Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

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Neuntes Kapitel

Ein paar Stunden vor der Zurückkunft Bernhards war in dem alten Schlosse eine Szene vorgefallen, von der er zu seinem und des Gutsherrn Glück kein Zeuge gewesen.

Johannes stand vor dem Bette seines Vaters, das dieser, obwohl gar nicht schwer verletzt, für gut fand, fürs erste noch zu hüten. Es waren drei Dinge in der Welt, die Herr von Driesch scheute wie ein wütender Hund das Wasser; das erste war Schmerz, das zweite Krankheit und das dritte der Tod. Alle seine aus den Klassikern geschöpfte Philosophie hatte nicht vermocht, ihm nur eines derselben in einem mildern Lichte zu zeigen; und so tief er auch in die Denkweise der Alten eingedrungen zu sein behauptete, so durfte doch keiner in seinem Hause einen Sterbefall erzählen, ohne einen seiner Zornausbrüche zu wecken, und wer nicht wenigstens auf vierundzwanzig Stunden in Ungnade fallen wollte, tat besser, das Wort Tod gar nicht auszusprechen, wenn er zugegen war. War einmal einem Gespräch darüber nicht auszuweichen, so gestand er mit einem tiefen Seufzer, er würde die unendliche Weisheit des Schöpfers nur dann ganz anerkannt haben, wenn dieser es so eingerichtet, daß der Mensch im Anfange seines Lebens den Tod abmache, statt daß nun diese fatale Geschichte im Hintergrunde laure und dadurch das ganze Leben vergälle durch Sorge, Angst und Zweifel. Wenn Herr von Driesch diesen originellen, metaphysischen Gedanken ausgesprochen hatte, lenkte er gewöhnlich kurz ab und kam am liebsten endlich auf die fruchtbringende Gesellschaft der Blumenschäfer an der Pegnitz zu sprechen, deren Mitglied er unter dem geachteten Namen »der Säuberliche« war und in deren voluminöse Aktensammlung seine Poesien eingeschrieben wurden; – es war, als ob der in ihm aufgeregte Zweifel an die Unsterblichkeit nach irgendeiner Beruhigung strebe.

»Gnaden Herr Papa,« sagte Johannes, der mit einer Schalÿe voll Kaffee vor seinem Vater stand, »die alte Margret hat Geld bekommen.«

»Meinetwegen, Junkerlein; da ist die Tasse wieder; aber zerbrich sie nicht und reich mir den Boethius de consolatione dort vom Tische her.«

»Als ich in die Küche ging, um zu sehen, wo der Kaffee bleibe, war niemand da; ich hörte aber die Alte in ihrem Schlafzimmer Geld zählen,« sagte Johannes, dem seine Geschichte viel wichtiger schien als der schweinslederne Boethius. »Ich mag nicht gern in ihre Kammer gehn weil sie da immer einen im Bette liegen hat, der so gläsern unter der Decke hervorguckt. Deshalb wollte ich gerade rufen, als ein großer Bauernjunge, den ich wohl in Grünscheidt oder da herum mal gesehen, aus ihrer Kammer trat und die alte Margret ihm nachrief, etwas leise, aber ich konnt's doch deutlich hören: »Ja, sagt dem Herrn von Katterbach nur, richtig sei's; aber ich laß ihn fragen, ob's heute der erste September sei? sagt ihm – na geht nur in Gottes Namen.‹ Das sagte die Alte; der Bauernjunge grüßte mich und ging fort, die Margret aber schien ein wenig verstört, als sie mich in der Küche sah.«

»Junge! Junkerlein!« fuhr Herr von Driesch empor, »ist das wahr oder verführt dich der Teufel? Geld zählte sie?«

»Ja, ja, Gnaden Papa! Als ihre Tür aufging, sah ich's auf dem Tische liegen.«

»War's viel?«

»Es mochten wohl fünfzig bis sechzig Taler sein.«

Herr von Driesch fuhr konvulsivisch zusammen: »O Gott! O du mein gekreuzigter Heiland!« stöhnte er; »von dem Katterbach! sie soll mich ermorden, mich vergiften – o Menschen, Menschen! Geld, so viel Geld von meinem Todfeinde; Oh, der gibt nichts umsonst, der Judas! Sie hat mich schon vergiftet – ja, ja – Johannes, mein Kind, wie seh' ich aus? Oh, sag' es mir – meine Lippen sind blau – mein Gesicht ist aufgedunsen, mein Körper hat blaue Flecke; meine Augen quellen mir aus dem Kopfe – ich habe den Aussatz, die Pest hat sie mir angehext – o Gekreuzigter! Sprich, Johannes – oh, sage alles!«

»Gnaden Papa werden jetzt etwas blaß,« sagte Johannes, »eben sahen Sie noch ganz gut aus. Ein paar blaue Flecke mögen Sie auch noch wohl haben?«

»So! sah ich ganz gut aus? Wart', du verfluchte Hexe! Ich will über dich kommen, du sollst vor meinen Augen durch den Schornstein zum Blocksberg fahren. Fort damit!« Die Kaffeetasse, die Johannes hielt, fuhr samt ihrem Inhalte durch die klirrenden Scheiben zum Fenster hinaus. »Es ist Gift darin!« schrie er, raffte einige Kleidungsstücke zusammen, warf sie über und stürzte zum Zimmer hinaus.

Einige Augenblicke nachher war Margret sehr verwundert, die Küchentür aufgestoßen und ihren Gutsherrn auf die Schwelle treten zu sehen, wo er stehenblieb, ein höchst wunderliches Bild im Rahmen. Seine Rechte hielt eine blanke Degenklinge hochgeschwungen über dem Kopf, wie parierend gegen jeden Anfall, der seine hohe weiße Nachtmütze bedrohen könnte; sein Körper war von einem großblumigen Kattunschlafrock umhüllt und von den pantoffelbekleideten Beinen war das eine dick mit allerlei Tüchern umwunden.

»Herr, was ist Euch?« sagte Margret, indem sie ruhig bis in die Mitte der Küche ihm entgegentrat; »was ist Euch?«

»Keinen Schritt weiter,« schrie Herr von Driesch; »keinen Schritt komm mir näher auf den Leib. O du Verkörperung infernalischer Bosheit!«

Margret trat trotzdem noch ein paar Schritte näher und Herr von Driesch trat einen zurück.

»Fürchtet Ihr Euch vor einer alten Frau, Ew. Gnaden?«

»Fürchten!« Herr von Driesch hieb mit seiner Klinge Prim, Terz und Tiefquart durch die Luft, daß es pfiff.

»Alle Wetter, bange vor dir? Aber du bist eine Hexe, du bist eine Giftmischerin, du bist das inkarnierte Uebel, das in Altweibergestalt durch die Welt geht; du bist der Satan, du willst mich vergiften für Geld, du Judas, du Silberling du! O du Bestie! Ich will dich hängen lassen, ersäufen, verbrennen sollst du, auf den Holzstoß mit dir, durch den Rauchfang soll dich der Teufel holen!«

Rasch wie ein sprudelndes Bergwasser strömten diese Worte von den Lippen des Gutsherrn. Herr von Driesch hatte immer die alte Römische Margret nicht recht leiden können; er begriff oft selbst nicht, wie er dazu gekommen, sie als Verwalterin anzunehmen – nun ja, damals kannte er sie nicht; aber seitdem hatte sie ihm so oft ein unheimliches Gefühl gemacht, sie hatte ihm fast sein eignes Gut verleidet – es war ihm außerordentlich angenehm, sie endlieh einmal mit Ehren aus dem Hause werfen zu können.

Margret ward weiß wie Kreide im Gesicht, aber sie hielt sich aufrecht und horchte den Worten ihres Gutsherrn mit einem Ausdruck der peinlichsten Spannung zu. »Was ist denn? – was ist? –« unterbrach sie ihn jeden Augenblick, bis Herr von Driesch herausgepoltert hatte: »Hast du nicht Geld angenommen, Geld von meinem Todfeinde, um mich zu vergiften oder zu behexen?«

Als Margret so endlich herausgebracht hatte, worin ihr Verbrechen bestehe, ging sie gefaßt zu ihrem Platz am Herde zurück, stemmte die Ellbogen auf die Knie und barg ihr Gesicht in beide Hände. Unterdes hatte der Lärm die Domestiken herbeigezogen; sie füllten scheu die Zugänge, nur Anton stellte sich dreist hinter die Alte, um auf einen Wink seines Herrn, für den er durchs Feuer gelaufen wäre, sie beim Kragen zu fassen. Die andern schauten zu, einige mit heimlicher Freude; die Römische Margret war durch ihr schneidendes, gebieterisches Wesen gar nicht besonders beliebt bei ihnen; andre teilnahmslos, aber doch immerhin durch den Umstand in eine gewisse behagliche Stimmung gesetzt, daß es etwas Neues gebe, das sie aufregte und nicht auf ihre Kosten ging.

Margret, wenn sie auch regungslos dasaß, sah das alles recht wohl; sie breitete ihre Finger um ein Unmerkliches auseinander und schaute nun ganz ungehindert hindurch und in die Gesichter der Anwesenden. Was sie sah, versetzte sie in einen heftigen innern Kampf; sie war ehrgeizig bis zur Leidenschaft, und dies Volk, das sie insgesamt nicht leiden konnte, mit dem sie beständig in Hader lag, um ihm Respekt und eine gewisse abergläubische Scheu einzuflößen, wollte über sie triumphieren! »Herr,« sagte sie, sich erhebend und strack und fest wie eine Säule dastehend, »Herr, geht einen Augenblick mit mir dort in meine Kammer und ich will Euch eine Antwort geben, die Euch befriedigen soll.«

»In deine Kammer? Mit dir allein? Daß du mir den Hals umdrehst!« rief Herr von Driesch, der unterdes bis in die Mitte der Küche vorgerückt war.

»Ew. Gnaden ist einmal wieder außer sich! Ihr denkt nicht, was Ihr sagt. Es ist nicht schön von Euch, Herr, daß Ihr mich zwingt, es hier vor dem Volke zu sagen! Ihr solltet gegen eine arme Frau besser wissen, was Schonung und christliche Liebe ist. Abei ich will es Euch sagen: Herr von Katterbach schickt mir kein Geld, sondern meinem Sohne, den er studieren läßt und gegen den er – nun, dem er es wohl schuldig ist, sich seiner anzunehmen.«

Als Margret dies – die letzteren Worte etwas unschlüssig und stammelnd gesagt hatte, setzte sie sich wieder, in ihre frühere Stellung zurücksinkend.

Herr von Driesch war durch ihr Bekenntnis keineswegs besänftig. »Und Euch soll ich in meinem Hause dulden, Euch Gesindel,« schrie er, »die Brut von dem Schuft, der mir nach dem Leben stellt? Morgen vor zwölf Uhr mittags seid Ihr aus dem Hause. Anton, du passest auf; sind sie nicht fort, sowie es zwölf schlägt, nimmst du ihre Siebensachen, den ganzen Plunder, und wirfst ihn vor die Tür!« Damit ging Herr von Driesch hinaus und warf die Tür heftig hinter sich ins Schloß.

Als Bernhard in der Dämmerung durch den Wald nach Bechenburg heimging, sah er plötzlich Lene, die Magd seiner Mutter, aus dem Gebüsche vor ihm auftauchen. Sie kam von einem Wacholderstrauche her, an dem sie, wie es schien, bis jetzt gestanden hatte.

»Du, Lene, woher kommst du so spät?«

»Ich wollte Wacholderbeeren sammeln, Ihr eßt sie so gern an den Kramtsvögeln,« sagte Lene und öffnete ihre Schürze, in der etwas zusammengerafftes grünes Zeug lag.

»Jetzt? Wacholderbeeren? Es ist ja ganz finster hier, und die Beeren sind grün und frisch; kann man die brauchen?«

Lene antwortete nicht, sondern trat hinter ihn, um ihm auf dem Wege nach Hause zu folgen. Bernhard wanderte weiter.

»Eure Mutter ist nicht ganz wohl,« sagte Lene nach einer Weile.

»Nicht? Was fehlt ihr denn?«

»Etwas Kopfweh mag's sein; sie hat sich zu Bett gelegt; 's wird nicht viel zu bedeuten haben.«

»Du erschreckst mich! Sie ist sonst nie krank! Hat sie sich erkältet?«

»Ich weiß nicht; vielleicht wohl, vielleicht auch etwas geärgert. Der gnäd'ge Herr war übel gelaunt, und da sie eine alte Frau ist und sich wohl nicht viel darum kümmern mag, ob der heute so und morgen wieder anders ist, hat sie gesagt, sie wolle nicht länger auf Bechenburg wohnen bleiben, sondern fortziehen.«

»Fortziehen? und wohin?«

»Ich weiß nicht, Herr.«

»Ei, Lene, was sind das für Geschichten? sag' gerade heraus, was ist vorgefallen?«

»Nichts, Herr, als was ich Euch gesagt habe.«

Bernhard schritt beunruhigt weiter aus; als er auf Bechenburg ankam, standen Anton und zwei andere Domestiken zusammen flüsternd auf dem Hofe. Als er grüßend an ihnen vorüberschritt, schwiegen sie und sahen ihn an, als habe er etwas an sich, das ihre Neugierde erregte. ›Um den Doktor da ist's mir leid!‹ hörte er Anton sagen. Er stürzte nun in die Küche, dem Schlafzimmer seiner Mutter zu. Es war verschlossen. Er rief und pochte. Keine Antwort. Underdes kam Lene heran, die vor dem Gute etwas hinter ihm zurückgeblieben war. Sie zog ruhig einen Schlüssel aus dem Busen und öffnete damit.

In der Kammer lag Margret auf ihrem Bette, die Blicke starr an die Zimmerdecke heftend und leise vor sich hinmurmelnd.

Bernhard ergriff ihre Hand – sie war fieberheiß.

»Mutter, was ist Euch? Mutter?«

»Seid Ihr da, junger Herr, so wollen wir fort. Hast du den Wagen bestellt, Lene?«

»Ja, Frau Fahrstein, auf morgen früh; um elf Uhr will der Bauer mit den Pferden kommen. Ihr müßt jetzt noch ruhen; Ihr seid nicht wohl, auch bin ich mit dem Einpacken nicht fertig.«

Margret lag eine Weile apathisch da. Dann fuhr sie mit der Hand über die Stirn und faßte Bernhards Rechte.

»Kind,« sagte sie, »wir müssen fortreisen; seid nicht traurig darum; die Welt ist groß und weit, und wir haben beide gesehen, daß die Sonne auch anderswo am Himmel steht, und daß ein warmes Herdfeuer flackert, wo man's anzündet. Ein Kind, das seine Mutter hat, ist nicht verlassen. Ich habe Lene gesagt, daß sie Eure Bücher einpackt. Wir haben schon so viel, daß wir uns durchschlagen.«

Bernhard warf sich ermüdet in einen Stuhl neben ihrem Bette und bewachte ängstlich ihr Wesen. Sie hatte ein Fieber, das immer heftiger wurde. Gegen zehn Uhr aber schlief sie ein; ihr Schlummer war ruhig, und die Krankheit schien vorüber ziehen zu wollen. Bernhard wagte jedoch nicht, sie zu verlassen; er beschloß, die Nacht über bei ihr zu wachen; er war überhaupt viel zu aufgeregt, um an Schlaf denken zu können.

Es ist ein seltsam unheimliches und trauriges Gefühl, wenn man den Ort verlassen soll, wo man seine Jugend oder einen großen Teil seines Lebens zugebracht hat. Das Dach, das sich so lange über uns wölbte, die Wände, die uns so lange beschützt haben, alle die Stellen, welche die Zeichen unsrer Neigungen, unsrer Tätigkeit tragen, alle die Geräte, die zur Befriedigung unsrer Bedürfnisse beitrugen, haben etwas Lebendiges, haben eine Sprache für uns bekommen. Die Eindrücke, die sie auf uns machten, waren die Hebel vieler unsrer Gedanken, und weil Gedanken den Charakter bilden, wie viele Blätter eine Blume, so ist es von dem wesentlichsten Einfluß, ob ihr in einem Schlosse, wo alles um euch weit, groß und licht, wo dieses an ein großartiges Gebiet des menschlichen Geistes, jenes an ein andres ebenso imposantes euch erinnert, oder ob ihr in einer Dorfschenke erzogen seid.

Immer aber haben unsre Umgebungen, wie sie auf uns Einfluß üben, auch von unserem Leben einen Teil zurückbekommen. Sie sind die sicheren Bewahrer von Gefühlen geworden, die ohne sie in die Winde zerflattert sein würden. Gedanken und Erlebnisse können in stumme schweigende Räume eingeschlossen sein, wie lebendige Geister durch ein Salomonssiegel in eine Flasche, wie geheimnisvolle Geschichten in dunkle Herzkammern. Ihr habt sie vergessen und ganz andres zu denken, zu tun – bis ein Zufall euch das rostige Schloß öffnen und die knarrenden Angeln aufschieben läßt. Dann weht es euch an, als wäret ihr plötzlich in einem bestimmten Moment der Vergangenheit zurückversetzt; es ist, als tönte das Wort, dem ihr einst darin gelauscht, noch von den Wänden nach.

Hat man sie nun auf immer zu verlassen, die Räume, die man mit seinen eignen Gedanken und Eindrücken lebendig gemacht hat, dann bekommen sie etwas leichenhaft Unheimliches; sie sind wie ein Körper, aus dem die Seele fortgezogen ist; die Erinnerung an sie spricht nur von einem Stück toter Vergangenheit. Was ein Tempel eurer Phantasien war, wird ein leerer Steinhaufe; und auf euren Weg nehmt ihr das Bild von einem Zustande mit, der ein Ende nahm, ohne daß – für euch – sich ein andrer an seiner Stelle entwickelte – der gestorben ist, ohne wieder zu erwachen. Der Gedanke an den Tod ohne Unsterblichkeit tritt in euer Leben.

Durch Berhards Seele mochten derartige Betrachtungen ziehen, als er die Nacht über bei seiner kranken Mutter wachte. Er saß stille und in sich gekehrt, von einem schwachen Nachtlichte angeflimmert und das Haupt zuweilen müde, mit geschlossenen Augen, auf die hohe Rückenlehne seines Armsessels zurücklegend. Mit einer größern Lampe ging Lene ab und zu, um Sachen aus dem Zimmer zu holen, die sie draußen in Koffer einpacken wollte.

»Da ist der Mantel für morgen«, sagte sie, indem sie sich dicht an Bernhards Stuhl mit den auf einer Kommode liegenden Kleidungsstücken Margrets zu schaffen machte. Dann trat sie an einen Koffer und öffnete ihn.

»Was hast du in dem Koffer zu suchen, Lene«, fragte Bernhard, ohne die Augen zu öffnen.

»Ich will nur reines Nachtzeug herausnehmen, daß er auf der Reise nicht aufgeschlossen zu werden braucht.«

»Hat meine Mutter dir den Schlüssel gegeben?«

»Ja, Herr.«

»Hast du da nicht Papiere, Lene?« fragte Bernhard einige Augenblicke später und blickte auf.

»Hier? Nein, das ist ein reines Schnupftuch.« Sie zeigte ihm ein weißes Tuch.

»Ah so, ich glaubte, ich hätte Papiere rispeln gehört.«

Es war Morgen. Margret war erwacht, wie sie behauptete, durchaus genesen. Lene sagte, sie sei mit dem Einpacken fertig und ging, sich etwas auszuruhen. Bernhard stärkte sich ebenfalls durch einen kurzen Morgenschlummer, und als es spät genug geworden, um ohne Auffallen einen Besuch im Stifte machen zu können, ging er dorthin, um von Katharinen Abschied zu nehmen, ihr die Wendung die sein Geschick genommen, mitzuteilen und mit ihr zu verabreden, wann er sie wiedersehen könne. Um elf Uhr konnte er längst wieder da sein. Er stand bald auf der Heide unter dem Baume mit dem Muttergottesbilde. Auch von ihm mußte er Abschied nehmen; von dieser Steinbank, auf der er so oft gesessen, wenn ihn das Wetter überrascht; dann hatten ihn die Zweige überdacht, daß er ganz behaglich und warm über die Ebene hinausgeschaut, wo die Tropfen niederrieselten und dunstig von dem Heidekraut wieder aufsÿtäubten, wo das leise Plätschern ihn in allerhand Träumereien gelullt hatte. Aber er hatte jetzt nicht Zeit, sie fortzuspinnen; er wollte sich nach wenigen Minuten von der Bank wieder erheben, als er hinter dem Baume, in einiger Entfernung, eine lustige Hörnerfanfare schmettern hörte; gleich darauf Hufschläge, die über die Heide pochten; zwei Pikörs in glänzender, scharlachroter Livree sprengten vorüber, hinter ihnen her kam nach einer Weile der »Meisterjäger« mit seinem großen Leid- oder Spürhunde, den eram Seile hielt, beide in vollem Laufe, der Jäger von den wüsten Rüden gezogen und gezerrt, daß er jeden Augenblick sich der Länge nach auf den Boden legen zu wollen schien. Das Tier hatte die Fährte und setzte jetzt in schweren Sprüngen, die Nase immer am Grund, lautlos an Bernhard vorüber. Dieser überschaute die Heide und sah, daß sie zum Schauplatz des ersten Aktes einer Tragödie ausersehen war, die sich durch rasche Handlung vor allen andern vorteilhaft auszeichnet und immer endet mit dem beweinenswerten Tode des einzigen, nicht ganz unvernünftigen Wesens, das auf die Bühne kommt und deshalb auch billig der Held ist.

Der Kurfürst Klemens August, Erzbischof von Köln, Hoch- und Deutschmeister, zugleich Fürstbischof von Münster und aller andern Bistümer in Norddeutschland, so gewiß, daß er nur bedauern konnte, daß Karl der Große ihrer nicht mehr gemacht, ein Mann, reicher als der Kaiser – der übrigens sein Bruder war –, baulustiger und prachtliebender als Ludwig XIV., war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn. Er jagte allerlei Wild, gleichviel, ob es zur hohen oder zur niedern Jagd gehörte; vorzüglich aber Hirsche, und nur diese parforce.

Solch eine Parforcejagd hatte heute die Heide zum Sammelplatz erlesen. Hier und da, in großen Entfernungen, sah man Gruppen von Reitknechten mit Sattelpferden aufgestellt oder weiter voranziehen. Fern am Walde trabte ein Trupp uniformierter Träger mit mehreren Sänften ihnen nach; es waren also auch Damen bei der Hetzjagd, für deren Ermüdung man vorgesehen.

Der Kern des Zuges begann an Bernhard vorüberzustürmen; es war die Meute, mindestens zweihundert Bracken. Der Spürhund hatte noch nicht angeschlagen oder Laut gegeben, sie waren deshalb noch in der Koppel und bellten, heulten, zerrten an den Seilen – schmiegten sich unter den Peitschenhieben, die wie Pistolenschüsse jedesmal in den dicksten Haufen klatschten, sprangen und schlängelten die gegeißelten Leiber – es war eine fast ekelhafte Herde, wie eine zahllose Menge Blutegel. Jäger zu Pferde mit Hörnern an bunten Fesseln, Büchsenspanner, Jagdschmiede, Sattelknechte, Piköre, Stallmeister und Bereiter mit losen Pferden, zahlloses Volk, jeder in demselben scharlachroten, mit Goldtressen reich besetzten Jagdkostüme folgten im Trab und Galopp; lachend, sich Scherze zurufend, hier einer, der seinen Klepper zu einer Kurbette spornte, dort ein anderer, der einen kurzen Signalstoß aus dem Horne schmettern ließ; so setzten alle an der großen Buche her, quer über den Weg und dann weiter, um der Herrschaft Platz zu machen. Diese kam, weniger zusammengedrängt, an Bernhard vorüber; Pagen in einer Schar, dann der Kurfürst selbst, eine hohe, imposante Gestalt, die bloß durch das Gewicht ihrer Majestät den mutigen Schimmel zu bändigen schien, umgeben von vier bis fünf Kavalieren; ihm zur Seite ritt eine anmutige glänzende Frauengestalt, mit der der Kurfürst sich unterhielt. Alle waren in demselben Anzuge; nur überflatterte die kleinen dreieckigen Hüte ein Busch von blau und weiß gefärbten Straußfedern: der Kurfürst war aus dem bayrischen Hause, und die Farben der Wittelsbacher tanzten lustig über die westfälischen Heiden.

Bernhard war verlegen und wußte nicht, ob er sein Käppchen abziehen und so die hohen Herrschaften mit einem Rückgeben des Grußes bemühen dürfe; er ward der Sorge schnell überhoben; sie ritten vorüber, ohne ihn zu beachten. Zwei Damen folgten, eine Anzahl Herren, wie ein schützender Kortege um sie geschart; dann noch eine Dame ebenfalls zwischen zwei Herren, die angelegentlichst um das Glück, sie unterhalten zu dürfen, sich bemühten. Bernhard kannte diese Dame, obwohl er sie nie in dem fast theatralischen Kostüme, in dieser roten Jagdkontusche über der langen veilchenblauen Robe, in dem kleinen runden Federhute, der so keck über den Locken hing, so stolz im Quersattel sich schaukeln gesehen. Ja, sie sah stolz und kalt von ihrer Höhe berab; in demselben Augenblicke aber, wo sie Bernhard erblickte, wie er mit entblößtem Kopfe demütig am Wege stand, begann sie rasch ein lautes, scherzendes Gespräch, dann grüßte sie freundlich, aber herablassend, mit einem Kopfnicken, wie sie jeden Landmann am Wege grüßte, ritt vorüber und ließ ihr braunes Pferd wie die geschickteste Reiterin über den Graben jenseits des Fußpfades setzen, obwohl das Tier recht gut, wie die Pferde der beiden Kavaliere, im Schritte hinübergekommen wäre. Ihre Begleiter sahen sich nicht nach Bernhard um, sie schienen nur Augen für sie zu haben. Sie waren die letzten; der Jagdzug war vorüber; in der Ferne aber begann das Heulen der Hunde in ein lautes, hitziges Gebell überzugehen; der Hirsch mußte gefunden sein und die Meute entkoppelt; die Fanfaren schmetterten jetzt anhaltend über die Gegend hin, und der ganze Troß, der sich in Galopp gesetzt hatte, schmolz immer mehr in ein unordentliches Gewirr am Horizonte zusammen.


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