Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Der Scherenschleifer hatte Bernhard die Aushändigung der Briefschaften versprochen, als Preis für eine Art Verzichtleistung auf die Tochter seines Stammes, die nun selber in ihr heimatliches Gebiet, in das Reich der Waldungen und Gebirgsschluchten zurückgekehrt schien, worin jener regierte. Was war natürlicher, als daß er jetzt an nichts weniger dachte als daran, ein Versprechen zu erfüllen, bei dem er kein Interesse mehr haben konnte«? Bernhard entschloß sich deshalb, nach Bechenburg zu reisen, um nach Lenes Anweisung sich in den Besitz der für ihn so wichtigen Papiere zu setzen; er war nur noch unentschieden darüber, mit welchem Vorwande er Margret diese Reise begreiflich machen könne, und wanderte eines Abends – es mochten vierzehn Tage nach der Nacht von Lenes Verschwinden hingeflossen sein – mit diesem Plane beschäftigt durch das Tal, welches sich hinter dem Dörfen Kraneck nach Westen hin ausdehnte. Er war oben bei der Kapelle gewesen; jetzt schritt er hinab bis an das Ufer des Sees, der in der Mitte des Tales lag und von einem Bache gespeist wurde, welcher höher im Gebirge entspringend, zwischen schilfbewachsenen, ziemlich morastigen Ufern sich der Wasserfläche zuschlängelte, dann seinen Lauf weiter fortsetzte und das überflüssige Wasser des Sees durch die Schlucht, die das Tal öffnete, aus dem letzteren fortführte. Ein Steg für Fußgänger leitete hinüber; sonst war das Tal dadurch in zwei Hälften abgetrennt, da eine eigentliche Brücke nur in dem Dorfe sich befand. Bernhard stand auf jenem Stege und schaute in das zuckende Spiegelbild der Sonne, das golden auf der Wasserfläche vor ihm lag, bald vorwärts, bald rückwärts schießend, wie eine am Himmel vorüberziehende Wolke die Strahlen abschnitt oder frei ließ. Plötzlich zog ein »Holla? Hoho!«, das aus der Ferne klang, seine Aufmerksamkeit ab. Er schaute in der Richtung aus, woher der Ruf gekommen; es war zu seiner Linken, etwa in der Mitte zwischen ihm und dem in der Entfernung einer starken Viertelstunde vor ihm liegenden Dorfe – ein Mensch lief und rannte, sprang über Hecken und Zäune, immer querfeldein, in gerader Richtung auf den See zu; hinter ihm drein zwei Reiter, die wie in toller Jagd der Richtung folgten, die der Flüchtling nahm, ihm oft hart an der Ferse waren, dann aber wieder ihm einen bedeutenden Vorsprung lassen mußten, wenn er über einen Wall oder einen Graben sprang, über den ihre Pferde nicht wegzusetzen vermochten, so, daß sie auf Umwegen umhergeführt werden mußten. Auch hatte der Flüchtige den Vorteil, daß er leicht über die Schollen der frischgepflügten Aecker fortrannte, während die Pferde nur mit Mühe darüber wegkamen und fortwährend strauchelten.

»Ha, sie haben ihn!« rief Bernhard, der sich auf seinem Stege auf die Zehen gestellt hatte und ausschauend den Hals reckte, »da, auf der Heide werden sie ihn einholen – nein, er wendet sich – er läuft in den Morast hinein – Viktoria! er steht bis an die Hüften im Wasser und lacht sie aus.«

Der Flüchtling war fürs erste gerettet, denn die Reiter versuchten vergebens, ihm näher zu kommen, da ihre Tiere bei den ersten Schritten bis an die Knie in den Morast sanken, der den See umgab. Sie hielten und schienen zu ratschlagen; dann wandten sie, die fernere Verfolgung aufgebend, und ritten nun dem Dorfe zu. Der Mensch im Wasser hatte die Arme untergeschlagen und schaute ihnen nach; als sie hinter den ersten Häusern verschwanden, blickte er spähend um sich und schritt weiter durch das Wasser, dem andern Ufer zu. Bernhard ging von seinem Steg herunter, bis zu der Stelle des Gestades, die dem Fremden gegenüber lag; es war halb Neugier, halb Teilnahme für den gewandten Ausreißer, was ihn näher zog. Dieser hielt in seinem Waten inne, um ihn angestrengten Auges zu betrachten; dann stieß er einen Ruf aus und winkte mit der Hand, wie, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Bernhard erkannte ihn an diesem Rufe; es war Wendels.

Der Scherenschleifer mochte etwa hundert Schritte noch vom Ufer entfernt sein, als er sich niederbeugte und die Arme zum Schwimmen auseinanderschlug. Es war die schmalste Stelle des Sees und zugleich die tiefste, an der er übersetzte; aber Wendels schien ein geschickter Schwimmer, denn er kam rasch vorwärts, als er plötzlich einen heftigen, schrillen Schrei ausstieß und mit den Armen über dem Kopf in der Luft umherfocht – ein heftiges Umsichgreifen, ein Arbeiten mit den Händen und den gespreizten Fingern – dann sanken sie – immer tiefer – schnellten wieder auf, das Haar seines Kopfes tauchte wieder empor – er verschwand im selben Augenblicke; das Wasser schäumte und spritzte auf, dann begann es seine Wellen in lange Kreise auszudehnen, und an der Stelle, wo der Schwimmer versunken, war es nach einigen Augenblicken wieder spiegelglatt.

Bernhard hatte kein Auge hierfür, denn in dem Augenblicke, in dem er die Gefahr des Schwimmenden erkannte, den augenscheinlich ein plötzlicher Krampf gefaßt hatte, war er in das Wasser gesprungen, um ihm zu Hilfe zu kommen. Aber er war ein schlechter Schwimmer, und wenn ihn jetzt seine Herzensangst auch die gewaltsamsten Anstrengungen machen ließ, so gelang es ihm doch nicht, tief und lange genug unterzutauchen, um den Versunkenen zu erfassen. Er stieß einen wehklagenden Hilferuf aus, tauchte noch einmal hinab und wieder auf, um nach Luft zu schnappen – noch einmal – nein, die Tiefe hielt ihr Opfer fest. Er eilte nun zum Dorfe und rief hier zusammen, was ihm zuerst begegnete; ihm selbst war es jedoch nicht möglich, mit diesen Leuten zum See zurückzugehen; er fühlte sich in seinen durchnäßten Kleidern zu Eis erstarren, seine Glieder versagten ihm den Dienst und, als er am Herde seiner Wohnung stand, sank er vor den Augen der erschrockenen Margret in Ohnmacht.

Der Verunglückte wurde erst nach drei Tagen aufgefunden. Man verscharrte ihn, fern vom geweihten Grunde; die ärmeren Bauern hatten sich in seine besten Kleidungsstücke geteilt und mit einigem Gelde, das sie in seiner Tasche fanden, für ihre Arbeit bezahlt gemacht. Bernhard ließ emsig nachfragen, ob sie nicht auch Papiere und Briefschaften bei ihm gefunden, denn er selbst vermochte nicht, es zu untersuchen, weil er krank geworden war. Aber keiner wollte etwas dergleichen gesehen haben; er ließ sie noch einmal die geretteten Sachen durchforschen; nein, es war nichts da.

Es soll nicht sein, dachte er mit jener Resignation, welche körperliche Schwäche gibt, und ergab sich in die Anfälle der Krankheit, die ihn wochenlang an das Lager fesselte und allen Hausmitteln der Frau Fahrstein Trotz bot.

»Sie verquacksalbert ihn,« sagte Herr Gerhards mit einem Unwillen, wie ihn nur seine Teilnahme für den Leidenden in ihm hervorbringen konnte; »es würde am besten sein, wenn der gnädige Herr ihn aufs Schloß bringen ließ; ich würde ihn schon kurieren!«

»Sie?« sagte Frau von Kraneck zweifelnd.

»Zu dienen, gnädige Frau; ich wollte ihm schon was eingeben: zwei Schoppen alten spanischen Wein und darin eine Handvoll Pfeffer und Ingwer und dies eine Weile durcheinander gekocht –«

»Das sollte eine Brustentzündung heben?«

»Jawohl, gnädige Frau, das sollte wohl besser sein, als die Quacksalbereien der alten Margret; der arme Schelm wird sein Lebtage nicht wieder gesund, wenn die an ihm fortdoktert! Aber zwei Schoppen alten Spanischen und darin eine Handvoll –«

»Herr Gerhards,« sagte Frau von Kraneck zu dem Vikar, der ein außerordentlich wichtiges Gesicht machte, als er sein Hausmittel empfahl, »zum Doktor sind sie verdorben, aber ihr Rat ist ein sehr viel Rücksicht verdienender. – Qu'en pensez vous, mon cher mari?« fuhr sie, zu Herrn von Kraneck gewendet, fort.

»Ma chère,« versetzte dieser, »ich erwarte die Entschließung Ihres edelmütigen Herzens.«

Diese Entschließungen erfolgten und der Vikar wurde beauftragt, den Transport des Kranken in das Schloß Hohenkraneck anzuordnen und zu beaufsichtigen. Er führte dies mit einer sehr großen Behutsamkeit und Sorgfalt aus, aber zugleich mit unerbittlicher Härte gegen die Protestationen der Mutter Fahrstein, die sich ihren Sohn nicht nehmen lassen wollte, oder ihm mindestens folgen zu dürfen verlangte, was der Vikar durchaus nicht zugestehen wollte.

»Aber es handelt sich ja gerade darum, daß er Ihre Latwergen nicht mehr nehmen soll«, sagte Herr Gerhards, indem er ein Töpfchen mit einem solchen Inhalte, das in der Krankenstube auf dem Tische stand, an seine Nase führte. »Das schau einer an,« fuhr er kopfschüttelnd fort, »das soll gegen eine Brustentzündung gut sein! Nein, Frau, ich will Ihr sagen, was gut war, zwei Schoppen alten Spanischen –«

»Ei was,« sagte Frau Fahrstein heftig, »ich bin ein ebenso guter Doktor wie Er, und will bei meinem Kinde bleiben!«

Die letztere Behauptung hatte eine Entschiedenheit, die endlich des Vikars Eigensinn wanken machte, und so folgte denn die alte Margret dem Lager ihres Sohnes, das von rüstigen Trägern in das Schloß gebracht wurde. Frau von Kraneck hatte unterdes ein nach der Sonnenseite gelegenes stilles Zimmer mit grünen Gardinen um Bett und Fenster versehen lassen; sie erwartete dort den Kranken und beugte sich, als man ihn niedergelegt hatte, mit forschenden Bücken über sein bleiches Gesicht.

Während Herr von Kraneck ihm an der anderen Seite des Bettes die Hand schüttelte und allerlei Trostgründe sagte, welche durch ihre Herzlichkeit ersetzten, was ihnen an Neuheit abging, fühlte er einen warmen Tropfen aus den Wimpern der guten Frau auf seine Stirn fallen; sie begann gleich darauf hastig an seinem Kopfkissen zu ziehen, um es ihm bequemer zu legen. Dann machte sie die erschreckende Bemerkung, daß er keine Nachtmütze habe, und eilte hinaus, um dieses unerläßliche Garderobestück aus dem Vorrate ihres Gemahls zu beschaffen; sie kehrte zurück mit einem ganzen Arm voll Leinenzeug und darunter eine Profusion von Stücken, deren eigentliche Bestimmung zu erraten über alle Phantasie des Kranken ging. Herr von Kraneck flüsterte ihm unterdes leise ins Ohr, daß Frau von Kraneck ein wahrer Engel am Krankenbette sei; dann hielten beide eine leise Beratung zusammen, was man zur Erleichterung des siechen Gastes tun könne, ohne erst nach seinen Wünschen zu fragen, da es nicht gut sei, ihn durch Anreden zu belästigen.

»Was halten Sie von einer Flasche Mandelmilch und einer andern mit Limonade; würde er sie wohl nehmen?« sagte Frau von Kraneck.

»Ich glaube,« versetzte ihr Gemahl, »Sie werden darin meiner Ansicht sein, daß es nicht schaden könnte, wenn sie bereit ständen, falls er sie wünschen sollte.«

»Ich verstehe,« sagte lächelnd die Dame; »ich hätte nicht erst fragen sollen.«

Sie wandte sich zur Tür, um die Bereitung des kühlenden Getränkes anzuordnen, als jene vorsichtig geöffnet wurde und mit einem so selbstzufrieden vergnügten Gesichte, wie es nur das Bewußtsein nahenden Triumphes machen kann, Herr Gerhards über die Schwelle trat, eine dampfende zinnerne Kanne in der Hand. Er ging wie ein Kind, das eine Treppe hinaufsteigt, jedesmal nach einem Schritte pausierend, um ja nichts von dem köstlichen Inhalte zu verschütten. In der Mitte des Zimmers blieb er stehen, schaute zuerst die gnädige Frau, dann Herrn von Kraneck und zuletzt mit einigem Ausdruck herablassenden Mitleids Frau Margret an, die still in einem Armsessel zu Häupten ihres Sohnes hockte, schlug darauf mit einer irdenen Tabakspfeife, die er in der linken Hand hielt, an den Band der Kanne und sagte: »Dies mochte wohl das Allerbeste sein, gnädige Frau; das wird ihm auf die Beine helfen!«

»Was haben Sie denn da, Herr Vikar?« fragte Frau von Kraneck und langte mit einem Teelöffel in das dampfende Naß.

»Ich bin auch mal ins Wasser gefallen, Ew. Gnaden, und das hat mich so munter gemacht, als wär' ich ein Fisch gewesen.«

»Pfui!« rief die Hausfrau, »das brennt wie Feuer!«

»Gelt?« versetzte Herr Gerhards, sehr zufrieden mit der Kraft seines Trankes; »es ist aber auch vom besten, den Ew. Gnaden im Keller haben: Zwei Schoppen alten Spanischen und eine Handvoll Ingwer und –«

»Erlauben Sie gütigst, lieber Herr Vikarius«, unterbrach der Gutsherr ihn und nahm die Kanne aus seiner Hand; dann öffnete er das Fenster und goß den ganzen Dekokt in den Baumhof hinunter.

»Wenn meine Pferde das kalte Fieber bekommen, sollen Sie Doktor werden, Herr Vikar; hier aber lassen Sie Ihren alten Spanischen fort!«

Herr Gerhards war von der gewaltsamen Handlung seines sonst so sanftmütigen Gutsherrn in einem Grade überrascht, daß er keine Worte finden konnte, um seine Mißbilligung derselben in so entschiedenem Tone auszudrücken, wie er sie innerlich fühlte. Er schüttelte den Kopf, bückte sich, um die Scherben seiner irdenen Pfeife zusammenzulesen, die er aus Schrecken auf den Boden hatte fallen lassen, und sagte: »Ew. Gnaden, so wird ein Kranker nicht gesund, wenn man ihm nichts eingibt; aber ich sage kein Wort mehr.«

Der Vikar begann in der Tat mit seinem Rate von diesem Augenblicke an zornig hinter dem Berge zu halten. Nur einige Tage später, als er einen Domestiken bedauern hörte, daß kein Maderawein da sei, von dem die gnädige Frau einen Eßlöffel voll verordnet habe, ließ ihn nach heftigem inneren Kampfe seine Teilnahme und Liebe für Bernhard nicht länger untätig bleiben. Er trat um Mittag, als niemand in dem Krankenzimmer war, sachte ein und kam mit einem großen Glase voll Wein an Bernhards Bett.

»Es fehlt an Madera«, sagte er flüsternd.

»Nun, Herr Vikar, was haben Sie da?«

»Das ist ein Schöppchen alten Unkler roten, von anno 1699; ich habe so'n paar Krüglein auf den bittersten Notfall hinter die Gardine gestellt. Trinken Sie, Doktor!«

»Gott behüte, keinen Tropfen!«

»Nur dreist, nur dreist, ich möchte wetten, daß ein Schöppchen von dem gerade so viel Kraft haben muß wie ein Esslöffel voll Madera, wenn nicht noch mehr. Nehmen Sie nur, es wird gerade dasselbige sein, wenn nicht noch mehr; probieren Sie nur!«

Bernhard hatte Mühe, von dem Unkler roten, von dem ein Schoppen mindestens so viel Heilkraft haben sollte wie ein Eßlöffel voll Madera, sich zu befreien. Der Vikar trank endlich das Glas selber aus, wobei er mit großem Unmut sagte: »Auf Ihr Wohlsein; aber gesund werden Sie Ihr Lebtage nicht wieder, wenn Sie nicht besser Rat annehmen.«

Fürs erste schien Herr Gerhards recht zu behalten. Bernhard ward zwar eigentlicher Gefahr bald entrückt, aber die frühere Gesundheit wollte nicht wiederkehren; es schien eine völlige Mutlosigkeit über ihn gekommen, die alle seine Kräfte niederdrückte. Er fühlte sich verwaist, in einer toten Oede um ihn her. Seine Gedanken erlahmten, seine Gefühle irrten schwankend umher, ohne daß er sie zu lenken vermocht hätte; sie zogen dahin, von wo er sie mit aller Macht seiner Seele hätte zurückreißen mögen – zu ihr; und sie – sie hatte ihn vergessen und ließ ihn ratlos und hilflos in dem Kampf mit dem Siechtum seines Lebens unterliegen.

An der Stelle, wo die Bauern den verunglückten Anführer des heidnischen Nomadenvolkes, das in ihren Wäldern hauste, begraben hatten, sah man mehrere Tage nachher ein Kreuz aufgerichtet, das freilich von einer sehr kunstlosen Hand mit einigen rostigen Nägeln zusammengezimmert war, aber mit einem vollen und schönen Immortellenkranz die Mängel seiner Konstruktion bedeckte. Einige wollten auch abends jemanden sich dort umherbewegen gesehen haben, eine Gestalt, die bald wie eine Säule still gestanden, dann heftig sich auf und ab bewegt habe. Aber niemanden hatte Interesse an dem toten Heiden oder den klagenden Genossen seines Stammes zu näherer Untersuchung veranlaßt, wer es sein könne, der ein so unpassendes Symbol über seinem Grabe aufgerichtet habe.


 << zurück weiter >>