Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

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Zweites Buch

Erstes Kapitel

»Nein, Gnaden Papa, das tu' ich durchaus nicht,« sagte Johannes.

»So laß es bleiben, Junker!« versetzte mit verbissenem Zorne Herr von Driesch, die Worte zwischen den Zähnen murmelnd. Dann stürmte er eine Weile im Zimmer auf und ab.

»Nun, so zieh' nur weiter, was du willst, mein Sohn,« sagte Herr von Driesch, plötzlich besänftigt und setzte sieh wieder, Johannes gegenüber, an den Tisch, der ein Schachbrett mit aufgestellten Figuren trug. Johannes tat einen Zug; Herr von Driesch gleich nach ihm; nun Johannes wieder, jedoch mit größerer Ruhe als sein Vater; Johannes war ein mittelmäßiger Spieler, aber es gelang ihm trotzdem, zuweilen eine Partie zu gewinnen, weil Herr v. Driesch bei all seinem feinen Spiel doch viel zu hastig war, um sich nicht bedeutende Blößen zu geben. Sah er nun, daß Johannes diese benutzte, statt irgendeinen andern Plan zu verfolgen, so war er sehr geneigt, seine väterliche Autorität ins Mittel zu legen und dem Junker den Zug anzuempfehlen, der ihm selber am vorteilhaftesten war. Johannes behauptete dagegen mit größter Standhaftigkeit, das vierte Gebot gehöre nicht ins Schachspiel, und wartete ruhig ab, bis sein Vater nach einem leichten Zornanfall sich wieder besänftigt hatte und dann desto ruhiger weiterspielte. Denn Herr von Driesch war gutmütig genug, sobald sein Zorn verraucht war, und er einen Hagel von Scheltworten über irgendein schuldloses Individuum ausgegossen hatte, sich selber für einen höchst komischen und unendlich spaßhaften Herrn zu halten und sich von ganzem Herzen auszulachen. Ihn in ein und demselben Augenblicke aufs grausamste schimpfen und in ein lautes Gelächter ausbrechen zu hören, war nichts Ungewöhnliches. Am schlimmsten war freilich mit ihm umzugehen, wenn er im Schachspiel verloren hatte; er spielte mit leidenschaftlicher Aufregung, und wurde er am Ende auf eine seinen Ehrgeiz demütigende Weise geschlagen, so war er fürchterlich.

Das Spiel dauerte fort. Johannes spekulierte schweigend; Herr v. Driesch mit den mannigfaltigsten Ausrufungen, halben Zitaten und Gedankenstrichen dazwischen: »Mach, mach, voran, du träumst, Junker; so? aha – so ziehst du – eheu fugaces – nun will ich diesen Springer auf dies schwarze Feld – quatit ungula campum – nein, diesen Turm will ich – halt – mal – quadrupedante sonitu, der Springer soll doch vor; so, nun du wieder, flink, Junge!«

»Ja, ja, Papa, nur Geduld – nur Geduld!« sagte Johannes gedehnt. Er zog. Herr von Driesch wurde stiller nach diesem Zuge; er kaute heftig an der Spitze seiner langen irdenen Pfeife, zog dann eine sehr große Wolke Rauchs auf, die er mit Lippen und Atem nachhaltig heftig von sich stieß und musterte, bald hierhin, bald dorthin das Auge aussendend, den Stand, die Hilfsquellen und die Verluste seiner Heeresmacht; sie war augenscheinlich von einer empfindlichen Schlappe bedroht, deren Abwendung alle Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart des leitenden Feldherrngenies verlangte.

»Junker, wirst du mir die Königin« – knack – die Pfeifenspitze brach zwischen seinen Zähnen ab; in einem andern Augenblicke wäre der ganze Rauchapparat nicht sicher gewesen, zur Strafe dafür an die Wand zu fahren und in tausend Stücke zu zerklirren; jetzt spuckte Herr von Driesch ganz sanft die Splitter aus und sann weiter. Er zog. Johannes zog auch und fing an, leise ein Stücklein zu pfeifen, wobei er auf der Stirne einige Hautfalten sich kräuseln ließ, die er nach Gefallen langsam in die Höhe und wieder herunterrollen lassen konnte, was die ganz unbezweifelte Anmut seines Gesichts um ein Bedeutendes erhöhte und einen Eindruck machte, als wenn ein gewisses achtbares und nützliches Geschöpf, bald das eine seiner langen Ohren vor, das andre zurück, bald jenes wieder zurück und dieses vorschlägt, was ebenso dienlich zu seinem Zeitvertreib, als passend zu einem entsprechenden Ausdruck innerer Heiterkeit sein mag.

»Schach!« sagte Johannes.

Noch ein Zug und Johannes stellte sein Pfeifen ein, stand auf, schob den Stuhl an die Wand und ging zur Tür hinaus.

Herr von Driesch sah ihm verwundert nach: »Wo willst du hin, Junker?«

Johannes antwortete nicht; als er aber draußen stand, steckte er den Kopf wieder durch die Tür und lächelte mit einem Ausdruck unendlicher Pfiffigkeit: »Gnaden Papa,« sagte er.

»Hä?«

»Matt!« rief Johannes mit Nachdruck, schlug die Tür hinter sich zu, stürzte die Treppe hinunter, um sich in Sicherheit zu bringen, und fand für gut, auf der Stelle eine kleine Tour mit dem falben Fritz ins Freie zu machen.

Die Zornausbrüche, die Herr von Driesch auf jenes Donnerwort folgen ließ, hat niemand belauscht; man konnte zwar im ganzen Hause und auch in einer nicht zu weiten Entfernung draußen ganz vernehmlich ein Rumoren hören, das aus dem Innern seiner Gemächer drang, aber die Domestiken waren daran gewöhnt und achteten nicht darauf. Als nach einer guten halben Stunde jemand in sein Zimmer trat, ging er auf und ab, eine andre Pfeife im Munde und mit den Fingern Bewegungen machend, als ob er Verse skandiere.

Dieser Eintretende war der Hausgeistliche des Gutsherrn, ein starker Mann von mittlerer Größe mit einem vollen und freundlichen Gesicht, das übrigens nichts hatte, was ein Vorurteil für oder wider seinen Besitzer erweckt hätte, wenn nicht allenfalls einen Ausdruck von Wohlwollen und Heiterkeit, der selten in seinem einfachen und ruhigen Leben getrübt sein mochte. Er hatte übrigens eine nicht gar zu angenehme Stellung bei Herrn von Driesch, der in ihm, als einem studierten Manne, fortwährend Teilnahme und Verständnis für seine gelehrten Beschäftigungen voraussetzte und in sein Gespräch allerlei Zitate, Anspielungen und Mitteilungen mischte, die der Vikarius nicht begriff, so daß er einen Bock über den andern schoß. Doch war er ein ziemlich guter Lateiner und half sich damit durch, so gut es gehen wollte; auch wußte er eine Menge »Lepider« Stücklein, wie er sich ausdrückte, zu erzählen. Seine Predigten waren dagegen nicht viel nutz und Herr von Driesch pflegte ihn, weil niemand sie anhören mochte, einen großen Kirchenleerer zu nennen.

»Da sind Kohlen im Komfort,« sagte Herr von Driesch und fuhr in seiner Beschäftigung fort. Der Vikar hatte eine Tabakpfeife mitgebracht, aber aus Respekt beim Eintreten ausgehen lassen, bis ihm der Gutsherr erlauben würde, sie wieder anzuzünden. Er legte nun eine Kohle auf den Meerschaumkopf, rieb diesen mit seinem Aermel glänzend und setzte sich dann. Nachdem er eine Weile das Schachspiel betrachtet, begann er mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln.

»Der gändige Herr haben gewonnen!« sagte er freundlich. Herr von Driesch blieb stehen, sah ihn an, als ob er sich versichern wolle, daß dies kein Spott sei und sagte: »Sieht Er nicht, daß ich dichte?« Er brachte seine und seiner Verse Füße wieder in Bewegung.

Der Vikar strich die Manchesterbeinkleider über seinen Knien glatt, nahm eines der Schachpüppchen und beschaute es, sah dann nach dem Kanarienvogel, der im Bauer an der Wand hing, nun auf das Stilleben ihm gegenüber und versank endlich in die Anschauung des gemalten Affen, der darauf höchst possierlich in einen Apfel biß.

»Die Aepfel sind doch dieses Jahr sehr schlecht geraten,« sagte er nach einer Viertelstunde, seiner Langeweile nicht mehr Meister.

Der Mann der fruchtbringenden Gesellschaft hatte andre Aepfel im Kopfe und antwortete nicht.

»Ew. Gnaden, ich habe eben mit Anton gesprochen; es ist doch in der Tat ganz wunderlich!«

»Dummes Zeug!« sagte Herr von Driesch und skandierte weiter; dann blieb er stehen: »Nun sela! nächstens mehr!« Er wandte sich zu dem Geistlichen: »Was, Herr Vikar, sagt Er, ist denn so wunderlich?« Man sah, die Alexandriner summten ihm noch durch den Kopf.

»Nun, Anton behauptete steif und fest, er hätte es an den mondhellen Fenstern hergleiten sehen, gestern nacht, als er vom Anstande zurückgekommen.«

»Anton ist ein Narr! Habe ich deshalb die Hexe aus dem Hause gejagt, um andre alte Weiber wieder zu bekommen?«

»Ew. Gnaden, Anton hat ein scharfes Gesicht und nicht viel von Einbildungen zu leiden.«

»Er ist selbst ein Narr, Vikarius; ich sag' Ihm ein für allemal, ich will das dumme Geschwätz von meinem Hause nicht mehr wissen.«

»Man kann den Leuten den Mund nicht schließen. Mit dem Hütchen, das ist doch gewiß, Ew. Gnaden.«

»Den Mund nicht schließen? ich will ihn aber dem dummen Volke schließen!« fuhr Herr von Driesch auf; »ich will selbst diese Nacht im Saal aufbleiben, und Gott steh' dem bei, der mir Spukereien darin macht!«

»Ew. Gnaden selbst? ich glaube nicht, daß das Ihr Ernst ist!«

Dieser Zweifel an seinem Mute brachte Herrn v. Driesch vollends außer sich, nachdem ihn der Verlust der Schachpartie und des Vikars Unterbrechungen seiner Alexandriner schon früher hinlänglich gereizt hatten.

»Ei, das glaubt er nicht?« rief er aus; »so will ich nicht Driesch heißen, wenn ich's nicht tue und Ihm zeige, was Courage ist. Schäm' Er sich, Vikar, Er ist eine Memme!«

Herr von Driesch hatte in diesem Augenblicke Mut, mit einer Welt anzubinden, wie vielmehr mit dem kleinen Kobold Hütchen, von dem man sagte, daß seine kleine Gestalt unter einem großen Hute auf Bechenburg ihr Wesen treibe und zwar vorzugsweise in dem großen Saale. Es war ja noch heller Tag; die Abendsonne schien freundlich in das Zimmer, der Kanarienvogel schlug lustig in seinem Käfig, woher hätte jetzt Gespenstergrausen kommen sollen?

Der Vikar aber schüttelte ungläubig den Kopf und, etwas gereizt durch des Gutsherrn Worte, ging er hinaus, um unten im Hause dem Gesinde die staunenswerte Nachricht mitzuteilen, daß der gnädige Herr die Nacht über im Saale aufbleiben wolle.

»Er wird's wohl bleiben lassen!« sagte Anton lakonisch.

»Ich tu's nicht mit,« murmelte Johannes, der eben den Falben wieder in den Stall gebracht hatte.

Als die Abendtafel aufgehoben war, hatte der natürliche Lauf der Dinge längst Finsternis über die Erde gebreitet; dieser Umstand, so gewiß er sich auch hatte voraussehen lassen, veränderte um ein ganz Bedeutendes die Gemütsstimmung des Gutsherrn.

»Herr Vikar,« sagte er, sich mit anscheinender Ruhe die Zähne stochernd, »ich habe vorausgesetzt, daß Er mit mir aufbleibt. Mir wird sonst die Zeit lang.«

»Wie? was? ich mit aufbleiben? Gnäd'ger Herr, wie kommen Ew. Gnaden mir vor?«

»Wir wollen uns vier Flaschen von meinem alten Hochheimer mit hinaufnehmen,« sagte Herr von Driesch trocken; »Johannes, gib Anton mal den Kellerschlüssel.«

»Ew. Gnaden,« wagte Anton sich ins Gespräch zu mischen, »ich wollte, Ew. Gnaden täten es nicht; wenn ich noch daran denke, an gestern nacht, wie's an den Fenstern vorüberging und am mittleren stehen blieb und mich anglotzte – es ist mir so grausig, ich mag nicht allein in den Keller gehen.«

»Anton, halt das Maul! verstehst du mich?« fuhr der Gutsherr auf; »daß der einem noch mehr Furcht machen muß,« murmelte er für sich weiter; »es ist doch diesen Abend finsterer und unheimlicher als sonst! Weiß der Henker, wie's kommt.«

Er blickte nach dem Fenster, hinter dem eine pechfinstere Nacht lag; dann und wann schlug ein Zweig des nächsten Kastanienbaumes daran, in dessen Wipfel vernehmlich ein scharfer Ostwind wühlte. Herr von Driesch faltete die Serviette und stand auf: »Nun, Vikar, gehen wir? – Anton, sind Kerzen und Holzscheite in den Saal geschafft? geh und sieh nach; und die Flaschen! was stehst du noch, Träumer?«

Anton ging. Der Vikar stand, die Hände über der Brust gefaltet, die Augen mit betrübten Blicken bald auf den einen, bald auf den andern der Gesellschaft richtend, als ob er Hilfe suche vor dem Befehl des unerbittlichen Gutsherrn. Er sah aus wie ein geschlagener Mann.

»Er ist eine Memme, Vikar,« sagte Herr von Driesch. Das hatte er schon einmal an diesem Abende gesagt und der Geistliche war gar nicht in der Laune, mit sich Spaß treiben zu lassen Er schlug heftig die Arme auseinander: »Ew. Gnaden, ich bin keine Memme, das sollen Sie sehen; ich gehe.« Er ging aus dem Zimmer und kehrte bald darauf zurück, einen Band seines Breviers unter dem Arm und ein Paar warmer Pantoffeln statt der hohen Klerikalstiefel an den Füßen. Der Gutsherr hatte sich unterdes seinen großblumigen Damastschlafrock anlegen lassen. So ausgestattet, schritten beide Herren, von Anton, der einen Armleuchter trug, begleitet, in das unheimliche Gemach. Der große Saal auf Bechenburg, der in so üblem Rufe stand, war an und für sich so unheimlich nicht. Er war bedeutend länger als breit und so groß, daß man oben und unten nötig gefunden hatte, einen Kamin anzubringen. Der untere war durch eine Tür mit zwei Klappen verschlossen und im oberen brannte ein hellflackerndes Feuer, das hoch genug lohte, aber dennoch nicht imstande war, den ganzen Baum zu erhellen. Lambris liefen an der untern Hälfte der Wände her; der obere Teil war früher ganz mit Estrich belegt gewesen, von dem aber mehrere Stücke abgefallen waren, daß die nackte Mauer hervortrat; den Plafond bildete ein Holzgetäfel, von dem mehrere Schnüre herniederhingen und sich im Zugwinde bewegten, als die Flügeltür geöffnet wurde. Einige Gartengerätschaften standen in der Ecke hinter dem obern Kamin, denn schon seit vielen Jahren diente der Saal zu einer Art Rumpelkammer, und die Domestiken hatten nicht Zeit oder Lust gehabt, ihn noch den Abend ganz auszuräumen; auch einige Stücke des herabgefallenen Estrichs lagen noch am Boden und waren nur unter die hölzerne Bank geschoben, die der Länge nach an den Wänden herlief.

Ein runder Tisch war an das Kaminfeuer gerückt und zwei Lehnstühle daneben; vor dem des Gutsherrn lagen Schreibmaterialien und ein Buch; außerdem standen die vier Flaschen und sechs Leuchter mit frisch aufgesteckten Kerzen auf dem Tisch, zwei geladene Jagdflinten aber an jedem Stuhle. Als Anton aus einem beklommenen Busen und mit einem Blick voll Teilnahme auf seinen Herrn eine gute Nacht gewünscht hatte und gegangen war, zündete Herr von Driesch noch zwei Leuchter an und stellte sie an das andre Ende des Gemachs, um eine größere Helle zu verbreiten. Dann setzte er sich in seinen Lehnstuhl und schenkte die Gläser voll. Der Vikar hatte das Brevier geöffnet und begann ruhig darin seine Lektion für den andern Tag abzubeten. Der Gutsherr legte den Kopf auf die Rücklehne seines Stuhls, streckte die Beine nahe ans Feuer und ließ in dieser Stellung seine Blicke bald in diesen, bald in jenen beschatteten Winkel des Saales sich einsaugen.

»Wunderlich ist die alte Rumpelkammer,« sagte er leise vor sich hin; »ich kann mir jetzt doch wohl denken, daß sie Veranlassung zu einer albernen Geschichte gegeben hat. Weiß der Henker, wie's kommt; es ist aber auch gerade heute ganz besonders schauerlich hier!«

Er lauschte auf den Wind, der draußen heftiger in den Wipfeln zu brausen begann. Im Innern des Hauses wurde es dagegen stiller; die Domestiken hatten sich, wahrscheinlich mit einem beklommenen Stoßgebet für den gnädigen Herrn, zur Ruhe gelegt. Man hörte die Windfahnen schrill über den Ecktürmchen ihre eisernen Töne ziehen; zuweilen wurde eine Glocke gezogen, als ob jemand am Tore sei, der noch Einlaß verlange; es war der Wind, der die im Freien hängende Torklingel bewegte. Die Vermischung dieser verschiedenen Töne hatte etwas ungemein Grausiges, wenigstens fand Herr von Driesch es so, und zu seinem Aerger mischte sich nun noch das Klappern einer locker gewordenen Planke an einem der Giebel der alten Burg von Zeit zu Zeit hinein.

»Alles klappt und pfeift aber auch in dem verfluchten alten Nest; ich will doch wieder nach Grünscheidt ziehen,« murmelte er; »was war das – es plätscherte etwas im Burggraben – eine abgefallene Kastanie wird's gewesen sein. Ich will an meine Arbeit; das ist das beste.«

Herr von Driesch setzte seine Brille auf, nahm das Buch, das vor ihm lag und fing an, die Ekloge Vergils weiter zu übersetzen, die ihn schon den Nachmittag beschäftigt hatte; er las, skandierte dann und schrieb. Das Kritzeln der Feder scholl durch den stillen Raum. Nach kaum einer Stunde schob er die Brille auf das Vorderhaupt und legte den Kopf wieder auf die Rückenlehne des Stuhls.

»Herr Vikar, weshalb spricht Er nicht?«

»Ich bete mein Brevier, Ew. Gnaden.«

»So! Aber wenn Er fertig ist, dann spreche Er etwas.«

Der Vikar nickte mit dem Kopfe.

»Sitzt da so still und verdreht die Augen, als wenn er tot wäre,« sagte Herr von Driesch flüsternd. »Ich will sehen, ob ich schlafen kann.«

»Herr Vikar, was mögen die Stricke da am Plafond bedeuten?« hob er nach einer Weile wieder an.

»Daran haben Fruchtschnüre gehangen, Ew. Gnaden.«

»So! sie schaukeln so wunderlich.«

»Das ist der Luftzug, die Fenster sind nicht dicht.«

»Es war mir eben gerade so, als müßte sich schon mal ein armer Teufel daran erhängt haben. Rispelte nicht etwas? Horch, da unten?«

Der Geistliche ließ sich nicht weiter in seiner Beschäftigung stören, die er nur unterbrach, um zuweilen aus seinem Glase zu nippen.

Eine Viertelstunde verfloß. – Dem Gutsherrn ward immer unheimlicher zumute; das Uebersetzen wollte nicht recht flecken, Schlaf hatte er auch keinen; nun war auch noch die Brille verloren.

»Ei, wo ist sie denn?« sagte er; »ich muß den Plafond schärfer ansehen, daß ich die dummen Gedanken aus dem Kopf bekomme. Die Lichter brennen auch so dunkel; den Henker taugt das Zeug!«

Er legte den Kopf zurück und schaute wieder zum Plafond empor, der schwarz getäfelt mit seinen Stricken über dem Saal hing.

»Es kommt mir genau vor wie eine ungeheure Spinne, die ihre langen Beine niederhängen läßt,« flüsterte der Gutsherr.

»Vikar, meine Brille, Er hat mir meine Brille genommen!«

Der Geistliche sah auf: »Ew. Gnaden haben sie auf dem Kopfe.«

»Ah ja, sela! Herr Vikar, sei Er so gut, eben die Kerzen da unten im Saal zu putzen.«

Der Vikar stand auf und nahm die Lichtschere.

»Nein, laß Er's nur; bleib Er hier, bei mir.«

Noch eine Viertelstunde und Herr von Diersch fuhr auf: »Der Henker hole das langweilige Aufbleiben! Komm Er, Vikar, wir wollen leise fortgehen und uns zu Bett legen. Wir haben ja doch lange genug aufgepaßt, ob was kommen wollte. Die Lichter lassen wir brennen, den Wein können wir durchs Fenster gießen und morgen vor Tagesanbruch gehen wir wieder hierher, daß niemand etwas merkt.«

Der geistliche Herr hatte sich so eifrig an seine Lektionen gehalten, daß darüber keine Gespensterfurcht in ihm hatte auftauchen können; zudem war er etwas gereizt gegen den Gutsherrn, der ihn eine Memme gescholten, und ließ jetzt nicht die Gelegenheit vorübergehen, sich dafür eine kleine Rache zu verschaffen.

»Nein, Ew. Gnaden,« sagte er, »das geht durchaus nicht an; man könnte uns hören und jedenfalls würden wir uns morgen früh verschlafen. Das wäre eine schöne Geschichte, wenn es hieße, Ew. Gnaden hätten nicht Mut gehabt; man würde erzählen, wir hätten die greulichsten Erscheinungen gehabt, die uns verjagt hätten; Bechenburg käme vollends in Verruf. Ew. Gnaden haben's angefangen, nun heißt's: durchgesetzt!«

»Die greulichsten Erscheinungen? Herr Vikar, glaubt Er wohl, daß es greuliche Erscheinungen gibt?«

»In der Bibel werden sie nicht geleugnet.«

»Aber die Alten wußten doch nichts davon.«

»Die Alten waren Heiden. Und sie hatten doch auch ihre merkwürdigen Geschichten von Ahnungen und Erscheinungen. Brutus zum Beispiel bei Philippi.«

»Aber hier in Bechenburg? Sollte es hier im Saale wohl wirklich nicht richtig sein?«

»Ew. Gnaden wissen, was Anton sagt; ganz richtig ist es nicht, aber ich will nichts andres behaupten als was ich selber gesehen habe, und das ist nicht hier gewesen.«

»Wo war es denn?«

Der Vikar stopfte seine Pfeife, zündete sie an, hob langsam sein Glas an die Lippen und räusperte sich. In Herrn von Diersch befehdeten sich unterdes zwei feindliche Gefühle, die Neugier nach des Vikars Geschichte und die Furcht vor dem erhöhten Grausen, das sie ihm verursachen würde.

Der Vikar hob an: »Ich war als Student einmal auf der Reise nach Marienfeld, wo ich einen Onkel unter den Konventualen hatte; es war ziemlich spät geworden, aber ich hatte mir vorgenommen, weiterzugehen, um noch den Abend anzukommen; ein Student, wissen Ew. Gnaden, ist durch seine Mutterpfennige bald –«

»Horch, was war das?« fuhr Herr von Driesch auf, »dort in dem andern Kamin!«

»O, der Wind wird's sein, der Kalk oder etwas dergleichen losbröckelt. – Also ich wanderte so durch den Abend weiter; nun waren die Wege sehr schlecht und es wurde immer dunkler um mich.«

»Herr Jesus, steh' uns bei!« schrie der Gutsherr auf, »es ist da, es ist da!«

»Still!« sagte der Vikar aufspringend und Herrn von Driesch fest am Arm ergreifend: »Still!«

Hinter dem verschlossenen Kamine am untern Ende des Saals hörte man deutlich und unverkennbar jemanden husten. Herr von Driesch wollte die Flucht ergreifen, aber der Vikar hielt ihn fest.

»Nichts da, Ew. Gnaden,« sagte er leise; »wir wollen die Sache untersuchen. Wir wollen wissen, was es ist; ist's ein Spuk, dann in Gottes Namen; ich habe einen Exorzismus bei mir. Vielleicht können wir einer armen Seele und diesem Haus zugleich Ruhe schaffen. Wir stehen in Gottes Hand.«

Ueber den Geistlichen war ein Heroismus gekommen, der aus seiner gläubigen Religiosität entsprang; er glaubte, es sei seine Pflicht, hier standzuhalten und das Gefühl, daß man im Begriffe steht, eine schwere Pflicht zu erfüllen, gibt Mut. Herr von Driesch dachte ganz anders; er wußte, was es heißt, nächtliche Abenteuer bestehen; aber der Vikar hielt ihn eisenfest am Arm.

»Sie stehen mir bei, Ew. Gnaden,« sagte er entschieden. »Ganz still! Gehen wir und öffnen den Kamin!«

»0 laß Er, laß Er mich los; Er hat gut reden, Er ist geistlich, Ihm wird's nichts anhaben!«

»Ich will mich vor den Kamin stellen und den Exorzismus lesen; wenn's Zeit ist, ruf ich ›los!‹ und Sie ziehen dann die beiden Flügel voneinander, daß ich dem Spuk ins Angesicht meine Sprüche und Beschwörung mache.«

»Ich? um Gottes willen, wo denkt Er hin?!«

»Da steht ein Nußhaken in der Ecke,« sagte der Vikar; »nehmen Sie den und ziehen damit die Klappen voneinander.«

Der Geistliche ging und holte die lange Stange aus dem Winkel hervor, an deren oberem Ende eine kleine Sichel befestigt war; dann faßte er den Gutsherrn wieder am Arme und halb gezwungen mußte dieser ihm bis in die Nähe des untern Kamins folgen. An den hölzernen Klappen, welche die Feuerstätte schlossen wie eine kleine Flügeltür, befand sich an jeder ein Ring, mit dem man sie aufziehen konnte; in einen derselben häkelte nun der Vikar die gekrümmte Spitze der Stange und gab deren andres Ende dem zitternden Driesch in die Hand: »So, nun geben Sie acht!«

»Aber wo soll ich nun bleiben?« sagte Herr von Driesch; »wenn ich die Klappe ziehe, fährt es auf mich zu und –«

»Stellen Ew. Gnaden sich hinter mich.«

Herr von Driesch hatte es schon getan.

»Schöne Sicherheit,« sagte er, »ich muß mich ja zur Seite beugen, um die Stange zu halten. Warte Er, Vikar; so, trete Er mit dem linken Fuß über die Stange.«

Der Gutsherr kniete nieder und hielt die Stange zwischen den Beinen des Vikars durch.

»Ich fange an,« flüsterte dieser und zog den Zettel mit dem Exorzismus aus der Tasche.

»Wart', stell' Er die Beine näher zusammen, näher, näher!«

Der Geistliche tat es und begann die lateinischen Beschwörungsformeln abzulesen, die er in beiden erhobenen Händen hielt; – dann rief er mit gefaßter Stimme: »Los!«

Herr von Driesch zuckte, und die eine der beiden Klappen flog auf. Der Vikar stand fest wie ein mutiger Streiter; Herr von Driesch hatte sich zurückgeworfen und lag, die Arme hinter sich auf den Boden stemmend, das Haar gesträubt und die Augen vorquellend, regungslos da.

In dem Kamin war etwas Lebendiges; es bewegte, es bückte sich – es kroch heraus – es war ein schwarzer Riese – der Gottseibeiuns – nein, es war nur ein großgewachsener, wie es schien, alter Mann, denn er hatte einen starken grauen Bart; seine Kleidung war ein langer, bis auf den Boden reichender weißer Mantel; der Kopf war unbedeckt. – So stand die Erscheinung da, Auge in Auge dem Geistlichen gegenüber, den sie mit durchbohrenden Blicken ansah. Der Vikarius ließ aus Schrecken das Blatt mit dem Exorzismus fallen und der Gutsherr stieß hinter ihm eine Reihe gurgelnder Jammertöne aus. Die Gestalt zog ein Messer unter dem Mantel hervor, tat zwei Schritte vorwärts – der Geistliche taumelte zurück – Herrn von Driesch war jetzt Hören und Sehen vergangen – nun trat der Fremde zur Seite, ging langsam in den Winkel, den die vorspringende Mauer des Kamins bildete, und stach hier die Spitze seines Messers in eine der Füllungen der Lambris. Die Füllung schob sich zurück – es war eine Mauerhöhlung dahinter – die Gestalt nahm ein kleines Paket, das in Papier eingewickelt war, heraus und steckte es sorgfältig in ihren Busen. Dann kam sie zurück, schritt ruhig durch den Saal der obern Tür zu, nahm im Vorbeigehen einen der brennenden Leuchter von dem Tische und ging hinaus. Draußen hörte man die Schritte über den Gang, dann nichts mehr; dann wieder das Aufmachen von Türen – draußen ward ein heftiges Hundegebell laut –- endlich alles wieder still.

»Gott steh' uns bei,« atmete der Vikar auf; »das wäre uns beinahe übel bekommen!«

»Mein Gott, mein Gott, was war das?« stöhnte Herr von Driesch.

Der Vikar half dem gnädigen Herrn wieder auf die Beine.

»Was das war, weiß der Himmel. Kommen Ew. Gnaden, wir haben für diese Nacht genug gesehen. Wir wollen zu Bette gehen und dem lieben Gott das übrige anheimstellen. Von dieser Welt war es nicht.«

Zu Bette gehen! das ließ sich leichter sagen als ausführen. Das Gehen war Herrn von Driesch vergangen; seine Knie schlotterten, der Vikar mußte ihn aufrecht halten und halb in seine Schlafkammer tragen, wo der Geistliche sich aufs Sofa warf, denn für nichts in der Welt wäre der Gutsherr den Rest der Nacht hindurch allein geblieben. Beide brachten ihn zu, sich ihre gegenseitigen Ansichten und Vermutungen über die Sache mitzuteilen und auch den Beschluß festzustellen, niemand fürs erste etwas von dem Abenteuer zu sagen.

Den Leuchter, den die Gestalt von dem Tische fortgenommen hatte, fand man am andern Morgen auf dem Hofe liegen. Auch die Füllung in den Lambris zeigte sich noch geöffnet; es war ein Wandschrank dahinter angebracht, von dem Herr von Driesch früher nichts gewußt hatte. In dem Holze war auch der Messerstich zu sehen, den die Gestalt gemacht hatte; in dem Schranke selbst aber fand sich nichts als ein paar alte Lappen, ein leerer Latwergentopf und das verrostete Radschloß einer Flinte, wie man sie in alten Zeiten gebrauchte.


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