt stehen und beugte sich weit vorüber, um zu lauschen. »Das ist die Stimme des Tollen!« sagte er dann erschrocken.

Franz eilte wie von einer unsäglichen inneren Angst getrieben an Hubert vorüber, mehrere Stufen hinunter.

»Um Gottes willen, was tun Sie, man hört uns!«

Franz hatte kein Ohr für diese Warnung; mit der Hand an seinen Hirschfänger greifend, stand er jetzt am Fuße der Treppe; zwischen ihm und der Tür, auf die Hubert vorhin als die Mariens gedeutet hatte, lag höchstens noch ein Zwischenraum von drei Schritten.

Überall sonst im Schlosse herrschte die tiefste Stille. Nur die dumpf herauftönenden Schritte der Schildwache unterbrachen sie. Desto vernehmlicher klangen jetzt wieder die Stimmen aus dem Zimmer Mariens; oder vielmehr eine Stimme, eine heftige laute, tiefe Baßstimme, in der jedermann, der sie einmal in seinem Leben vernommen, die Stimme Philipps III. von Ruppenstein wiedererkennen mußte.

Es war eine höchst auffallende und kaum glaubliche Sache, daß Graf Philipp den Klang der Glocke, welche die Stunde seines Nachtmahls längst verkündet hatte, überhört haben sollte; es konnte nur eine Angelegenheit von fesselndem Interesse sein, welche diese merkwürdige Tatsache erklärte; und dies wurde freilich durch den Ton seiner Stimme bestätigt, die jetzt plötzlich in ein überaus lautes, heftiges, leidenschaftlich klingendes Aufkollern, wie das eines zornigen Truthahns, überging.

»Gerechter Gott!« rief Franz von Ardey, der beim Anhören dieser Stimme, die in seinem Ohre nichts Menschliches mehr hatte, um alle Besinnung gekommen schien – »gerechter Gott! Du sendest mich im rechten Augenblick hierhin!« Dabei entblößte er seinen Hirschfänger, und wie ein rettender Sankt Georg, der Drachentöter, stürzte er. vorwärts, auf die Tür zu.

»Ardey – zum Teufel, was machen Sie?« flüsterte Hubert und griff nach seinem Arme, um ihn zurückzuhalten.

»Halten Sie mich nicht, ich töte ihn!« schrie Franz, sich losreißend, und in demselben Augenblick hatte er die Tür zu Mariens Zimmer aufgeworfen und stand mit seiner blitzenden Waffe auf der Schwelle.

Hubert blieb dicht hinter ihm und schaute im nächsten Augenblicke über seine Schulter fort in das kleine hellerleuchtete Zimmer.

Was sich hier ihnen zeigte, überraschte beide in gleichem Grade. Es war eine Szene von vollendeter Harmlosigkeit, die sich ihren Blicken darbot.

Der Tür gegenüber, hinter einem gedeckten, mit Teezeug besetzten Tische, auf einem kleinen Divan, der seine breite Gestalt völlig ausfüllte, saß der Reichsvorfechter, Graf Philipp III., im weiten, rotseidenen Schlafrock, eine hohe seidene Zipfelmütze auf seinem purpurnen, souveränen Haupte; in seiner Hand hielt er eine kurze Tabakspfeife mit einem ausgezeichnet schönen, schwer mit Silber beschlagenen Meerschaumkopf, der aber ausgegangen war, und zwar, wie es schien, über einem guten Spaße, den die Erlaucht just zum besten gegeben und mit einem herzlichen Lachen begleitet haben mochte. Denn daß die Töne seiner Stimme, die Franz von Ardey soeben mit einem aus Schrecken und Empörung gemischten Entsetzen erfüllt, nichts gewesen waren, als die Seiner Erlaucht eigentümliche Art, laut zu lachen, verriet sich jetzt deutlich an den Gesichtszügen der letztern. Ihm zur Seite stand die vortreffliche Dame, die man die Mamsellen-Mutter nannte, und hielt in ihrer erhobenen Rechten einen brennenden Fidibus, mit dem sie des Gebieters Meerschaum neu zu entzünden im Begriffe war. Dem Gebieter gegenüber saß Marie auf einem Tabouret, beschäftigt, aus einer Teekanne eine Tasse zu füllen, während ein das kleine Gemach füllender aufdringlicher Duft verriet, daß das Getränk, das Marie für den Gebieter einschenkte, nichts anderes sein konnte, als die in das Gebiet der probatesten Hausmittel gehörende Flüssigkeit, die man Kamillentee nennt.

In der Tat hatten sich Erlaucht heute nicht ganz wohl gefühlt und hatten die Mamsellen-Mutter beauftragt, ihnen das erwähnte heilsame Getränk anzusetzen, das sie auf Mariens Zimmer einzunehmen geruhten, damit das junge Mädchen doch auch eine Unterhaltung habe, wie sie gnädigst hinzugesetzt. Diese Unterhaltung war eben im besten Zuge gewesen; sie hatte darin bestanden, daß Philipp III. einige höchst merkwürdige und fast unglaubliche Streiche aus seiner Jugendzeit zum besten gab, welche die eigentümliche Wirkung hatten, daß sie, je öfter er sie wiederholte, desto mehr Heiterkeit in ihm und desto weniger bei denen, welche sie anzuhören verurteilt waren, hervorriefen.

Das Gepräge der Heiterkeit war aber augenblicklich von den Zügen der Erlaucht verflogen, als er die Tür so plötzlich und unerwartet auffliegen und zwei Männer, deren einer eine blanke Waffe schwang, in seine innerste Häuslichkeit eindringen sah. Im Grunde hätte es ihm nur willkommen sein können, daß fremde Augen ihn in dieser Situation erblickten. Sie konnten es bestätigen, daß auch er eigentlich »besser sei als sein Ruf«. Daß er, nachdem er einmal seinen Willen durchgesetzt und Marien gezwungen, ein Dienstjahr in seinem Schlosse anzutreten, ihr seine väterliche Huld zugewandt hatte und sich von ihr den Kamillentee einschenken ließ, wenn ihn seine Vapeurs plagten, war gewiß etwas, das er vor den Augen der Welt nicht zu verbergen brauchte. Aber er war nicht der Mann, der seine Würde ungestraft verletzen ließ; in Uniform oder im Schlafrock, hinter der Flasche oder Kamillentee schlürfend, war Philipp III. von einem souveränen Bewußtsein erfüllt, das zu verletzen lebensgefährlich war. So rief er beim Anblick Franz von Ardeys jetzt zwischen tödlichem Erschrecken und äußerster Entrüstung schwankend aus: »Wer ist das – was heißt das – was will man?!«

Franz von Ardey hatte sich im Augenblick gefaßt. Aber er fand nicht ebenso schnell die Worte zu einer Antwort. Er ließ seine Klinge sinken und suchte sie mit der vor Aufregung zitternden Hand wieder in die Scheide zu bringen. Bei der ersten Wahrnehmung dieser Tatsache aber schien der Zorn des Grafen sich plötzlich einen Riesenaufschwung zu geben. Er fuhr empor, daß der Tisch mit dem Teezeug rasselte und im nächsten Augenblick auf dem Boden gelegen haben würde, wenn ihn die Mamsellen-Mutter nicht gehalten hätte – er trat Franz von Ardey mit dröhnendem Schritte, mit flammendem Gesicht entgegen, und da in demselben Augenblicke der junge Mann sich ihm plötzlich ebenfalls um einen Schritt entgegenwarf, so überschritt seine Wut alle Grenzen, er erhob die geballte Rechte wider den unglücklichen Franz.

Und doch war dieser höchst unschuldig an dem so respektwidrig und trotzig aussehenden Vorrücken gegen die höchste Person, deren äußerste Protuberanz er jetzt beinahe berührte. Es war Hubert gewesen, der Franz von hinten plötzlich in das Zimmer hineingeschoben hatte und nun eben die Tür hinter sich schloß.

Hubert hatte seine ganze Geistesgegenwart beibehalten und mit raschem Auge die Lage der Dinge übersehen. Ein Blick auf den Grafen hatte ihm die Überzeugung gegeben, daß mit diesem nicht friedlich zu verhandeln war; danach hatte er sofort seinen Plan gemacht.

»Hüten Sie nur die Tür,« raunte der Student Franz zu, »damit wir den Rücken gedeckt haben, das andere überlassen Sie mir.« Zugleich erhob er abwehrend den Arm gegen die Mamsellen-Mutter, welche eben im Begriffe war, dicht neben ihm aus dem Zimmerchen hinauszuschießen – ohne Zweifel in der gütigen Absicht, draußen Lärm zu schlagen und Wachen und Domestiken zusammenzurufen.

»Herr Graf,« sagte er dann, »ist es Ihnen möglich, in diesem Augenblicke eine vernünftige Unterhaltung zu führen, so ...«

»Er ist das ...? Er ...? Der freche Student?« versetzte der Graf, und seine Worte rangen sich einzeln von seinen blauen, vor Wut zitternden Lippen los – »Ihn lass' ich ja krumm schließen, Spießruten laufen ...«

»Ich sehe, Sie sind nicht imstande, die Sprache der Vernunft zu hören«, fiel Hubert ein. »Nun wohl, wir sind nicht imstande, zu warten, bis Sie sich genug dazu beruhigt haben. Ich erlaube mir deshalb, unser Anliegen selbst zu erledigen, und zwar in kürzester Weise. Dieser Gegenstand hier« – Hubert zog eins seiner Pistolen aus der Tasche – »ich weiß nicht, ob Ihr Gemütszustand Ihnen erlaubt, ihn zu erkennen – ist ein Pistol, geladen mit Pulver und Blei und mit Kraut auf der Pfanne versehen ...«

Philipp fuhr bei diesem Anblick zurück, beide Arme hinter sich auf die Tischplatte stützend; so stand er zurückgebeugt, die Augen rollend, den Mund geöffnet, aber plötzlich zum Schweigen gebracht. Anders jedoch die Mamsellen-Mutter. Sie schien den ganzen Vorteil des Augenblicks zu erkennen, die ganze Kostbarkeit der Gelegenheit, und sie säumte nicht, diese Gelegenheit zu ergreifen. Ihre Lippen öffneten sich zu einem leisen Schrei. Mit der Aufopferung ihrer eigenen Sicherheit, in selbstverleugnender Hingabe für ihren Gebieter, warf sie sich vor ihn hin. Sie bot ihre eigene Brust der tödlichen Waffe des Feindes dar – mit einem ganz unbeschreiblich edlen Anstande tat sie es ... es war unsäglich schade, daß kein Maler da war, der diesen schönen und rührenden Moment belauschte und ihn der Nachwelt durch seinen Griffel aufbewahrte.

Um so mehr, als Hubert Bender ihn nicht zu würdigen verstand. Ohne sich einen Augenblick irremachen zu lassen durch den Heroismus der Mamsellen-Mutter, spannte er den Hahn seines Pistols und herrschte Franz von Ardey zu: »Schaffen Sie das Geschöpf beiseite! Schleudern Sie sie in die Ecke! Wenn sie schreit, erwürgen Sie sie!«

»Nun hören Sie mich an,« fuhr er, als Franz mit einiger Anstrengung seinen Auftrag vollzogen und sie zur Seite gedrängt hatte, fort – »hören Sie mich an, mein Herr Graf! Ich weiß sehr wohl, daß Sie imstande sind, Ihre Drohungen gegen mich auszuführen, und deshalb scherze ich nicht. Es liegt überhaupt in der völlig niederträchtigen Behandlung, welche Sie mich haben erdulden lassen, keine Aufforderung für mich, mit Ihnen bloß Scherz zu treiben ...« »Lassen Sie das Pistol fort – fort mit der Waffe!« keuchte Philipp III., dessen von Purpurflammen des Zornes bedeckte Mienen sich immer mehr mit einem fahlen Graugelb überzogen.

»Nicht eher, als bis ich weiß, daß ich keinen Gebrauch davon zu machen habe«, antwortete mit seinem ganzen kaltblütigen Hohne Hubert; »nicht eher, als bis ich sehe, daß es ganz überflüssig und nutzlose Verschwendung des guten Pulvers sein würde, wenn ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf jagte. Jedoch wird dieses für die Geschichte Ihres erlauchten Hauses so bedeutsame Ereignis sofort eintreten, sobald Ihre tugendhafte Freundin dort noch eine verdächtige Bewegung macht...«

»Was wollen Sie denn von mir?« stotterte der Graf jetzt völlig kleinlaut, fast flehend.

»Zuerst Ihnen begreiflich machen, daß sie ganz und gar in unserer Gewalt sind.«

Der Graf antwortete nicht; er beschränkte sich darauf, mit seinen Blicken, die jetzt nur noch Entsetzen ausdrückten, Hubert stier anzuschauen.

»Gehorchen Sie deshalb«, fuhr Hubert fort; »es ist die einzige Weise, wie Sie Ihr Leben retten können. Dort auf der Kommode scheint mir Schreibzeug zu liegen. Sie, altes Frauenzimmer,« wandte er sich an die treue Freundin Philipps – »reichen Sie es her.«

Die alte Dame regte sich nicht. Sie war offenbar zu sehr versteinert über Huberts Verwegenheit, um zu begreifen, was man von ihr verlangte. »Geben sie das Papier dort her, Ardey,« sagte Hubert deshalb zu Franz gewandt, – »so, legen Sie es neben ihn auf den Tisch.«

Ardey hatte schon vorher zugegriffen. Als er das Schreibzeug neben den Grafen hingelegt hatte, fuhr Hubert fort: »Jetzt machen Sie ihn begreiflich, daß er schreiben soll. Geben Sie ihm die Feder in die Hand. Graf Philipp, besinnen Sie sich, tun Sie jetzt augenblicklich, was ich verlange, oder ich schieße Sie über den Haufen!"«

Hubert sprach mit einer solchen Energie, daß der Graf unter dem Einflusse derselben willenlos geworden schien. Er hielt die Feder, die ihm Franz, nachdem er sie mit Tinte gefüllt hatte, reichte, in seiner zitternden Hand, während seine Augen stier auf den Pistolenlauf gerichtet blieben.

»Schreiben Sie«, sagte Hubert jetzt:

»Die Wache läßt den Herrn von Ardey und seine Begleiterin ohne Aufenthalt das Schloßtor passieren. Auch an den Stadttoren hält niemand sie auf.«

Philipp III. schrieb die verlangten Worte mit seiner zitternden Hand langsam nieder.

»Die Unterschrift!« fügte Hubert hinzu.

Die Unterschrift wurde hinzugefügt.

»Jetzt«, nahm Hubert wieder das Wort, »nehmen Sie das Blatt, Ardey, und machen, daß Sie mit Marie von dannen kommen. Sie brauchen jetzt für Marie keine Verkleidung und keinen Umweg mehr. Zögern Sie keinen Augenblick. Ich gebe Ihnen zehn Minuten, währenddessen will ich Ihren Abzug decken.«

»Wie, Sie wollen zurückbleiben?« rief Franz aus.

»Was würde Ihnen sonst der Wisch helfen?« entgegnete Hubert – »nur fort! Ich hole Sie schon wieder ein!«

»So kommen Sie, Marie!« sagte Franz, »kommen Sie!«

Das junge Mädchen hatte in starrer Verwunderung bis jetzt der ganzen Szene zugesehen. Sie zögerte. Sie war offenbar nicht imstande, sich zu fassen. Als aber Franz jetzt ihren Arm nahm, gab sie ihm willenlos nach. Er holte rasch ihren Mantel und ihren Hut herbei, und nach wenigen Augenblicken waren sie aus der Tür. Man hörte ihre flüchtigen Schritte im Korridor verhallen.

»Jetzt, Herr Graf,« sagte Hubert noch immer mit erhobenem Pistol, »bitte ich Sie noch um eins Ihrer schätzbaren Handbilletts. Wir haben die Muße, uns dabei eines sorgsamern Stils und einer schönern Handschrift zu befleißigen. Schreiben Sie auf das neben Ihnen liegende Blatt: ›Der Kompagnie-Chirurgus-Adjunkt, Herr Hubert Bender, ist auf sein Ansuchen unsers Dienstes in Gnaden und mit Bezeugung unserer vollen Zufriedenheit für seine ausgezeichnete Führung in und außer dem Dienste hiermit entlassen. Es ist deshalb seiner Abreise von hier zu keiner Stunde des Tages oder der Nacht, weder am Schloß- noch an den Stadttoren entgegenzutreten. Gegeben in unserm Schlosse zu Ruppenstein usw.‹ Die Unterschrift bitte ich mir zum Andenken an Sie recht schön und deutlich aus.«

Der Graf schrieb mechanisch nach, was Hubert verlangte und ihm sehr langsam diktierte. Als er fertig war, reichte er Hubert mit abgewandtem Gesicht das Blatt hin. Dieser überflog es, ohne dabei den Grafen aus den Augen zu verlieren.

»Geh' Er jetzt! Er hat, was Er will«, sagte dieser nun mit keuchender Brust.

»Lassen wir erst das Blatt trocken werden«, versetzte Hubert; »es bleiben uns immer noch einige Augenblicke zu einer freundschaftlichen Konversation, bis Herr von Ardey und die junge Dame in Sicherheit sein werden. Ich könnte diese Augenblicke benutzen, um Ihnen ein wenig ins Gewissen zu reden; da ich aber befürchten muß, daß dies nicht viel helfen würde, und ich, offen gestanden, auch kein lebhaftes Interesse mehr daran habe, so will ich lieber den Moment für mich selber benutzen. Schwören Sie mir – oder besser, geben Sie mir Ihr gräfliches Ehrenwort, daß Sie nichts tun wollen, sich an den Eltern Marie Stahls zu rächen. Es wäre das freilich an und für sich überaus gemein und niederträchtig; aber – ich verlange dennoch Ihr Ehrenwort.«

Der Graf nickte widerwillig mit dem Kopf und murmelte dabei etwas zwischen den Zähnen.

»Laut! wenn ich bitten darf.«

»Ich gebe es Ihm!«

»Und nun ebenfalls Ihr heiliges Ehrenwort, daß, wenn ich meinen Rückzug aus diesem glorreichen Schlosse antrete, Sie die Freiheit, die ich Ihnen großmütig zurückgebe, nicht mißbrauchen wollen, um mich aufhalten zu lassen und den Inhalt dieses Blattes zu widerrufen!«

Der Graf glotzte ihn schweigend an. Er verstand ihn entweder nicht, oder er fand es schwer, das verlangte Wort über die Lippen zu bringen.

»Heraus damit, laut und deutlich!« sagte Hubert, indem er mit dem Zeigefinger an den Drücker des Pistols faßte.

»Ich gebe es«, stammelte Philipp III.

»Ihr gräfliches Ehrenwort!«

»Mein Wort.«

»Dann könnten wir uns trennen, mein Herr Graf«, entgegnete Hubert. »Ich hoffe, daß es nicht geschieht, ohne daß wir in Ihrem Herzen die dankbare Anerkennung zurücklassen, wie großmütig und mit welch bescheidener Benutzung unsers Vorteils diese Angelegenheit von uns zu einem friedlichen Ende gebracht ist. Dies ist auch, was, neben Ihrem verpfändeten Ehrenwort, mich hoffen läßt, daß Sie mich ruhig werden meiner Wege gehen lassen. Adieu, mein Herr Graf!«

Hubert spannte bei diesen Worten den Hahn seines Pistols ab, steckte es in die Brusttasche, nahm die erloschene Laterne auf, die Franz hatte auf den Boden fallen lassen, und verließ ruhig das Zimmer. Er schritt draußen über den Korridor und die erleuchtete Treppe nach unten hinab, wo er der Schildwache, die hier ruhig und passiv auf- und abschritt, durch das Gitter, das am Fuße dieser Treppe angebracht war, gebieterisch winkte, ihm zu öffnen.

»Ich darf nicht!« sagte der Mann.

»Der Graf befiehlt's ... kann Er lesen?«

Der Mensch schüttelte den Kopf. »Hab' auch den Schlüssel nicht!« entgegnete er.

»Zum Teufel, ich werde am Ende über die Dächer zurück müssen!« sagte sich Hubert.

»Geh Er wieder hinauf und dann durch den Wiprechtsbau hinaus, da wird er nicht aufgehalten«, fuhr jetzt der Mann auf dem Posten fort.

Hubert besann sich nicht lange. Seine Keckheit mußte ihm helfen. Er flog die Stiegen wieder hinauf und wandte sich dann oben nach rechts, wo der schmalere Korridor, der von Mariens Zimmer herkam, auf den breitern und höhern Gang mündete, der durch den mittleren Stock des alten Wiprechtsbaues lief. Als Hubert oben war, sah er mit einem flüchtigen Blick die breite Gestalt Philipps vom Ende des Korridors aufgeregt daherkommen, schnaufend wie eine wandelnde Maschine; desto mehr eilte Hubert, der sich nicht danach sehnte, noch einmal mit ihm zusammenzutreffen, sich in den breiten Gang rechts zu vertiefen. In diesem schien sich ihm kein Hemmnis in den Weg stellen zu wollen. Es waren an den Wänden von Strecke zu Strecke Laternen angebracht, die seinen Weg erhellten. Niemand begegnete ihm anfangs. Erst als er durch eine offene Flügeltür in die große Stiegenhalle gekommen war, zeigten sich Spuren von Leben; ein Stockwerk tiefer lag, an dieses Stiegenhaus stoßend, der Speisesaal, und in der Nähe desselben gingen Bediente ab und zu. Hubert hemmte ein wenig seine Schritte, um nicht in zu auffallender Eile an ihnen vorüberzuschießen. Sie blickten ihn verwundert an, als er herabkam, keiner aber richtete eine Frage an ihn, und Hubert ging auch unaufgehalten an der Wache vorüber, die unten vor dem großen Portal stand. Dieses große Portal war aber leider verschlossen. Hubert mußte sich den Mut fassen, den ersten Bedienten, den er herabkommen sah, zu fragen, wie er hinauskomme.

»Wie kommt Er denn hinein? Wo kommt Er her?« war die nicht ganz beruhigende Antwort des Mannes.

»Von dort oben her«, antwortete Hubert flüsternd, indem er mit einem erzwungenen Lächeln über seine Schulter fort nach dem Mansardenflügel deutete; »der Graf hat mich da als Doktor gebraucht.«

Der Bediente schien keinen Argwohn zu fassen und sagte kopfnickend: »Ach ja, Er ist der neue Feldscherer... komm Er nur hierher.«

Damit schritt er ihm durch einen schmalen Gang voran, an dessen Ende eine kleine Tür auf den Schloßhof führte.

Hubert schritt nun rasch über den Hof, dem Torgebäude zu; bei Ripperda einzutreten und diesem das Ergebnis der Unternehmung mitzuteilen, fand er sich natürlich nicht versucht. Der Jägeruniform und des Schreibens, das Ripperda bereit liegen hatte, glaubte er nicht mehr zu bedürfen. Er hatte eben das Torgebäude erreicht, er wollte eben der Wache zurufen, sie solle ihm das Fallgitter öffnen, sie mußte ja glauben, daß er von seinem Patienten Ripperda komme, die Schrift des Grafen reservierte er für den Notfall – da wurde hinter ihm, im Wiprechtsbau, heftig und geräuschvoll ein Fensterflügel aufgerissen, und donnernd schrie eine schreckliche, alle Geister der stillen Nacht wachrufende Stimme: »Haltet den Kujon – heda, Wache – haltet den Kujon fest – ich lass' euch füsilieren, wenn ihr Himmelhunde den Kujon durchlaßt!«

Es war die Stimme Philipp des Tollen, die mit einem wahren Wutgeheul diese Worte ausstieß und sie ohne Unterlaß wiederholte.

Hubert wollte, plötzlich von Schrecken erfaßt, zurückspringen und davonlaufen, um irgend einen Schlupfwinkel zwischen den Gebäuden zu suchen, aber die Schildwache kam ihm zuvor; er war leider bereits an ihr vorübergeschritten, so daß sie zwischen ihm und dem Hofe stand; sie fällte jetzt ihr Gewehr; Hubert faßte das Bajonett mit der Hand, er rang aus Leibeskräften mit dem Manne, doch nur wenige Augenblicke lang – dann stürzten die Leute aus der Wachtstube herbei und überwältigten ihn; sie warfen sich über ihn, daß an keinen Widerstand mehr zu denken war, und halb getragen, halb geschoben, mußte er sich in die Wachtstube schleppen lassen.

Der entstandene Lärm brachte mehrere von der Schloßdienerschaft herbei; während man sie draußen laut rufen und sich nähern hörte, wurde plötzlich die Gestalt Ripperdas auf der Schwelle der Wachtstube sichtbar.

»Sang de Dieu – der Herr Bender!« rief er aus. »Warum haltet Ihr ihn fest, Feldwebel – was ist geschehen?«

Ripperda näherte sich Hubert; es war ja zwar keine Möglichkeit da, ein heimliches Wort zu flüstern, aber in dem einen blinzelnden Auge des Jägermeisters lag ein ganzes Register von Fragen, und Hubert antwortete auch auf eine dieser Fragen, mit den für die Umstehenden unverständlichen Worten: »Ich wollte ein paar Tauben aus dem Schlag holen – sie sind fort – dafür werde ich büßen müssen!«

»Was? hat der Patron den Tauben nachgestellt?« fragte der Feldwebel verwundert.

In diesem Augenblicke wurde die Tür der Wachtstube weit aufgerissen und die breite Gestalt des tollen Reichsgrafen höchstselbst stolperte über die Schwelle.

Philipps Kopf glühte wie ein Feuerbrand. Seine Augen rollten. Seine Zunge schien ihm nicht gehorchen zu wollen, sondern nur noch lallen zu können vor ungeheurem Zorn.

»Nehmt ihm das Pistol – er hat ein Pistol im Sack,« rief er aus – »und dann Handschellen her – wo sind die Handschellen – wenn er nach dem Pistol greift, schlagt ihn nieder – er stellt sonst Mord und Totschlag an.«

»Graf, ist das die Art, wie Sie Ihr Ehrenwort halten?« rief Hubert ihm entrüstet entgegen.

»Was Ehrenwort – Hochverräter – Er ist ein Hochverräter. Will seinen Kriegsherrn, dessen Uniform Er trägt, ermorden. Die Handschellen her! In den Turm mit ihm! Morgen lass' ich Kriegsgericht über Ihn halten. Lass' Ihn totschießen! In den Turm mit Ihm!«

Graf Philipp ließ sich auf einen Stuhl fallen, so schwer schien die Last seines Zornes ihn niederzudrücken; dann begann er von neuem seine Ausrufe.

Der Feldwebel suchte unterdes nach Handschellen, die unter irgendeiner der Pritschen liegen mußten und sich nicht finden lassen wollten.

»Nun, so bringe Er mich doch nur in den Turm,« rief Hubert, nun auch vor Wut außer sich, den Mann an – »ich verlange nichts Besseres, als aus der Gegenwart dieses Wahnsinnigen wegzukommen.«

Der Feldwebel mochte von einem verwandten Wunsche beseelt sein – er hörte auf zu suchen, kommandierte »Vorwärts«, und von zwei Soldaten begleitet, wurde Hubert rasch unter die Torwölbung, von dort über den Hof und links zu einer in den Vorbau führenden Seitentür gebracht, die den Eingang in Gefängnisräume bildete.


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