Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

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Neuntes Kapitel

Der Reichsvorfechter in sächsischen Landen

Hubert hatte sich am Abende des ersten Tages, den er in der Vogtei zu Elsen zugebracht, noch in hohem Grade matt und hinfällig gefühlt, trotz seines langen erquickenden Schlummers; desto frischer und gestärkter erwachte er spät am folgenden Tage; seine jugendlich kräftige Natur hatte, schien es, alle Krankheit endlich überwunden. Die stille Hausfrau, die ihn mit Speise und Trank versorgt, sah mit ihrer ruhigen Teilnahme zu, wie er sein Frühstück mit einem wahren Löwenappetit vertilgte; dann sagte er ihr, daß er aufstehen und sich anschicken wolle, seinen Wanderstab wieder zu ergreifen, um ihre Gastlichkeit nicht zu mißbrauchen. Nur wünschte er vorher Marien noch zu sprechen – sie hatte ihm nämlich mitgeteilt, Marie sei zurückgekommen, schon am gestrigen Abend.

Marie schien – das hatte er am vorgestrigen Abend zu bemerken geglaubt – Gegenstand der Neigung des jungen Mannes, der ihm über die Gartenmauer von Haus Dudenrode geholfen. Hubert mußte auch annehmen, daß er diese Hilfe nur einer Fürbitte Mariens verdanke, was allerdings für ein Einverständnis der beiden jungen Leute sprach. Dies letztere aber konnte hier nicht schwer ins Gewicht fallen. Der Neffe der Frau von Averdonk war keinesfalls ein ernstlicher Freier, der das arme Geschöpf rasch unter die Haube bringen und so vor den Nachstellungen retten konnte, welche sie bedrohten. Da aber Marie sehr schön war, da schönen jungen Mädchen gegenüber in jungen Männern der Gedanke, den Freier zu machen, sehr nahe liegt, so würde es anormal und wider die moralische Natur eines Studenten verstoßend gewesen sein, wenn Hubert Bender nicht sehr bald auf einen Ideengang gekommen wäre, der sich mit der Möglichkeit, diesen redlichen Leuten zu helfen, beschäftigte.

Dieser Gedanke hatte mehrere andere zur Folge, welche sich in nachstehender Reihe aus ihm entwickelten:

Wenn du dich mit Marie verlobtest, so würdest du sie mit dir nach Köln führen und dort in ein anständiges Bürgerhaus aufnehmen lassen, bis deine Studien nach einem oder anderthalb Jahren vollendet sind und du sie als seßhafter Arzt in irgendeinen anmutigen Winkel des deutschen Vaterlandes heimführen kannst, wo sie dir das irdische Dasein versüßt, das sonst, lediglich mit dem edeln Berufe eines ländlichen Quacksalbers ausgefüllt, jeglichen idealen Lebenselementes bar werden dürfte. Aber ... aber ... was würde Traudchen Gymnich dazu sagen? Nun, vielleicht das Beste! Hat sie dir je gezeigt, daß sie auch im entferntesten an dich denkt? Vielleicht bist du ihr sehr gleichgültig! Vielleicht würde Traudchen Marie bei sich aufnehmen, und sie würden leidenschaftliche Freundinnen werden, denn ihre Charaktere scheinen mir recht gut zueinander zu passen; Marie scheint sehr schüchtern und etwas weichherzig, Traudchen ist dafür desto entschlossener und mutiger; ja, vielleicht würde Traudchen eine große Freude haben, wenn ich ihr eine so wunderbar schöne Person als meine Braut zuführte. Aber wahrhaftig, es würde mich doch ganz grauenhaft ärgern, wenn sie sie hätte! Ich würde wütend auf sie werden ... ich würde mich an ihr vergreifen können, glaub' ich, wenn sie sich freute.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, erhob er sich und legte seine Kleider an, die ihm die Frau des Vogts sorgsam gereinigt in seine Kammer geschickt hatte.

Als er beinahe fertig war, trat er zufällig an das Fenster und warf einen Blick in den vor demselben liegenden Garten hinab. Man konnte nichts Hübscheres und Malerisches sehen als diesen Garten. Der Rückseite des Hauses entlang lief eine steinerne Balustrade, mit schönen steinernen Urnen geschmückt, von denen ein Teil freilich jetzt unten im Grase lag und die andern so verstümmelt und beschädigt waren, daß sie auf eine bedauerliche Nichtachtung künstlerischer Formen im Dorfe Elsen deuteten, während sich alle gleich moosbedeckt und verwittert zeigten. Aus der Mitte der Balustrade herab führte eine breite Steintreppe nieder, denn der Garten bedeckte den Abhang einer Hügelwand, die sich hinter dem Amtshause niedersenkte. Im Grunde unten floß ein Bach, über den eine kleine Zugbrücke in ein Gehölz führte, welches sich über die jenseitige Bodenerhebung ausdehnte. Obwohl nun Obstbäume und Taxuswände in dem Garten waren, auch wildwuchernde Ziergesträuche nicht fehlten, so hatte doch der Herbst, der sie zu entlauben begonnen, dem Auge die Möglichkeit geschaffen, bis auf den Bach da unten in der Tiefe hinabzublicken und wahrzunehmen, was an lebendiger Staffage in dem schön gelegenen und romantisch verwilderten Garten vorhanden; und eine solche war vorhanden – sie bestand aus zwei Gestalten, einer männlichen und einer weiblichen. Hubert erkannte sehr bald, daß es Franz von Ardey und Marie waren. Franz von Ardey trug einen grünen Pelzrock, Marie stand vor ihm in einem schwarzen Kleide, ohne Tuch und Mantel – eine so schlanke, liebliche Gestalt, daß der Student in diesem Augenblicke die menschenfreundlichen Gedanken, die er in seinem redlichen Herzen einen Augenblick genährt, wieder zu sich zurückkehren fühlte. Aber er sah, daß Marie – die beiden jungen Leute standen auf der kleinen Brücke unten – daß Marie ihre Hand auf die Schulter Franzens gelegt hatte, und so, wie bittend, sehr eifrig zu ihm zu sprechen schien; daß Franz jetzt ihre andere Hand erfaßte und dieselbe an seine Brust drückte; und dann ... ja, dann kam etwas, was den Studenten plötzlich über den Einfall, in diesem Hause der Erlöser aller Verwickelungen, der Glück und Ruhe bringende Wohltäter werden zu wollen, sehr beschämt erröten ließ, was ihn in einem einzigen Augenblicke zur Besinnung zurückführte, und was ihm doch einen Anflug von Ärger zuzog.

Und doch hatte er unrecht – sehr unrecht, ärgerlich zu werden. Es konnte niemand kränken; es war gar nicht denkbar, daß irgendeinem vernunftbegabten und welterfahrenen Menschen dadurch ein Ärgernis gegeben würde.

Marie und Franz nämlich sanken einander an die Brust, und nachdem Marie sich flüchtig umgesehen, wie, um sich zu vergewissern, daß sie unbelauscht sei, küßte sie ihn, und Franz küßte sie wieder.

Sie lagen eine Weile Brust an Brust; dann riß Marie sich los – und dann eilte sie den mittlern Gartenpfad hinauf; und dann blieb sie stehen und schaute nach Franz zurück, der immer noch auf der Brücke stand und ihr nachblickte; und dann eilte sie weiter, dem Hause zu, und Hubert sah nun, wie ihr hinreißend schönes Gesicht gerötet war und wie rasch sie atmete, während sie den steilen Pfad heraufgesprungen kam; und wie sie darauf noch einmal umblickte und mit den Augen Franz verfolgte, der eben jenseit des Baches in dem Gehölz verschwand und, bevor er verschwand, mit seinem Tuche ihr zuwinkte – das alles sah Hubert, und ein wenig mißvergnügt mit sich selber und ein wenig gedemütigt fuhr er jetzt in die Ärmel seines Rockes und trat in die Amtsstube ein, entschlossen, sobald als möglich seinen Rückzug aus diesem Lande, wo ihm nun einmal kein Glück zu blühen schien, anzutreten. Freilich vorher war noch eine Frage zu lösen, welche gleich brennender als unangenehmer Natur war. Er bedurfte Geld zu der Reise und er hatte nicht mehr bei sich als wenige Groschen, die er eben im Augenblicke seiner Entführung in der Börse gehabt, und ein höchst unzureichendes Stipendium, womit ihn Franz von Ardey im Augenblick seiner Flucht versehn. Er mußte also schon bei dem gestrengen Vogt selber den »armen Studenten« machen.

Der Vogt begrüßte ihn mit einem eben nicht freundlichen Kopfnicken; Schilling, der an der andern Seite des Ofens saß, sah ihn mit großen verwunderten Augen an, schien aber nach einigem Besinnen es für seine offizielle Stellung in diesem Räume passend zu finden, ihm einen Stuhl zu bringen.

»Marie hat mir von Ihnen erzählt, was sie wußte,« sagte der Vogt, »aber es war nicht viel... «

»Ich will Ihnen Rechenschaft darüber geben, wie ich hierhin gekommen bin«, antwortete Hubert und begann, seine Geschichte zu erzählen. Der Vogt wie Schilling hörten ihm aufmerksam zu; der Vogt mit einem Gesicht, in welchem sich die bloße Neugierde ausdrückte; Schillings Leichenbittergesicht dagegen verriet, daß er höchst gespannt auf die Entwicklung war.

»Und nun?« wandte sich der Vogt, als er geendet hatte, an Hubert.

»Nun,« versetzte Hubert, indem er mit einiger Beklommenheit daran dachte, daß der Augenblick da sei, auf den Punkt seiner Erzählung zurückzukommen, den er, seinem Vorsatze getreu, bereits durch sehr deutliche Winke eingeleitet hatte – den Punkt nämlich, der die Reisemittel betraf – »nun wage ich es kurz und gut, Ihnen eine Bitte auszusprechen, Herr Vogt ... Ihre Tochter hat mir einmal den Mut gemacht, mich an Sie zu wenden ...«

»Er hat eine Bitte wegen meiner Tochter, Schilling!« sagte der Vogt halblaut, indem er mit großen Augen, in denen etwas wie eine freudige Erwartung aufglimmte, sein Faktotum anschaute.

»Ich bin Ihnen so unbekannt und wildfremd,« fuhr Hubert fort, »daß ich sehr wohl fühle, wie kühn es ist, wenn ich Ihnen zumute, mir zu vertrauen ...«

Der Vogt zog aus seiner Pfeife dicke Rauchwolken, die er gegen den hohen Kachelofen ausstieß, als wolle er ihn damit umblasen und in die Luft sprengen; Schilling aber nickte dem Studenten mit einer süßsauren Miene zu, als wolle er sagen: »Nur zu – du bist im rechten Fahrwasser!«

»Es ist aber eine Sache von großer Wichtigkeit für mich, und da ich Ihnen über meine Verhältnisse alle Auskunft gegeben habe ...«

Der Vogt qualmte fürchterlich, und jetzt Hubert zugewendet und ihn wie eben den Ofen in eine Wolke hüllend, sagte er: »Also mit der Marie haben Sie geredet, und sie hat Sie an mich gewiesen?«

»Wie ich Ihnen erzählte; hat sie es Ihnen nicht selbst gesagt ...« »Es kommt darauf an,« versetzte der Vogt, »ob Sie sich hier als Arzt niederlassen wollen, wenn Sie Ihre Studien gemacht haben?«

»Hier? hier im Lande?« antwortete Hubert überrascht, und den Zusammenhang nicht fassend.

»Nun ja ... dann habe ich nichts dagegen. In die Fremde laß ich das Kind nicht ziehen. Ein Arzt findet hier recht gut sein Brot. Wollen Sie mir das versprechen, und sind Sie sonst ein ordentlicher, fleißiger Mensch, so können Sie sie bekommen ...«

»Sie reden von Ihrer Tochter, von Marie ...«

»Nun freilich – von wem sonst?«

Huberts Augen drückten so viel Verwunderung aus, wie es nur möglich ist, durch Blicke an den Tag zu legen. Die Wendung, welche das Gespräch genommen, war ihm so unerwartet, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. Am wenigsten fiel ihm ein, rasch eine offene Berichtigung des Mißverständnisses auszusprechen und den ehrlichen Vogt dadurch einer tiefen Beschämung auszusetzen.

Schilling, der Amtsdiener aber, der sehr scharf in Huberts Zügen gelesen hatte, beugte sich unterdes weit mit seinem langen Oberkörper zu seinem Vorgesetzten hinüber, und mit einem wahrhaft spitzbübischen Ausdruck von List und Spott flüsterte er ihm ins Ohr:

»Er will die Marie gar nicht – er wollte Ihnen bloß Geld abborgen.«

»Geld abborgen? – mir? ... Geld? Schilling, ist er toll?« antwortete der Vogt ebenso leise, aber höchst überrascht. Das hatte er nicht voraussetzen können.

Die stumme und verlegene Pause, welche im nächsten Augenblick eingetreten war, wurde durch den Eintritt der stillen Hausfrau unterbrochen. Sie stand einen Augenblick und schaute auf die Männer; und da sie wahrzunehmen glaubte, daß sie diese drei jetzt gleich tief schweigenden Gestalten nicht störe, so schritt sie weiter durch die lange Amtsstube; aber indem sie an Hubert vorüberging, gab sie ihm einen Wink, ihr zu folgen, und dann verschwand sie in der Tür von Huberts Schlafzimmer. Dieser stand rasch auf, der Unterbrechung, die ihm Zeit sich zu besinnen gewährte, froh, und eilte ihr in das Gastzimmerchen nach. Hier fand er die Vogtin mit einem Papier in der Hand dastehend, das sie ihm, nachdem sie sorgfältig die Tür geschlossen, darreichte. Es war ein alter vergilbter Brief.

»Ich weiß nicht, ob ich recht tue, es Ihnen zu geben«, sagte sie, indem sie sich auf das Fußende des Bettes niedersetzte und die Hände im Schoße faltete. »Es hat niemand auf Erden je etwas davon erfahren. Aber es ist eine Stimme in mir, die sagt: Gib es ihm! Du mußt es ihm geben, daß er es erfährt! Es ist jetzt alles eins, was die Welt dazu sagt!«

Hubert öffnete und überflog den Brief. Er war unterschrieben: Christoph Bender. Sein Inhalt sprach von Schmerz und Herzenskummer und viel von Entsagung und Christenpflicht und dem Himmel. Es waren Stoßseufzer eines Mannes, der gezwungen ist, auf Lebens- und Liebesglück zu verzichten. Hubert fand es sehr rührend, sehr herzbrechend und sehr unorthographisch geschrieben; je weiter er las, desto mehr ergriffen ihn diese einfachen Klagen eines redlichen, still duldenden und in Verlassenheit verkümmernden Mannes von ungewöhnlicher Weiche des Gemüts. Höchlichst überrascht aber wurde der Student, als er an die folgende Stelle kam:

»Meine Ehre und Reputation vor den Menschen habe ich jetzo auch unnützlich in die Schanze geschlagen. Ich habe ein fremdes Kind zum Auferziehen angenohmen, welches mir im Geheim ein Herr von Walrave durch unsern Herrn Pastohr hat übergeben lassen, nebst Versprechung einer ansehnlichen Pension jährlichen zu Maria-Verkündigung und Michaeli zu bezahlen, wofür der Herr Pastohr caviret. Die Leute glauben nun alle, es sei mein Kind. Hab ihm ja freilich auch meinen Namen zu führen erlaubnüß versprechen müßen. Bedachte mich nicht lange, dieweil ich calculirte, daß die Pension mich in den Stand setzen würde, einen Hausstand mit meiner vieltausendmal geliebten Liesabeth zu gründen. Nun ist alles umsonsten, weil die grausamen Aeltern meine Liesabeth an einen Andern, an einen Mann in festem Brodt und Stand dahingegeben haben ...« Hubert sah betroffen die Frau an. Sie saß regungslos da, die Augen auf den Boden geheftet, die Hände im Schoß.

»Es ist ein Geheimnis – sagen Sie ja niemand etwas davon und geben Sie mir den Brief zurück«, flüsterte sie jetzt.

»Der Brief bleibt mein!« sagte Hubert, »begreifen Sie denn nicht, daß das hier etwas wie ein Geburts- oder Taufzeugnis für mich ist?«

»O nein, den Brief muß ich zurückhaben – niemand auf Erden darf den Brief sehen!« erwiderte sie erschrocken.

»Es tut mir leid, daß ich Ihren Wunsch nicht erfüllen kann; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß er nicht mißbraucht werden wird – aber sagen Sie mir, haben Sie sonst je etwas von diesem Walrave gehört ... auf den mein geheimnisvoller Stammbaum zurückzugehen scheint?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe den Namen wohl sonst vernommen«, sagte sie. »Ich glaube, es war kein guter Mann; es kam vor vielen Jahren solch ein Herr hier im Lande ums Leben, und die Menschen sagten, es sei gut, daß er tot sei. Aber nun geben Sie mir den Brief zurück!« setzte sie flehend hinzu.

Hubert steckte den Brief zu sich. »Es mag unrecht sein,« sagte er, »daß ich mich weigere, ja, es ist unrecht – aber Sie müssen mir dieses Unrecht verzeihen; ich werde den Brief behalten.«

Sie brach in Tränen aus, die arme Frau. Ihr ganzes Herz, schien es, hing an dem Briefe. Aber sie machte weiter keine Versuche.

So saß sie still weinend da; Hubert streckte ihr gerührt die Hand hin, wie um seinen Frieden mit ihr zu machen und ihre Verzeihung für sein eigenmächtiges Handeln zu erhalten – sie schien die Bewegung seines Armes nicht zu bemerken, wenigstens nahm sie die dargebotene Hand nicht. Da wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich von einem großen Geräusch in der vordern Stube, in dem vogteilichen Amtslokal, abgezogen – sporenklirrende Schritte, helle Stimmen wurden dort laut, es mußte dort etwas Ungewöhnliches vorgehen, und während die stille Frau erschrocken aufhorchte, öffnete Hubert neugierig rasch die Tür und trat auf die Schwelle.

Seinen Augen zeigte sich zunächst eine höchst merkwürdige und auffallende Figur, welcher in diesem Augenblicke der Vogt in demütigster Haltung, sein Käppchen in der Hand, den eigenen alten Ledersessel neben den Ofen schob, worauf der Fremde sich niederließ und bequem ausstreckte, die beiden in arg beschmutzte Klappenstiefel mit großen silbernen Sporen steckenden Beine weit auseinander streckend, die Arme über der Brust verschlingend.

Es war ein gar stattlicher Herr, wie er so in gebieterischer Haltung dasaß. Mit bedeutendem Leibesumfang hatte ihn die gütige Natur versehen und mit einem schönen breiten Stierkopf, der um so mehr geeignet war, einen tiefen Eindruck zu hinterlassen, als die dunkelrote Farbe desselben einen eigentümlichen Kontrast bildete mit den buschigen starken und offenbar schwarzgefärbten Brauen und mit den blauen, flach liegenden, unstät bewegten großen Augen. Heftigkeit und noch mehr Härte sprachen aus diesem ganzen Angesicht; und doch mußte dasselbe einmal mit einem Gegenstande zusammengetroffen sein, der ihm an Härte um vieles noch überlegen gewesen war; durch irgendeinen unglücklichen Fall oder durch einen Stoß war nämlich das Nasenbein in der Mitte zerschlagen und plattgedrückt – ein Umstand, der weit mehr dazu diente, das Charakteristische als Schönheit dieses Gesichts zu erhöhen. Der Mund zeigte dicke aufgeworfene Lippen; und wenn die Umgebung dieser Lippen auch nicht ganz ohne einen Zug war, der eine gewisse derbe und mürrische Gutmütigkeit verriet, so waren sie doch keineswegs geeignet, das zu ersetzen, was dem Übrigen an der gewöhnlichen Wohlgestalt eines ordinären Menschengesichts abging.

In Summa – es hätte diesem seltsam ausdrucksvollen Kopfe nur ein recht struppiges, nach allen Seiten der Windrose auseinanderfahrendes langes und pechschwarzes Haar gefehlt, um die ganze Erscheinung irgendeiner noch unbekannten Waldteufelrasse zuzurechnen, der Fremde trug aber weder schwarzes noch wirres und unkultiviertes Haar, sondern eine Perücke, aufs sauberste geglättet, pomadisiert und gepudert; und seines Zeichens und Standes war er niemand Anderes und niemand Geringeres als unseres Vogtes Amts- und Landesherr, Seine Erlaucht, von Gottes Gnaden Philipp III., zubenannt der Tolle, des Heiligen Römischen Reiches Graf zu Ruppenstein, Edler Herr zu Brunskappel, desselben Heiligen Römischen Reiches Vorfechter in sächsischen Landen und Erbpanier des hohen Erzstifts Köln.

Gewandet hatten Ihre Erlaucht sich in ein dunkelgrünes, mit schmalen Goldborten umsäumtes, für ihre ansehnliche Leibesgestalt nachgerade zu knapp werdendes Leibröcklein, eine mächtige und höchst majestätisch ausgerundete Weste von gelbem Stoff, und silbergraue Kniehosen; und auf dem Haupte trugen sie ein dreieckiges Hütlein mit Galon und Federgarnitur, so ihren ausdrucksvollen und Ehrfurcht gebietenden Zügen recht vorteilhaft zu Gesichte stund.

Einen hochgewachsenen Mann in mittleren Jahren und in Militärtracht sah Hubert in einiger Entfernung im Hintergrunde stehen; durch das Fenster konnte er ein paar Reitknechte wahrnehmen, welche ihre und ihrer Herrschaft Pferde auf dem Kirchhofe vor dem Vogteigebäude spazieren führten und die Tiere nach Herzenslust die Gräber zertreten und die Blumen fressen ließen, welche hier und da eine dieser Ruhestätten der Dorfbewohner schmückten.

Die ersten Worte, womit Seine Erlaucht ihren Besuch bei dem Vogt eingeleitet, waren Hubert entgangen. Als der Student eintrat, fixierte ihn der Gewaltige und fragte, mit der Reitpeitsche, die er in der Hand hielt, auf ihn deutend: »Wer ist das?«

»Ein armer Student aus Köln, dem ich ein Nachtquartier gegeben habe, Erlaucht«, antwortete der Vogt.

»Ein Student ... so? Was braucht Er für solche Leute Herberge zu halten, Vogt? Hernächst heißt's, das Gehalt langt nicht. Auf die Art langt's freilich nicht! Der Bursche sieht ja aus, als ob er krank wäre ... komm' Er einmal näher, Er!«

Und dabei winkten Seine Erlaucht Hubert gebieterisch heran und geruhten, als der Student ihnen näher trat, gnädigst hinzuzusetzen: »Teufel, ja ... wie ein von Motten zerfressener Pelzhandschuh sieht er aus – was fehlt Ihm – das kalte Fieber?«

Hubert hatte einige Augenblicke nötig, um sich in das Wesen dieses Mannes und die Art, wie er ihn behandelte, zu finden; da er aber, ohne lange zu fragen, aus allem schließen konnte, daß er vor dem souveränen Gebieter und Landesherr stehe, so fügte er sich in das Los, für eine Zeitlang der Gegenstand der gräflichen Herablassung zu werden, und antwortete ruhig:

»Ich litt allerdings an einem Fieber, aber an keinem Wechselfieber, sondern ...«

»Tut nichts, tut nichts, Fieber ist Fieber, komm' Er noch näher und knie Er da hin.«

Damit wies der Fürst auf eine Stelle zwischen seinen beiden ausgestreckten Beinen dicht vor sich am Boden, und da er dabei mit einer höchst gebieterischen Bewegung der Hand, in welcher er seine große Reitpeitsche hielt, auf diese Stelle deutete – so antwortete Hubert halb verlegen und betroffen lächelnd, halb errötend von beginnendem Zorn:

»Sie halten mich wohl nicht zufällig für einen hoffnungsvollen jungen Hühnerhund, der nur noch etwas Nachhilfe in der Dressur bedarf?«

»Knie Er dahin, sag' ich Ihm!« schrie der Graf, dunkelrot werdend.

Der in der Entfernung stehende Mann in Militärtracht, der Adjutant des Grafen, sprang herbei, faßte Hubert an der Schulter, und indem er ihm zuflüsterte:

»Gehorche Er, gehorche Er, man will Sein Bestes!« drückte er ihn vor dem Gebieter in die Knie nieder.

Graf Philipp hatte unterdes seinen Handschuh abgezogen und seine Reitpeitsche dem Vogt zu halten gegeben. Er streckte jetzt mit großer Grandezza seine Rechte aus und legte sie auf des Studenten Haupt. Hubert fühlte, daß, während die übrige Hand schwer und wuchtig auf seinem Schädel liegen blieb, der kleine Finger derselben ohne Aufhören die Bewegung des Kreuzes darauf machte.

Graf Philipp murmelte nun eine Minute lang unverständliche Worte zwischen den Zähnen; dann stemmte er seine Faust auf seinen Schenkel und sagte:

»Steh' Er nur auf jetzt. Jetzt ist Er kuriert! ... Er glaubt's nicht, he?«

»In der Tat, Erlaucht, ich glaube es nicht. Ich glaube überhaupt nicht an sympathetische Kuren.«

»So ... Er glaubt nicht an sympathetische Kuren? Wer sagt Ihm, daß es Sympathie ist? He? Es ist der Graf von Ruppenstein, der Ihn durch Händeauflegen kuriert. Die von Ruppenstein heilen durch Händeauflegen.«

»Wie die Könige von Frankreich mit ihrem: Roi te touche. Dieu te guérisse (der König berührt dich – möge Gott dich heilen)?« fragte Hubert mit einer Ironie, auf welche Graf Philipp viel zu wenig zu stoßen gewohnt war, als daß er sie bemerkt hätte.

»Weiß Er das? Ja, so ist es. Es ist brav, daß Er was Tüchtiges gelernt hat. – Hat Er kein Zahnweh?«

»Ich bedauere, daß ich nicht damit aufwarten kann ...«

»Vogt,« fuhr der Graf fort, »Sein Weib hat zuweilen Zahnweh; hat sie jetzt keins?«

»Seit Erlaucht sie das letzte Mal kuriert haben, hat sie nie wieder davon etwas verspürt.«

»Sieht Er wohl«, wandte sich der Graf an Hubert. »Wie lange ist es her, Vogt?«

»Mögen bereits drei bis vier Jährlein sein, hochgräfliche Erlaucht.«

»Sieht Er wohl?« rief der Graf abermals aus. »Und wie ist es mit Seinem langen Amtsdiener, dem Groschen oder Schilling, oder wie heißt der Mensch, der immer Zahnweh hat ...? Komm' Er einmal her. Er Storchbein!«

Schilling trat aus dem Winkel hinter dem Kachelofen, wo er sich bis jetzt möglichst unsichtbar gemacht hatte, vor, mit einer kläglichen Miene, die nicht in dem leisesten Zuge den Schalk, der sich dahinter versteckte, verriet; und indem er mit seinen langen behaarten Fingern ohne Unterlaß über die untere Kinnlade fuhr, sagte er: »Erlaucht, hier sitzt es – hier, es ist ganz erschrecklich ...«

»Hinknien!« geruhten Seine Erlaucht zu befehlen. Schilling kniete an derselben Stelle, von der Hubert sich eben erhoben hatte.

»Mund auf!« fuhr der Graf fort.

Schilling öffnete mit Hast wie eine weite Flügeltür den Zugang zum verborgenen Innern seines physiologischen Systems. Der Graf fuhr mit dem Zeigefinger hinein und machte sich damit an den Zähnen zu schaffen, auf welche Schilling gedeutet hatte. Dieser stieß dabei tiefe, tiefe Seufzer aus, wie die eines Menschen, der eben erleichtert aufatmet beim allmählichen Verschwinden eines unleidlichen Schmerzes.

Der Graf murmelte unterdes seinen mysteriösen Spruch; als er fertig war, sagte er:

»Er spürt's schon – das tut Ihm gut, nicht wahr? Nun geh' Er, bleiben Ihm in Gnaden gewogen.«

»Ich bin wie im Himmel!« sagte Schilling und ging zu seinem alten Platz zurück, »wie im Himmel!«

Wie im Himmel, sagte Schilling. Es war ein kühner Vergleich; er war zu kühn. Denn gesetzt auch, Schilling hätte, was wir bezweifeln dürfen, vorher einen ganz entsetzlichen Schmerz an seinen Zähnen empfunden und ihn schwinden gefühlt, so konnte doch nur eine ganz überschwengliche und krankhaft gereizte Phantasie sich in dieser Amtsstube und dem Antlitze Philipp III. von Ruppenstein gegenüber in den Himmel träumen.

Der Graf zog seinen Handschuh wieder an. »Vogt,« sagte er, »was wir Ihm sagen wollten, wir haben mißfällig bemerkt, daß die Pöngelder und Brüchten aus Seiner Vogtei mit jedem Jahre geringer werden. In den Kameralregistern figuriert die Vogtei Elsen immer mit dem geringsten Item. Wie kommt das? Will Er mir weismachen, daß das Volk in Seiner Vogtei weniger Kontraventionen mache und etwa redlicher sei als in den andern? Larifari! Was tu' ich mit der Redlichkeit! Er paßt dem Volke nicht auf die Finger! Wie ist's mit den Scortengeldern? Seit zwei Jahren ist aus Seiner Vogtei kein Scortengeld mehr eingelaufen. Wie kommt das? Kann Er sich dawider verdefendieren?«

»Wir haben, Gott sei Dank, seitdem keine Gefallene mehr in unsern Gemeinden gehabt, hochgräfliche Erlaucht, keine einzige«, antwortete der Vogt schüchtern.

»Keine Gefallene? In fünf Dörfern? Seit zwei Jahren? Wahrhaftig, es sollte mir leid tun! Ist Er ein Kind, Vogt, oder glaubt Er, ich sei eins? Weiß Er was, wir werden der Renitenz wider diese Abgabe ein Ende machen; wir werden Ihm mit nächstem ein Dekret zufertigen lassen, daß Er von nun an das Scortengeld jährlich ohne Ausnahme von jedem Hause in Seiner Vogtei zu erheben hat!«

»Das ist allerdings der sicherste Modus!« sagte der Vogt nach einer Pause, deren er bedurfte, um sich über diese erstaunliche Idee zu fassen.

Schilling rieb sich mit boshaftem Lächeln im Hintergrunde die Hände. Er dachte an die Widerspenstigkeit der Bauern und die Not des Vogts mit ihnen, wenn Seiner Erlaucht geniale Maßregel wider Schuldige wie Unschuldige zur Ausführung kommen würde.

»Hat Er etwas dawider?« fragte Philipp III.

»Euer Erlaucht sind der Herr!«

Die Erlaucht nickte mit dem Jupiterhaupt.

»Und nun wollen wir uns erheben und heimreiten«, fuhr der Graf und Reichsvorfechter in sächsischen Landen fort. »Apropos, Seine Tochter ist ja jetzt zurück, wie ich von Frau von Averdonk höre. Laß Er sie jetzt ihren Hofdienst bei uns antreten, wie ich schon lange befohlen habe. Ich will's, daß es jetzt einmal dazu kommt. Versteht Er mich? Bis Samstag abend muß sie da sein!«

»Erlaucht verzeihen,« stammelte der Vogt erblassend, »ich, ich ... Euer hochgräfliche Erlaucht werden zu Gnaden halten –«

»Nun, was hat Er? Er wird meinen Befehlen nicht widersprechen wollen?« rief Philipp III. zornig aus. »Will Er etwa neue Regeln und Ordnungen hier im Lande einführen?«

Der Vogt stammelte niedergeschmettert etwas von einer andern Bestimmung für seine Tochter.

»Andere Bestimmung – Larifari – was geht mich ihre Bestimmung an! Will Er ein böses Beispiel im Lande geben, Vogt, und zeigen, daß man meinen landesherrlichen Befehlen nicht zu obtemperieren braucht? Will Er ein Ärgernis geben? Will Er mir meine Untertanen demoralisieren? Kein Wort weiter! Er weiß: was ich befohlen habe, das geschieht auch; wenn's sein muß, mit Gewalt. Weiß Er was: ich werde eine Hofkutsche herüberschicken am Samstag. Richte Er sich danach.«

Hubert hatte bis jetzt dieser Szene in schweigender Zurückgezogenheit zugeschaut und zugehört. Im Anfange hatte ihn das Wesen und Gebaren dieses Landesvaters höchst betroffen und stutzig gemacht, dann mit einer gewissen Heiterkeit erfüllt, jetzt aber, wo er den Vogt völlig hilf- und ratlos dastehen sah, trat er mit seiner ganzen jugendlichen Keckheit vor, und aus innerer Empörung über und über rot, sagte er: »Die Hofkutsche, Erlaucht, können Sie sich sparen – das junge Mädchen wenigstens wird keinen Gebrauch davon machen.«

Der Graf wandte sich. Er war bereits auf dem Wege zur Tür; aber bei diesem kecken Widerspruche blieb er stehen, fixierte eine Weile mit großen Augen den Studenten, und dann kehrte er zu seinem Stuhle zurück, auf den er sich wieder niederließ, als ob er das wunderbare und ganz neue Schauspiel eines Menschen, der ihm kühn ins Gesicht zu widersprechen wage, in völliger Gemächlichkeit und bequemer Ruhe genießen wolle. Endlich sagte er barsch: »Was hat Er hier zu reden? Was weiß Er davon? Was geht Ihn die Sache an? He? Antworte Er!«

»Was mich die Sache angeht, Erlaucht?« entgegnete Hubert, dem funkelnden Auge Philipp III. mit freiem Blicke mutig begegnend; »nun, sie geht mich an, denn« – Hubert fühlte, daß er mit bloßen Redensarten hier keinen Sieg erfechten werde, daß er sich mit einer schlagenden Tatsache waffnen müsse, kurz, daß ihm nichts übrig bleibe, als auszurufen: »Nehmen Sie an, sie sei meine Braut – ich hätte mich um Marie Stahl beworben, der Vogt sie mir zugesagt – es kann dann für sie keine Rede mehr davon sein, ein Jahr lang an Ihrem Hofe in einen Dienst zu treten!«

»Was?« sprudelte der Graf hervor, »das sind mir ja ganz neue Dinge! Seit wann verloben sich unsere Beamtentöchter ohne unsern landesväterlichen Konsens? He, Vogt,« wandte er sich an diesen, »seit wann? Will Er das etwa neu einführen? Er Jakobiner, Er – ihm soll ja das Wetter auf den Kopf fahren – und der Musje, den Er sich da angeschafft hat, um unserer landesherrlichen Würde und Gewalt eine Nase zu drehen, das ist auch wohl so ein Kujon, so ein Nichtsnutz, der bei den Sansculotten drüben in die Schule gegangen ist und das Revolutionieren gelernt hat – aber ich will Euch beibringen, Gott und sein Gebot ehren und Euerm Herrn untertänig sein!«

Und nachdem er diese Drohung hervorgesprudelt, tobte Philipp III. noch eine den Styx an dunkler Höllenschwärze übertreffende Flut von Verwünschungen aus, während er seine schwere Reitpeitsche in der drohend erhobenen Faust schüttelte.

»Wenn der Vogt Sie nach den Landesgesetzen um den Konsens bitten muß,« erwiderte Hubert fest, aber aus dem Bereich der gräflichen Reitpeitsche sich zurückziehend, »so wird er diesen Konsens einholen. An der Sache ändert das aber nichts. Ich werde das junge Mädchen zu vertreten und zu schützen wissen!«

»Ich gebe den Konsens nicht, ich gebe den Konsens nicht!« schrie der Graf in steigender Wut.

»So werde ich das Mädchen ohne Konsens heiraten und dann mein Hausrecht zu wahren wissen!«

»Was ... Er ... das ist Rebellion, offene Rebellion – – Schilling, Amtsdiener, verhafte Er diesen Menschen da ... schließe Er ihn krumm – Wrechten,« wandte sich Philipp der Tolle dann an den ruhig und beinahe wie teilnahmslos in der Entfernung stehenden Adjutanten – »Wrechten, es ist Rebellion ... es ist Majestätsfrevel – werfe Er sich aufs Pferd, Wrechten, hole Er ein halb Dutzend von meinen Kammerhusaren her – bei Gott im Himmel ...«

Der Adjutant entfernte sich rasch. Philipps weitere Befehle wurden aber unterbrochen durch eine Erscheinung, die so plötzlich und unbeachtet dicht vor ihn getreten war, daß sie etwas von dem Überraschenden einer Geistererscheinung hatte; wie ein Geist stand sie in der Tat vor ihm – eine große, todesernste, totenblasse weibliche Gestalt, in weißem Morgengewand, mit großen blauen Augen ihn anstarrend, ihre lange magere Hand auf seinen Arm legend. Nur die zitternde Lippe verriet ihre innere Bewegung; aus ihrem Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen; aber dieses marmorbleiche, marmorkalte Gesicht war schön und Ehrfurcht gebietend wie das eines zürnenden Engels. Es war vollkommen jetzt das Gesicht Mariens, das erkannte Hubert in diesem Augenblicke, aber es war das Gesicht Mariens in einem eigentümlich verklärten Abglanze.

»Halt, Graf Philipp,« sagte die Frau, in ihrem leisen Tone, »ich habe viel, viel geduldet in diesem Hause und habe es geschehen lassen, weil ich es nicht ändern konnte; aber eins will ich nicht dulden unter meinem Dache, und das ist, daß Gott darin gelästert werde. Sie rufen Gott an ... Sie ... das ist Lästerung. Ich will Sie nicht reden hören von Gott! Was Sie tun und reden, das ist vom Bösen. Es stehen die bösen Teufel hinter Ihnen, die Teufel des Zorns der Gewalt, der Hoffart und der Fleischeslust. Und weil Sie nur die bösen Geister hören und niemand, der Ihnen die Wahrheit sagt, so will ich sie Ihnen sagen. Denn ich fürchte mich nicht vor Ihnen, weil ich das Leben nicht liebe und den Tod nicht scheue. Lassen Sie mich auf einen wilden Hirsch binden, wie Sie's einmal dem armen Zigeuner getan haben, weil er seiner Leibesnahrung nachging und seinen Hunger stillen wollte an Ihrem Wild – ich sage Ihnen doch die Wahrheit. Sie sind ein böser Mensch und ein grausamer Herr. Gott hat Ihnen Land und Leute gegeben, auf daß Sie sorgen dafür und einst davon Rechenschaft ablegen, wie Sie Gottesfurcht und Gottes Ehre darunter gemehrt haben; denn es steht geschrieben: Sehet zu, was Ihr tut, denn Ihr haltet das Gericht nicht den Menschen, sondern dem Herrn...«

Der Graf war aufgesprungen bei der unerwarteten Erscheinung, die er anfangs stier angestarrt hatte ... jetzt wich er, wie sich vor ihr fürchtend, langsam einen Schritt nach dem andern vor ihr zurück – sie aber folgte ihm, die Hand drohend gegen ihn ausstreckend, wie eine mahnende, strafende Prophetin.

»Sie können die, deren Herr Sie sind,« fuhr sie in demselben leisen Tone fort, »in den Tod treiben, wie Sie mein Kind in den Tod treiben wollen – aber Sie sind nicht unsterblicher als wir alle, und Gott wird nicht warten bis zum jüngsten Tage, Sie zu strafen. Der Herr wird wider Sie sprechen, was er gesprochen hat wider Pharao: Siehe, ich will an dich, du König in Ägypten, du großer Drache, der du in deinem Wasser liegest und sprichst: Der Strom ist mein, und ich habe ihn mir gemacht! So wird er auch Sie vor seinen Richterstuhl rufen; jede Stunde kann der Tod Ihre Stirn berühren, kann der Schlag Sie treffen inmitten Ihrer Lüste, dann werden Sie vor dem stehen, den Sie auf Erden durch Ihr Leben gelästert haben, als der Schlechtesten einer unter den Schlechten!«

Der Graf und Reichsvorfechter war bei den letzten Worten der Frau aschfahl im Gesicht geworden. Wenn irgendein Wort in der Welt geeignet war, auf ihn einen niederschmetternden Eindruck zu machen, so war es das Wort: »der Schlag«. Am Schlage waren seine glorreichen Väter seit drei Generationen gestorben. Vor dem Schlage zitterte das Mark in seinen Gebeinen. Selbst seine Ärzte wagten nicht, das Wort vor ihm auszusprechen.

»Dies ist eine schreckliche Verschwörung«, sagte er deshalb kleinlaut und gedemütigt, sich immer mehr zurückziehend. »Diese Frau ermordet mich, Wrechten. Führen Sie mich fort, wo sind Sie, Wrechten? führen Sie mich fort«, und dabei machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand, und die Worte stammelnd: »Die Frau ist mein Tod!« nahm er, rückwärts gehend, das verglaste Auge auf die zürnende Mahnerin geheftet, seinen Rückzug aus der Amtsstube und sofort spornstreichs aus dem Hause.

Als er fort war, als er draußen, von seinen Leuten mühsam geschoben, glücklich im Sattel saß und an den Gräbern, die rechts und links an seinem Wege lagen, entlang, hinter den Strebepfeilern der Kirche verschwand – da sank die Flamme der Erregung, die in der armen Frau aufgelodert war, zusammen. Ein Strom von Tränen quoll über ihre Wangen. Sie hörte, sie bemerkte gar nicht, daß endlich der zu Tode erschrockene Vogt sich von seinem nicht zu beschreibenden Entsetzen, das ihn bis jetzt hatte starr dastehen lassen, erholte und die vom Schreck versiegelten Lippen öffnete, um einen Strom von Klagen, Vorwürfen, Verwünschungen über sie zu ergießen, einen Strom, der mit dem aus tiefster Seele hervorbrechenden Jammerruf endete: »Nein, die Frau ist zu dumm!«

»Ich fürchte, das kostet uns allen hier den Hals!« sagte Schilling und zeigte seine Leichenbittermiene von tödlicher Blässe bedeckt.

Auch Hubert hatte während des Vorigen wie von Überraschung an den Boden gefesselt gestanden; jetzt aber war er längst auf die Frau zugeeilt, in die Knie war er vor ihr gefallen, und so drückte er ihre beiden Hände stürmisch an seine Lippen, während er ausrief: »Weinen Sie nicht, weinen Sie doch nicht – es war groß, es war heldenmütig von Ihnen – Sie sind ja wie eine Heilige – Sie haben wie der Engel mit dem feurigen Schwert den Feind in die Flucht geschlagen, Sie haben uns alle gerettet!«


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