Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Der Reichsfreiherr von Averdonk und sein Schloß Dudenrode

Die Mitteilung, welche Dr. Heukeshoven dem Professor Bracht und Traudchen Gymnich auf ihrem Wege zu dem Wappenmaler gemacht, war in ihrem ganzen Umfange richtig gewesen. Hubert Bender hatte einen völlig erschöpfenden Blutverlust aus einer zerrissenen Halsvene erlitten und da ihn gleich anfangs der Sturz mit dem Hinterhaupte auf die steinerne Treppenstufe betäubt gemacht, so war es für seine Verfolger in dem geheimnisvollen Hause, den einäugigen Capitaine des chasses und den Menschen in schwarzer Dienertracht, nicht schwer gewesen, ihn wie willenlos aufzunehmen und die Stiegen hinaufzutragen, wo man ihn zum Bewußtsein zurückzurufen gesucht. Was jedoch mit ihm geschehen, wie man nachher ihn durch die schmale Hintergasse weggeführt, in deren Bereich Traudchen Gymnich am andern Morgen ihre spähenden Blicke gesandt hatte, dessen entsann Hubert sich später fast gar nicht mehr; er hatte sich, als er seine Besinnung wiederfand, in einem Wagen liegen gefühlt, der ihn bald in einen schweren beängstigenden Halbschlummer schaukelte – in einen sonderbaren Zustand, in welchem er sich wach und bei Besinnung wußte und dennoch träumte, und zwar schreckliche und seltsame Träume, die ihn so befangen hielten, daß er gar nicht dazu kam, sich über seine Lage Rechenschaft zu geben. Endlich hatten ihn heftige Schmerzen am Halse aus diesem Taumel erweckt; er hatte nun wahrgenommen, wie er in einem großen, rings verschlossenen Reisewagen lag, auf dem Vordersitz ausgestreckt und ziemlich bequem und warm gebettet, denn sein Haupt ruhte auf einer weichen Unterlage, eine wollene Decke war über ihn gebreitet.

Bei ihm im Wagen war nur eine Person, eine Frauengestalt, die im Fond ruhte, das Haupt zurückgelehnt, als ob sie schliefe. Es war dieselbe, die er am Abend zuvor belauscht, die er Gebharde hatte nennen hören.

Hubert machte diese Beobachtungen bei dem dämmernden Lichte der Sterne. Bei demselben Lichte sah er auch, daß der Wagen sich durch eine bergige Gegend fortbewege; rechts und links war der nächtliche Horizont durch waldige Höhen geschlossen.

Hubert war sich sehr wohl bewußt, daß er gegen seinen Willen wie ein Gefangener fortgebracht werde. Aber dennoch stieg der Gedanke, sich zu widersetzen, dem Zwange zu entfliehen, nicht in ihm auf. Er fühlte sich zu krank dazu. Er lag in heftigem Fieber; sein Kopf fiel schwer und dumpf zurück, wenn er ihn erhob; sein Hals schmerzte ihn unerträglich; wenn er die Augen schloß, tanzte wie ein scheußliches Schreckbild eine dämonische Fratze vor ihm, ein großer, schwarzer Kopf mit wutverzerrten Mienen, der bald der eines einäugigen Menschen, bald der eines zähnefletschenden Hundes und bald beides zugleich war; und das letztere war dann weitaus das Greulichste.

Es wurde Dämmerung, es wurde rosig hell über den Gipfeln der fernen Berge, es wurde Tag. Der Wagen hatte einmal während der Nacht gehalten; man hatte frische Pferde vorgelegt; als die Sonne über die Bergrücken im Osten emporstieg, wurde noch einmal gewechselt, und dann bewegte sich der Wagen, schwer und langsam wie früher, fortwährend heftig gestoßen, in den unergründlich schlechten Wegen weiter.

Wenn Hubert seine Augen öffnete, was jetzt oft geschah, da das Rütteln des Wagens jedesmal seine Schmerzen erhöhte, und ihn hinderte, sich dem dumpfen Fortträumen hinzugeben, das immer aufs neue über ihn kommen wollte – sah er die Blicke der Dame ihm gegenüber auf sich gerichtet: es waren Blicke aus eigentümlichen, stahlblauen und stahlscharfen Augen, die von keinen Wimpern beschattet waren und mit einem Ausdruck auf dem Kranken ruhten, in welchem ebensowenig wie in den scharf ausgeprägten Zügen ihres Angesichts irgendeine erkennbare Regung oder eine bestimmte Sprache lag; weder Zorn oder Drohung, noch Mitleid oder Wohlwollen. Sie blickte auf den kranken Studenten gerade so, wie sie, die Augen von ihm erhebend, durch die Scheiben des Wagens über ihm fortblickte, um das allmähliche Höhersteigen der Sonne zu beobachten..

Nur einmal, als er bei den Schmerzen, die ein heftiges Stoßen des Wagens ihm erregte, zu stöhnen begann, sagte sie: »Geduld – hab' Er Geduld. Wenn wir angekommen sind, wird Er gute Pflege und ärztlichen Beistand erhalten.«

Hubert war nicht in der Lage, etwas zu antworten. Die Stunden vergingen; man wechselte endlich wieder die Pferde; es mußte bald Mittag sein. Die Dame verließ den Wagen nicht; sie führte einige Erfrischungen darin bei sich. Die Sonne, die heute mild und klar schien, senkte sich; es ging gegen Abend; man kam in immer höhere Berggegenden hinein. Da, gegen das Einbrechen der Dämmerung, nahm Hubert wahr, daß der Wagen über eine hölzerne Brücke rollte, dann durch einen Torbogen und nun über einen gepflasterten Hof; und dann hielt er vor einem hohen dunkeln Gebäude still. Der Schlag wurde geöffnet, und die Dame stieg aus. Draußen sagte sie einige Worte zu Leuten, welche sie dort in Empfang genommen haben mußten, und alsbald wurde der Schlag wieder geschlossen, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Hubert bemerkte, daß man über den Hof zurück und linkshin nach einem Gebäudeflügel fuhr, bis man abermals hielt, abermals den Schlag öffnete und nun ein Mann einstieg, der den Kranken bei den Schultern anfaßte, während draußen ein anderer seine Füße ergriff; so wurde er aus dem Wagen gehoben und über einen kleinen, dunkeln, von hohen Tannen beschatteten Platz getragen, welcher, durch die Giebelseite eines Flügelbaues und eine im rechten Winkel daranstoßende hohe Gartenmauer gebildet wurde. Hubert fühlte sich in das Innere dieses Flügelbaues getragen, über Gänge, Treppen, Korridore, durch größere und kleinere Gemächer – endlich auf ein Bett gelegt, und dann fing man an, ihn zu entkleiden.

Er war durch die entsetzlich lange Fahrt bis aufs äußerste erschöpft, deshalb verlor er, während alles dies mit ihm vorgenommen wurde, den Rest von halbem Bewußtsein, der ihm noch geblieben war, und fühlte nichts mehr von dem, was man weiter mit ihm begann.

Er wußte auch nicht, wie lange dieser Zustand gedauert hatte, als er wieder zum Bewußtsein erwachte. Nachdem er seine Sinne gesammelt und sich allmählich Rechenschaft darüber gegeben hatte, was mit ihm vorgegangen und wie er in seine gegenwärtige Lage geraten, begann er seine Umgebung zu mustern. Er sah sich in einem großen Gemache, das Fenster nach zwei Seiten hatte; an der einen Seite blickte ein beinahe schon kahler, seines rotgelben Laubes fast schon beraubter Bergwald durch die beiden Fenster in das Gemach. Das Bett, in welchem Hubert lag, stand mit dem Kopfende an der diesen Fenstern gegenüber befindlichen Wand, so daß man rechts und links an das Bett herantreten konnte. Es hatte einen Himmel und Vorhänge von verschossenem Baumwollenzeug, das mit großen roten Blumen auf braunem Grunde bedeckt war. Die Fenster dagegen waren ohne Vorhänge, und die Decke des Gemachs ruhte ohne weitern Verputz als einen Kalkanstrich auf massivem, ganz überflüssig dickem Gebälk. Die Wände waren mit dunkeln braunen Ledertapeten, die sich im Laufe der Jahre von ihrem Rahmen losgespannt hatten und in Falten und Bäuchen herabhingen, überzogen, und ihre dunkle Farbe trug dazu bei, dem ganzen Räume etwas sehr Düsteres und Unfreundliches zu geben, das noch dadurch erhöht war, daß man die Fenster in der Wand zur Linken des, Bettes mit Läden verschlossen hatte. Rechts befand sich ein Kamin, dessen Öffnung jedoch mit einem Brett verschlossen war; ein davorgestellter Kachelofen diente zur Erwärmung des Zimmers.

Ein lebendes Wesen fand Hubert, als er diese Beobachtungen machte, nicht in dem Raume. Er war völlig allein, Wenn er einen häßlichen alten Mann mit einem schweren Harnisch und einem roten darübergeworfenen Mantel nicht als Gesellschaft betrachten wollte, der in Lebensgröße sehr schlecht gemalt über dem Kamin hing. Es kam auch niemand – er vernahm auch draußen kein Geräusch – es war so still ringsumher wie in einem verzauberten Schlosse. Daß man ihn jedoch nicht ohne Wartung und Pflege ließ, sah Hubert an den Gegenständen, welche den Nachttisch neben seinem Bette bedeckten. Hier waren Medizinflaschen, Kompressen und Salbentöpfe in erklecklicher Anzahl aufgestellt;... er durfte keinen Augenblick daran zweifeln, daß irgendein ihm unbekannter Kunstgenosse des Doktors Heukeshoven seine Experimente mit ihm machte. Und da augenscheinlich auch etwas wie eine Apotheke in der Nachbarschaft sein mußte, so war damit wenigstens eine tröstlichere Beruhigung, daß Hubert sich in einem zivilisierten Lande befinde, gegeben, als sie einst der reisende Voltaire empfand, wie er einen Galgen erblickte.

Hubert Bender lag lange, wie er glaubte, wohl stundenlang, ohne daß er jemand kommen hörte. Endlich – das abnehmende Licht kündigte bereits den nahenden Abend an – wurde draußen ein sacht auftretender Schritt vernehmbar; die Tür am obern Ende des Raumes öffnete sich leise, und ein Mann in schwarzer Kleidung mit gepuderter Perücke trat herein und näherte sich dem Bette.

Hubert erkannte in ihm den einen der drei Menschen, welche er in dem geheimnisvollen alten Hause erblickt hatte, den Diener, der zu den zwei andern hereingetreten war.

Als der Mann mit der Perücke sein breites und glattes Gesicht, aus dem ein paar stechende und unheimliche kleine Augen hervorleuchteten, über den Kranken beugte und diesen hell wach fand, sagte er:

»Ah ... sind wir endlich ruhig geworden? Sind wir endlich besser? Zwei Tage haben Sie nichts getan als phantasieren.«

»Ich sehe ein, daß dies sehr sträflich von mir war!« bemerkte Hubert. Der sanfte Krankenwärter reichte ihm einen Löffel voll bitter und widrig schmeckender Medizin, den Hubert, während der andere ihm das Haupt stützte, geduldig hinunterschluckte.

»Wünschen Sie nun noch etwas?« fragte der Mann darauf.

Wünschen ... ob Hubert etwas wünschte! Es war eine grausame Frage, gestellt an einen hilflosen Kranken in seiner Lage, von einem Manne, der eben im Begriff stand, eilig wieder das Zimmer zu verlassen ... freilich wünschte Hubert Bender etwas, und vor allen Dingen zuerst Aufklärung über sein Schicksal; und dann wünschte er – aber bevor er sich noch besonnen, wie zu beginnen, war der Mann allbereits verschwunden; nur die Worte: »In einer Stunde wird der Doktor kommen,« sprach er noch, während er fortging, und dann warf er ziemlich laut die Tür hinter sich zu.

Es wurde dunkler und dunkler; die Minuten, die Viertelstunden verrannen, und Hubert fühlte sich unsäglich schwach, mutlos und gebrochen. Er wartete und wartete auf den Doktor, aber der Doktor kam nicht; aus der einen Stunde, von der sein Krankenwärter gesprochen, schienen ihm mindestens drei geworden. Es ward vollständig dunkle Nacht; niemand brachte ihm Licht; draußen vor seinen Fenstern begann eine Eule zu heulen; erst leise in längern Zwischenräumen, dann immer lauter und lauter, als ob sie gleich einem heranschreitenden Verderben immer näher komme, bis sie ganz dicht neben dem Schloßflügel in einem der alten Tannenbäume sitzen mußte, und nun ein entsetzliches Jammergeheul erhob. Zu Huberts weiterer Unterhaltung knusperten und pfiffen Mäuse unter seinem Bette ... es schien eine erkleckliche Anzahl davon vorhanden, und zuweilen trieben sie ihren straflosen Übermut so weit, daß sie an den Bettvorhängen oder Pfosten in die Höhe liefen und über Huberts Decke den Schauplatz ihrer heitern Spiele ausdehnten.

Es war eine trübselige Lage, in welcher unser armer Student sich befand, und ganz gewiß würde er darüber in Verzweiflung geraten sein, wenn er nur die Kraft gehabt hätte, zu verzweifeln. Endlich, endlich ... Hubert glaubte, es müsse acht oder neun Uhr sein ... ließen sich draußen wieder Schritte vernehmen, und zwar lautere, raschere Schritte als vorher; ein Lichtschimmer drang durch die Spalten der alten Tür, gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und der schwarzgekleidete Mann von vorhin trat ein, eine brennende Talgkerze auf einem gewundenen Silberleuchter in der Hand. Hinter ihm kam ein kleiner, schmächtiger Mann mit dünnem Zopf, gekleidet in einen braunen Frack mit großen übersponnenen Knöpfen und schmalem, stehendem Kragen, in eine überaus lange grüne Weste und in schwarzstoffene Kniehosen.

»Da ist der Doktor«, sagte der andere, indem er das Licht ohne weiteres schonungslos dem Gesichte Huberts nahe brachte.

»Sagen Sie mir, Herr Doktor,« sagte Hubert, während ihm der Arzt schweigend den Puls fühlte, »wo bin ich hier ... ich weiß weder, wo ...«

»Sie dürfen sich mit solchen Fragen nicht aufregen, mein lieber Herr«, antwortete der Doktor mit einem herablassenden Lächeln. »Sie müssen erst zu Kräften kommen, dann werden Sie es schon erfahren. Man hat Sie in sehr hilflosem Zustande gefunden und aus Mitleid hierher gebracht, um Sie zu pflegen. Halten Sie sich deshalb ganz ruhig und still ...«

»Aber wie soll ich ruhig ...«

»Sie dürfen nur die notwendigsten Worte reden, mehr nicht. Sie müssen vor allem die Halsorgane schonen. Ich verlasse Sie jetzt und komme morgen in der Frühe wieder.«

»Lassen Sie mir wenigstens Licht hier.«

»Herr Baptist wird Ihnen Licht lassen; er wird Ihnen zu essen bringen und dann das Nachtlicht anzünden. Aber suchen Sie zu schlafen. Mit der Medizin fahren wir fort, Baptist. Wenn er zu trinken verlangt, so geben Sie Limonade. Und nun gute Nacht, junger Freund. Seien Sie ohne Unruhe, man sorgt für Sie.«

Damit nickte der kleine Doktor seinem Patienten einen stillfreundlichen Gruß zu und verließ mit sachten Schritten das Zimmer. Baptist begleitete ihn mit dem Lichte hinaus und leuchtete ihm. Hubert war wieder allein und in der schrecklichen Dunkelheit; aber nach etwa einer Viertelstunde kam Baptist zurück und brachte auf einer Platte ein wenig eingemachtes Obst, Brot, Zwieback und eine Karaffe mit Limonade. Nachdem er Hubert behilflich gewesen, von den Erfrischungen zu nehmen, und als dieser über die Mäuse klagte, ging Baptist in seiner Humanität sogar so weit, ihm zu versprechen, daß er eine Katze holen wolle, um dem Übel gründlich abzuhelfen; und in der Tat brachte er nach einiger Zeit ein großes, dämonisch aussehendes Individuum dieser nützlichen Tierrasse, mit grünfunkelnden Augen und höchst martialischem Schnurrbart, dessen Anblick für Hubert etwas außerordentlich Beruhigendes hatte.

Und dann, nachdem er ein Nachtlicht entzündet, ging Baptist. Und Hubert lag wieder einsam mit gebrochener Kraft, ein Mensch, der in den Händen ihm unbekannter, feindseliger Mächte war, welche eigenwillig über sein Schicksal zu bestimmen sich anmaßten; er lag verlassen von aller Welt, von jedem seiner Mitgeschöpfe da, denn er hatte nicht eins auf dieser weiten Welt, nicht ein einziges Wesen, an das er denken konnte mit einem ermutigenden, Zuversicht und Vertrauen einflößenden Gedanken. Er hatte nur Freunde unter leichtsinnigen Studenten; Bekannte nur unter Professoren von sehr gründlicher, aber in vorliegendem Falle sehr wenig zweckentsprechender Gelehrsamkeit, und unter Bürgersleuten, die gewiß nicht geneigt waren, sich in fremde Händel zu mischen. Es war niemand unter ihnen allen, der ihm beistehen, der Nachforschungen nach ihm anstellen und ihn verteidigen würde wider Unrecht und Gewalt; sicherlich war Professor Bracht nicht der Mann, seinetwegen eine kriegerische Expedition in ein rauhes Bergland zu unternehmen; noch war Frau Zappes so unternehmender Natur, um Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, bis man ihr ihren Studenten herausgegeben. Und Verwandte, Menschen, die das gemeinsame Blut aufrief zu seiner Verteidigung ... Hubert hatte sie nicht, kannte sie nicht. Er hatte seit vielen Jahren verwaist allein gestanden in der Welt. Ein Geistlicher, der Pfarrer seines Heimatdorfes, sandte ihm die Mittel zu seinen Studien, und, wie er annehmen mußte, zum Teil aus Beiträgen wohlhabender Gemeindemitglieder.

Ein Wesen freilich war auf Erden, von dem er daß Gefühl hatte, daß es sich um ihn grämen und härmen werde ... aber dieses Wesen war ein schwaches, hilfloses Weib – es war Traudchen Gymnich. Sie sicherlich war nicht imstande, ihm irgendeinen Beistand zu leisten; und dennoch war ihr Bild das, was von allen Dingen, womit er sich beschäftigt, ihn allein mit einer gewissen Zuversicht erfüllte, ihm allein wie ein Trost war.

Und dazu kam etwas, das Hubert in glücklichster Weise Hilfe leistete, um endlich nach einigen Stunden Wachens wieder in einen tiefen und kräftigenden Schlummer fallen zu können. Dies war eine unverhofft eintretende völlige Stille. Der Uhu schien sich besonnen zu haben, daß sein entsetzliches Klagelied über die Nacht, das erbärmliche Menschenschicksal, den Tod, oder was er sonst alles bejammern mochte, nichts helfe, um es besser zu machen. Und was die Mäuse anging, so erfüllte der schnurrbärtige Kater in ausgezeichneter Weise seine zivilisatorische Mission unter ihnen. Es war wirklich merkwürdig, mit welchem tiefen Respekt die gesamte zahlreiche kleine Bevölkerung des weiten Gemachs die Anwesenheit dieses kriegerischen Individuums aufnahm; so laut und lustig ihre harmlosen Spiele früher gewesen, sie waren jetzt tot und erstorben, und nur ein paarmal deutete ein leiser Sprung und ein tiefer Kehllaut des Katers an, daß er ein vorwitzig aus der von der Natur ihm angewiesenen Sphäre der Verborgenheit hervorgedrungenes Subjekt beim Kragen ergriffen habe und daß durch summarische Exekution der Gerechtigkeit Genüge geschehen.

Hubert Bender schlief bis tief in den Morgen hinein. Und dann sah er den liebreichen Herrn Baptist eintreten, um ihm Medizin zu reichen und seinen erwachenden Appetit durch Nahrungsmittel, wie sie der Arzt erlaubt, zu befriedigen. Und dann kam der Arzt selber und zeigte sich erfreut über seines Patienten Fortschritte in der Genesung. Und so verging der erste Tag, und ähnlich vergingen der zweite und der dritte: und Huberts Kräfte wuchsen, und die Klarheit seiner Gedanken wuchs, und sein Mut und seine Entschlossenheit kehrte zurück; aber weder der Arzt noch Baptist erwiderte seine immer dringender werdenden Fragen mit andern Antworten als sie am ersten Tage gehabt.

Am dritten Tage hatte ihm der Arzt erlaubt, aufzustehen und eine Stunde außerhalb des Bettes zu verweilen, nachdem Baptist dazu Feuer in dem Kachelofen gemacht haben werde. Hubert nahm diese Erlaubnis lächelnd auf – er hatte sich bereits am Nachmittage vorher selbst die Erlaubnis genommen, aufzustehen und in seine Decken gehüllt an den Fenstern entlang zu schwanken, um von ihnen aus zu erkunden, wo in der Welt er sich befinde. Er hatte auf einer Seite ein Stück von einem gepflasterten Hofe wahrgenommen, dann ein langes Ökonomiegebäude mit einem viereckigen Turm in der Mitte, durch welchen eine große gewölbte Durchfahrt führte; links füllte eine Mauer den Raum zwischen diesem Bauwerk und dem Gebäudeflügel, in welchem Hubert sich befand, und aus dessen an der Giebelseite angebrachten Fenstern erblickte er die verfallene Front eines alten, dem Ruin überlassenen Speichergebäudes. Jenseit des Ökonomiegebäudes mit dem Durchfahrtturm erblickte der Student eine Berghöhe, bis zur Mitte mit Ackerländereien bedeckt, oben mit Laubholz bestanden; in das Tal hinabzusehen verhinderte ihn das lange rote Dach des Gebäudes; aber es war offenbar, daß ein Tal da unten sein müsse, vielleicht eine von einem Gewässer durchrauschte Schlucht. An der andern Seite des Zimmers waren die Fenster durch Läden geschlossen, aber Hubert nahm durch die Spalten derselben so viel wahr, daß sich unten ein Garten befinde, jenseit desselben eine hohe Mauer, und jenseit dieser, nach einem Zwischenraume, der ebenfalls auf das Vorhandensein eines Tales deutete, wieder Berghöhen. Die Fenster lagen zwei Stockwerke hoch über dem Boden.

So viel war gewiß, Hubert befand sich in einem aus mehreren Teilen bestehenden großen Baue, der auf einer isolierten Berghöhe zu liegen schien.

Zu derselben Zeit, als der Arzt dem Rekonvaleszenten erlaubt hatte aufzustehen, hatte er ihm täglich ein paar Gläser alten Weins und kräftigere Speisen verordnet; und Hubert fand sich am Abend dieses Tages davon so gestärkt, daß er bereits Fluchtpläne zu entwerfen begann. Zunächst beschloß er, sich in den Besitz eines Messers zu setzen – wenn Baptist ihm wieder Speisen bringe, wollte er das Messer zurückbehalten und irgendwo verbergen. Nach der Hofseite hinaus zu fliehen, schien nicht rätlich – aber sich in den Garten hinabzulassen, das konnte nicht unausführbar sein; es mußte nur einer der Läden vor den Fenstern der Gartenseite erbrochen werden. Diese Gedanken ließen ihn heute später einschlafen. Als er endlich in Schlummer gefallen, wurde er nach einiger Zeit wieder erweckt – wie er glaubte durch den Schlag der Uhr in dem nahen Torturme, auf den er in den letzten Tagen zu achten gelernt hatte; sie schlug zwölf grell nachhallende Schläge durch die Nacht. Als er die Augen öffnete, fiel ihm auf, daß das Zimmer erhellt war ... in der vorigen Nacht hatte Baptist für gut gefunden, ihm das Nachtlicht als überflüssig zu entziehen – hatte er es heute nachträglich gebracht? Hubert schlug den Bettvorhang zurück, hob den Kopf, um sich davon zu vergewissern, und – fuhr plötzlich erschrocken zurück.

Der Anblick, der sich ihm dargeboten, als er in dem dämmerig erleuchteten Räume die Augen umhergeworfen, war allerdings höchst überraschender Art.

Baptist hatte keineswegs ein Nachtlicht angezündet. Das Licht, welches das Zimmer erhellte, kam, ohne daß die Quelle desselben wahrzunehmen gewesen wäre, lediglich hinter einer ganz eigentümlichen Gestalt her, die hoch aufgerichtet, leise mit dem Kopfe nickend, in einem der altfränkischen schwarzen Rohrsessel vor dem hohen Kachelofen saß.

Die Gestalt war die eines himmellangen, magern Mannes in rotgeblümtem Schlafrock und mit einer hohen Zipfelmütze auf dem Haupte. Er saß kerzengerade aufrecht vor dem Ofen, die Arme auf die beiden Seitenlehnen des Sessels stützend; und das Licht, welches Hubert diese Gestalt in allen Umrissen sichtbar, so deutlich sichtbar wie seine eigene Hand machte, umfloß dieselbe, zeichnete sie klar und scharf gegen die hinter ihr liegende dunkle Wand ab, und dann verdämmerte es allmählich abnehmend in dem weiten Räume. Nachdem Hubert eine Weile vor Überraschung seinen Atem stocken gefühlt, dann die Augen geschlossen, dann sie wieder geöffnet und nun aufs neue ganz dieselbe Erscheinung wahrgenommen hatte, sagte er, sich leise auf seinen Arm stützend, halblaut zu sich selbst: Entweder bin ich in meine Phantasien zurückgefallen, oder dies ist wirklich ein Gespenst, das sich durch meine Anwesenheit nicht abhalten lassen will, seine spukhaften Ansprüche an diese wüste alte Kammer geltend zu machen.

Während Hubert dies sagte, bewegte sich das Gespenst plötzlich, beugte sich zu der Ofentür hinab, öffnete dieselbe, und dann schob es einige mächtige Scheite hinein; Hubert hörte das Prasseln des Feuers; das Gespenst hatte offenbar schon länger sich damit beschäftigt, die am Abend vernachlässigte Flamme neu zu beleben.

Ein Gespenst, welches einen Ofen heizt, verliert aber, wie nicht in Zweifel gezogen werden kann, viel von seiner Furchtbarkeit; auch Hubert fühlte sich bei diesem Anblick um vieles beruhigter, hob sich höher in seinem Bett auf und räusperte sich, wie um die Anwesenheit noch eines zweiten lebenden Wesens in diesem Räume anzudeuten.

»Ist man wach?« sagte jetzt das Gespenst mit einer eigentümlich hohen, fast weibisch lautenden Diskantstimme, während es sich ganz wie früher wieder steif in dem Sessel aufrichtete.

Hubert säumte nicht zu antworten. Es war kein Grund da, einem Gespenst, welches in anständiger Weise eine Frage stellte und dadurch andeutete, daß es eine vielleicht sehr belehrend werdende Unterhaltung wünschte, nicht freundlich zu antworten.

»Man ist wach!« erwiderte der Student.

Das Gespenst erhob sich: es band den Gürtel seines Schlafrockes fester um seine unglaublich dünne Taille; es beugte sich nieder, um einen Leuchter mit brennender Kerze aufzunehmen, der hinter ihm auf dem Boden gestanden und den eigentümlichen Lichteffekt hervorgebracht hatte, als ob das Licht die Gestalt umfließe; und dann kam das Gespenst auf das Bett Huberts zugeschritten, und die himmellange, dünne Gestalt mit dem langen Gesicht, den eingefallenen Wangen, dem weißen, sehr vernachlässigten Stoppelbart, der dräuend nickenden weißen Zipfelmütze, beugte sich über den Kranken und leuchtete ihm ins Gesicht, während ein Paar erstaunlich großer runder Augen in seine Züge spähte.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte Hubert jetzt, dem etwas von seiner früheren Beklommenheit zurückkehrte, bei diesem kuriosen Betragen des Mannes ... obwohl er sich eingestehen mußte, daß es mit dem gewöhnlichen Betragen von Gespenstern in ganz beruhigender Übereinstimmung war.

Das Gespenst stellte sein Licht auf den Nachttisch zu Häupten des Bettes, rückte den Sessel, der zu den Füßen desselben stand, näher heran, und nachdem es bequem darin Platz genommen, zog es ein Spiel Karten aus der Tasche seines Schlafrocks und sagte: »Spielen Sie Karten?«

»Allerdings ... wenn ich weiß ...«

»Rabuge?«

»Auch Rabuge, wenn ich weiß, mit wem ich die Ehre habe zu spielen ...«

»Mit wem? Kennen Sie mich nicht?«

Hubert schüttelte den Kopf.

»Ich bin der Reichsfreiherr Lactantius von Averdonk zu Dudenrode.«

»Der Reichsfreiherr Lactantius von Averdonk zu Dudenrode?« wiederholte Hubert, dem wieder auf einen Augenblick zumute war, als phantasiere oder träume er.

»Aber,« sagte er dann, »wenn Sie die Frage nicht übelnehmen, ich darf doch voraussetzen ...«

»Nun was?«

»Daß Sie diesem unserm Säculo und nicht etwa einem etwas weiter hinter uns liegenden ...«

»Ich weiß nicht, was Sie sagen wollen,« bemerkte der Mann, als Hubert nicht fortfuhr, sondern ihn nur verwundert anstarrte, »ich bin der Freiherr von Averdonk.« »Sind Sie denn,« fuhr Hubert nun fort, »sind Sie denn der Herr dieses alten Eulennestes von Kastell, worin man mich gefangen hält?«

Der Freiherr Lactantius legte die Karten auf das Bett Huberts, fixierte den Studenten eine Weile und dann sagte er:

»Allerdings bin ich der Herr in meinem Schloß Dudenrode. Aber weshalb sagen Sie: gefangen hält? Man hält Sie nicht gefangen, man verpflegt Sie nur, weil Sie krank sind.«

»So, hat man mich etwa nicht gegen meinen Willen hierher geschleppt?«

Der Reichsfreiherr Lactantius von Averdonk schaute auf den Studenten mit Blicken, welche nichts anderes zu sagen schienen als: Dieser junge Mensch ist allem Anscheine nach wahnsinnig!

Augenscheinlich ist dieses lange Gespenst verrückt! dachte unterdes der Student, während er den Ausdruck der großen vortretenden wasserblauen Augen beobachtete, die auf sein Gesicht starrten.

»Sie waren wider Ihren Willen hierher geschleppt, wie Sie sich ausdrücken?« Hub der Freiherr nach einer Pause wieder an.

»Nun, sicherlich! Wie wäre ich sonst hier?«

»Aber weshalb, zu welchem Ende sollte ...«

»Das möchte ich eben von Ihnen wissen, der Sie sagen, daß Sie der Herr hier im Hause sind!«

»Ja so!« sagte der Freiherr, indem er mit der Fläche seiner großen magern Hand über sein Gesicht fuhr. »Aber«, fuhr er fort, »bleiben wir bei der Sache stehen. Sagen Sie mir erst, wo hat man Sie denn eigentlich aufgefunden?«

»Nun, in Köln.«

»In Köln? ..., also nicht in einem Graben am Wege, wo Sie krank niedergesunken waren?«

»In Köln, sage ich Ihnen, in dem verwünschten alten Hause, wo man mich erst durch eine infame Bestie von Hund hetzte und halb ermorden ließ ...« Die Augen des Freiherrn, Lactantius von Averdonk wurden während dieser Worte immer größer. »Fahren Sie fort, fahren Sie fort!« sagte er jetzt mit augenscheinlich großer Spannung.

Hubert Bender fuhr jedoch nicht fort. Schweigend beobachtete er das Gesicht des alten Mannes, und die unverkennbaren Symptome, daß dieser gerade ebenso gespannt auf seine, Huberts, Geschichte war, wie er, der Student selber, auf eine Aufklärung über seine Umgebung und seine Lage, entgingen ihm keineswegs.

Hubert Bender beschloß augenblicklich, aus diesem Umstände Vorteil zu ziehen.

»Mein gnädiger Reichsfreiherr,« sagte ei, »ich meine, es wäre zunächst an mir, Aufklärung über die Behandlung, die ich erfahren habe, zu verlangen. Beantworten Sie zunächst mir einige Fragen, dann will ich Ihnen erzählen.«

»Ich Ihnen Fragen beantworten? Nein, nein, nein, das ist meine Sache nicht«, versetzte der Reichsfreiherr wie erschrocken. »Was wollen Sie von mir erfahren? Ich weiß nichts, gar nichts!«

»Man bringt Ihnen Menschen ins Haus, die man wie Gefangene hält, und Sie wissen nichts davon? Sie, der Herr im Hause?«

»Ja, sehen Sie,« erwiderte der alte Mann, und dabei flog ein eigentümliches, halb wehmütiges, halb verschmitztes Lächeln über seine Züge, »das hat seine besonderen Gründe; ich habe alle meine Zeit wissenschaftlichen und sehr tiefgehenden Studien gewidmet, und um dabei ungestört zu bleiben von allen Lappalien des Hauswesens, überlasse ich die gänzlich meiner Frau. Ein Gelehrter darf sich um die Haushaltungsangelegenheiten nicht kümmern ... das begreifen Sie ... meine liebe Frau nimmt mir alle Sorgen in dieser Beziehung ab ...«

»Und das ist eine Haushaltungsangelegenheit, eine Lappalie des Hauswesens, wenn man einen Menschen behandelt, wie man mich ...«

»Nun ja, wissen Sie,« fiel der Reichsfreiherr ein, »ich rechne dahin alles, was so im täglichen Leben vorkommt? die Aufsicht über das Gesinde, das Justizwesen, das Einsperren der Knechte und Bauern in den Spanischen Kragen, wenn sie faul oder frech werden, die Abstrafung der Vagabunden... meine teuere Frau besorgt das alles.«

»Eine vortreffliche Frau!« rief Hubert Bender aus. »Aber sagen Sie mir, verehrter Reichsfreiherr, wenn Sie sich um nichts, was im Hause vorgeht, kümmern, weshalb kamen Sie denn zu mir, und das um diese nicht gerade gewöhnliche Stunde?«

»Nun, ich war des Studierens müde geworden bei meinen großen Büchern. Es fiel mir ein, daß ich ja einmal nach dem kranken Fremden schauen könnte. Ich liebe sehr, so dann und wann zu meiner Erholung ein Spielchen zu machen; und da ich dachte, daß Ihnen auch die Zeit lang werden könnte, so kam ich durch die verborgene Tapetentür dort, zu der ich den Schlüssel habe, ohne daß meine Frau und Baptist...« der Freiherr unterbrach sich und endete den Satz mit den nicht ganz logisch sich anschließenden Worten: »Ja wohl! Aber«, fuhr er fort, wie ist es mit dem Spiele?«

»Nun, ich bin bereit dazu, ich habe ja zum Schlafen den lieben langen Tag!«

»Rabuge?«

»Rabuge, wenn es sein muß.«

Der Reichsfreiherr zog ein winziges linnenes Beutelchen hervor, löste den Bindfaden, mit dem es oben umwunden war, und kramte mit seinen knöchernen Fingern in einer mitleidswürdig kleinen Summe von allerlei Pfennig-, Albus- und Groschenstücken hemm.

»Ich habe kein Geld!« sagte der Student.

Der Freiherr machte ein Gesicht, als ob ihn dieser Umstand sehr unangenehm überrasche.

»Kein Geld?« fragte er, indem er sein Beutelchen hastig zurückzog und die Mundwinkel verdrießlich hangen ließ, »auch nicht einige Groschen?«

»Geben wir unser Spiel darum nicht auf«, fuhr der Student fort, ohne die Frage, welche er mit gutem Gewissen nicht ganz verneinen konnte, zu beantworten. »Spielen wir um etwas anderes als Geld.«

»Um was?«

»Um unsere Geheimnisse!«

»Das soll heißen?«

»Wer von uns gewinnt, soll jedesmal dem andern eine Frage vorlegen dürfen, und der Verlierende beantwortet sie ihm genau der Wahrheit gemäß, auf sein Ehrenwort.«

Der Reichsfreiherr Lactantius lächelte; er schien eine Weile zu schwanken, ob er den Vorschlag annehmen solle oder nicht. »Ich denke,« bemerkte Hubert, »unser beiderseitiges Vermögen hält sich bei einem solchen Spiele ungefähr die Wage. Das, was Sie von mir erfahren möchten, scheint mir nicht viel geringer als das, was ich brenne, von Ihnen zu erfahren.«

»Nun meinethalb!« sagte der Freiherr, indem er die Karten nahm und sie mischte, »um Fragen also statt um Geld...«

»Und um ehrliche Antworten!«

»Das versteht sich«, erwiderte der Freiherr.

Beide begannen zu spielen. Anfangs war der Freiherr Lactantius in auffallendem Vorteil. Bei dem Buben hörte sein Glück auf.

»Hier ist der Bube, hier die Dame und hier der König«, sagte Hubert; »der erste Stich ist mein – ich darf die erste Frage stellen!«

»Fragen Sie!« versetzte der Freiherr, die Arme über der Brust ineinander schlingend und sich lang in seinem Sessel ausstreckend.

»In welchem Verhältnisse steht Ihre Frau – Gebharde heißt sie – zu dem einäugigen »Capitaine des chasses?«

»Capitaine des chasses? Wer ist der einäugige Capitaine des chasses« fiel Lactantius von Averdonk ein.

»Sie vergessen, daß Sie zu antworten haben!«

»Wenn ich keine Antwort geben kann?« »Dann stelle ich eine zweite Frage. Sie sind mir eine Antwort schuldig! Ich frage so lange, bis ich eine erhalten habe.«

»Zugestanden. Also?«

»Wer ist ›der Tolle‹«?«

Hubert bereute im nächsten Augenblicke, nachdem er diese Frage gestellt, sie getan zu haben. Der Tolle ist dieser Reichsfreiherr Lactantius am Ende selber, sagte er sich – und er wird jetzt zornig darüber werden.

Aber der Freiherr war keineswegs zornig. Mit dem verschmitzten Lächeln, welches zuweilen über sein Gesicht flog, antwortete er: »»Der Tolle« ist ein vertraulicher Ausdruck, mit welchem man, ohne seinen ausgezeichneten Qualitäten nur im mindesten zu nahe treten zu wollen, Seine Erlaucht den Herrn Grafen von Ruppenstein, unsern Gebietsnachbar, bezeichnet.«

»Und weshalb heißt er »der Tolle«?«

»Halt, junger Mann,« sagte der Freiherr, seinen spukhaften Kopf schüttelnd, »man hat sich mit einer Antwort zu begnügen!«

»Nun, wohl; so spielen wir weiter. Ich habe hier ein Aß und lege einen neuen Stich an.«

»Und hier sind zwei und drei«, versetzte der Freiherr, indem er zwei Karten auf das Aß legte.

»Hier ist die Vier«, fiel Hubert ein; »Sie haben die Fünf nicht – sie ist hier!«

Und in dieser Weise wurde das sehr einfache Spiel fortgesetzt, bis der Reichsfreiherr triumphierend ausrief: »Der König!« und mit dem König den Stich vollständig machte, so daß er dadurch gewann.

»Jetzt fragen Sie, verehrtester Reichsfreiherr!« rief der Student; »die Antwort soll Ihnen augenblicklich prompt und bar ausgezahlt werden.«

»Was für ein Haus ist das, von welchem Sie sprachen, in welchem man einen Hund auf Sie hetzte und sich Ihrer bemächtigte?«

»Das will ich Ihnen genau beschreiben, gnädiger Reichsfreiherr Lacantius von Averdonk«, antwortete der Student, den das Spiel aufzuregen anfing und dem, je mehr er die Harmlosigkeit seines Partners zu erkennen glaubte, desto mehr seine ganze Lage im Lichte eines gewissen Humors zu erscheinen begann. »Kennen Sie den Georgsplatz oder ›Driesch‹ in der landesüblichen Ausdrucksweise, gelegen in der heiligen Stadt Köln am Rhein?«

Der Freiherr fuhr mit der Hand über die Stirn, wie um sich zu besinnen, dann sagte er: »Ich glaube nicht, daß ich ihn finden würde, wenn ich einmal wieder hinkäme; aber mir ist, als hätte ich schon früher gehört, daß wir ein Haus in Köln besitzen.«

»Nun wohl, wenn es, wie nicht zu zweifeln, dieses Haus ist, so gratuliere ich Ihnen zu diesem schönen Besitz; es ist gar nicht möglich, daß sich in irgendeiner Stadt der Christenheit ein wüsterer, unheimlicherer, spukhafterer alter Kasten von einem Hause finde. Er ist seit Jahren verschlossen, niemand betritt ihn, und niemand hat eine Ahnung, wem er gehört...«

»Wie kamen Sie denn hinein?« fragte der Reichsfreiherr von Averdonk.

»Durch eine Hintertür; ohne Ahnung, daß ich meine Neugier so schwer büßen würde ...«

»Und Sie fanden ...«

»In einem obern Gemache, behaglich an einem Kaminfeuer ruhend, fand ich eine Dame dort, des Namens Gebharde, und ihr gegenüber einen schauderhaft aussehenden Räuberhauptmann aus den Abruzzen oder vom Hunsrück, wenn Sie wollen, aus dessen Gespräch hervorging, daß er Capitaine des chasses bei irgendeinem französischen Prinzen oder Großen – der Name ist mir entfallen – gewesen sei.«

»Sie lauschten also?«

»Ich lauschte.«

»Und man entdeckte Sie?«

»Und fing mich, wie einen flüchtigen Neger, mit einem Bluthund ein. Dann schleppte man mich in einem geschlossenen Wagen hierher; mir gegenüber saß in diesem Wagen dieselbe Dame Gebharde ... aber ich beantworte Ihnen statt einer Frage ein halbes Dutzend, das ist gegen den Vertrag.«

»Und mir sagte sie, daß sie in Köln ihre kranke Cousine, die Stiftsdame im Kapitol, besuchen wolle, und daß sie auf der Rückreise diesen Menschen krank und wund im Graben am Wege gefunden habe!«

Diese Worte sprach der Reichsfreiherr nicht laut aus, er murmelte sie vor sich hin, während er mit seinen großen Kirchenfensteraugen den Studenten anstarrte; der Student aber schwieg, da er sah, daß der Alte, in Gedanken versunken, ihm nicht mehr zuhörte.

Der Reichsfreiherr nahm nach einer Weile die Karten wieder auf und sagte: »Spielen wir jetzt weiter.« »Ja, fahren wir fort; hoffentlich kommt die Reihe zu fragen jetzt an mich.«

Das Spiel begann wieder; der Freiherr wurde wieder vom Glück begünstigt... Hubert Bender stieg der Verdacht auf, daß der Alte ihn betrüge, so auffallend war dessen Glück ... am Ende hatte Lactantius den Stich.

»Ich frage«, sagte er.

»Und ich muß antworten«, versetzte Hubert.

»Wer sind Sie eigentlich?«

»Wer ich bin? Ein Student der Medizin im dritten Semester; rite immatrikuliert auf der Hochschule zu Köln.«

»So, so; aber damit ist meine Frage nicht erschöpfend beantwortet; wie heißen Sie, woher sind Sie?«

»Sie sollen vollständige Auskunft haben. Ich bin der Sohn eines Chirurgus, der in einem großen Dorfe, in einer menschenarmen Gebirgsgegend an dem obern Teile der Ruhr wohnte. Ich muß wenigstens annehmen, daß ich sein Sohn bin, obwohl mir nie in seinem kleinen Hause eine Spur aufgestoßen ist, daß dieser brave und gutmütige Mann jemals etwas wie eine Frau besessen; neben welchen Umstand als zweiter Gegenstand nachdenklicher Überlegung für mich der tritt, daß der gute Gregorius, wie ihn unser Dorf nannte, mir niemals eigentlich väterliche Gefühle bewies, sondern mich wild und roh unter den barfüßigen Buben aufwachsen ließ. Ich will ihm nichts Übles nachreden; er war ein guter, weichherziger redlicher Mann, und vielleicht glaubte er, daß sein Beispiel hinreichen würde, mich zum Fleiße, zur Schonung meiner Beinkleider und zu allen übrigen Tugenden anzuleiten; aber gewiß ist, daß etwas strengere Aufsicht mir nicht geschadet haben würde. Als ich nun ein ziemlich wilder Taugenichts geworden, ließ mein Vater sich eines Tages verleiten, bei keiner dringendern Veranlassung als dem Beinbruch eines Bauern in Sturm und Regen stundenweit über die Berge zu gehen, um sich auf diese mühsame Weise von so weit her eine Erkältung zu holen, aus der bald eine tödliche Krankheit wurde, an welcher der arme Gregorius Todes verblich. So jung, kindisch und roh ich war, machte doch dieses Ereignis einen tiefen Eindruck auf mich; und zwar am meisten deshalb, weil einige wohlwollende Seelen sich fanden, die mir die eigentliche Bedeutung der Sache dahin aufklärten, daß der liebe Gregorius aus dem Grunde in den weiten Himmel gegangen, weil ich ihm in seinen engen vier Wänden zu viel Lärm gemacht und zu viel Ärger verursacht, als daß er es länger darin habe aushalten wollen. Sie können sich denken, welche beruhigende Wirkung dies auf die Phantasie eines, wenn auch lebhaften, doch gutmütigen Knaben ausüben mußte; aber gottlob! diese Wirkung ist mir doch eigentlich zum Heile ausgeschlagen, denn ich bin von jenem Zeitpunkte an ein im ganzen ziemlich solider Mensch geworden.«

»Und was geschah mit Ihnen?« fragte der Reichsfreiherr.

»Der Pfarrer des Dorfes nahm mich zu sich. Er behauptete, ich könne, wenn man das Häuslein meines Vaters verkaufe, von dem Ertrage studieren, was wegen meines ›offenen Kopfes‹ in hohem Grade wünschenswert sei; er ließ sich obendrein Beiträge von seinen wohlhabendern Pfarrkindern versprechen und nahm mich zu sich. Man verkaufte also das Haus, übergab dem geistlichen Herrn das Geld, und der Pfarrherr, nachdem er mich ein paar Jahre selbst unterrichtet, sandte mich gen Köln auf das Montaner Gymnasium. Von diesem bin ich mit erträglichen Zeugnissen auf die Universität übergegangen.«

»Und Medizin studieren Sie?«

»Die Disziplinen der edlen Heilkunst.«

»Haben Sie denn gar keine Verwandten?«

»Nein.«

»Gar keine?« wiederholte der Freiherr und sah den Studenten dabei an, als ob er sich im stillen mit dem Problem beschäftige, wie ein Mensch gar keine Verwandten haben könne. Bald darauf aber zeigten seine Mienen, daß er es aufgegeben, eine so schwierige Frage zu lösen; er stand auf, und seine lange Gestalt wandelte dem Ofen zu, an den er sich stellte, wie um den Rücken zu wärmen, die Arme auf der Brust verschlungen, das Haupt mit der hohen Zipfelmütze niedergesenkt, als ob es sich unter der Last eines neuen und sehr bedrückenden Gedankens beuge.

»Wenn ich Verwandte besitze,« sagte Hubert jetzt, dem daran gelegen war, den langen Reichsfreiherrn festzuhalten, »dann müssen sie wenigstens sehr geringe Sorge um mich haben. Es hat sich nie einer bei mir gemeldet! Ich habe unter meinen Sachen daheim ein kleines goldenes Kreuz, auf dessen Rückseite der Name Walrave eingraviert steht. Es wird vielleicht der Hausname meiner Mutter sein. Ich weiß es jedoch nicht. Ich habe einen Menschen, der alle Familiennamen und Zusammenhänge im Lande kennen soll, einen Maler in Köln, gebeten, mir Auskunft darüber zu verschaffen, was Walrave sei. Er hat mir auch versprochen, danach zu forschen. Aber bis heute habe ich nichts weiter von ihm gehört. ›Es gab Edelleute,‹ sagte er, ›die so hießen‹. Mit ihnen habe ich schwerlich etwas zu tun!«

Der Freiherr Lactantius erhob sein sinnendes Haupt bei diesen Worten, als ob der Name Walrave ihn betroffen mache; er antwortete jedoch nicht.

»Sie sind mir aber jetzt Revanche schuldig, Reichsfreiherrliche Gnaden«, hub der Student nach einer Weile wieder an.

Der Freiherr schüttelte schwermütig den Kopf.

»Morgen, morgen, mein Freund,« sagte er; »teilen Sie niemand mit, daß Sie mich gesehen haben. Morgen spielen wir weiter.«

Damit trat er an Huberts Bett heran, ergriff seine Karten, nahm seinen Leuchter vom Nachttisch, und indem er ein Stück der alten Ledertapete, das lose an der Wand niederhing, aufhob, verschwand die lange Figur ganz in derselben lautlosen, gespenstischen Weise, wie sie gekommen war, und überließ Hubert Bender den aufregenden Gedanken, worein ihn diese Erscheinung und ihre Mitteilungen versetzen mußten.


 << zurück weiter >>