Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

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Fünftes Kapitel

Es war in einer klaren und für die späte Jahreszeit ganz erträglich milden Nacht. Bernhard stand am Feuer und ließ sich von seiner Mutter den warmen Oberrock über der Brust zusammenknöpfen. Draußen wurde an die Fenster geklopft.

»Fertig, Herr Doktor, fertig?« rief es; es war die Stimme des Vikarius.

»Auf der Stelle!« – Bernhard warf eine Jagdtasche um und nahm ein Gewehr aus der Ecke, das mit einem Lauf von sehr großer Länge versehen war. Dann gab er mit einem: »Gute Nacht, Mutter! bleib meinetwegen nicht wieder auf« Margret die Hand und schritt hinaus. Draußen stand Herr Gerhards, ebenfalls bewaffnet, und auf der Straße vor dem Gärtchen Herr von Kraneck mit einem Jäger, der seine Flinte trug und zwei Hunde am Seile hielt.

Herr von Kraneck hatte Bernhard eingeladen, an einer nächtlichen Jagd auf Enten teilzunehmen. Etwa eine Viertelstunde von dem Dorfe entfernt, in der Mitte des Gebirgstales lag ein kleiner See, auf dem sich die wilden Enten jetzt in großen Scharen versammelten, um vereint von da ihren Flug in wärmere Zonen anzutreten. Durch Gebüsche und über feuchte Wiesenpfade kam man an den Rand der Wasserfläche, die ruhig ihren Silberspiegel dem Mondlichte hinstreckte, das so hell darauf stand wie ein Tageslicht, das man im Traume zu sehen glaubt. Dicht am Ufer waren mehrere Mooshütten aufgebaut; vor jeder kreischte eine zahme Ente ihre langgezogenen, melancholischen Töne in die Nacht; sie waren an Farbe ganz den wilden gleich und schwammen immer im Kreise umher, mit dem Beine an einem Pflock unter dem Wasser festgebunden. Jeder der Jäger nahm nun Besitz von einer der Hütten, die vorn nach dem See hin eine kleine runde Oeffnung hatten, wodurch man die Wasserfläche beobachten und das lange weittragende Rohr stecken konnte, bis eine Schar des Wildes von dem Rufe der Lockenten angezogen sich nahe genug niederlasse, um getroffen werden zu können.

Bernhard mochte eine Viertelstunde in seiner Hütte gesessen haben; die gefangenen Vögel klagten in einem fort; auf dem See hörte man die Schwärme ihrer wilden Schwestern aufstäuben, sah sie wie verschwimmende schwarze Flecken in der Luft kreisen und dann niederplätschern, aber immer noch zu fern. Da öffnete sich hinter dem Spähenden das schmale Weidengeflecht, das als Tür der Hütte diente, und das Mondlicht fiel plötzlich hell und voll auf die fahle Erdwand neben ihm, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Es war jemand eingetreten und stand hart an ihm; eine feste Hand legte sich auf seine Schulter.

»Sie Sie's, Herr Gerhards?«

»Nein, seid still«, flüsterte es; »es ist jemand anders; ich heiße Wendels.«

Bernhard sah eine Reihe runder Silberknöpfe auf einer Jacke glänzen; sie war der Fensteröffnung der Hütte nahe gekommen.

»Wendels? Ihr seid ein Scherenschleifer?« – Es wurde ihm unheimlich zumute, in dem engen finstern Räume mit dem heimatlösen Gesellen, und er stieß das Geflecht auf.

Der Scherenschleifer zog das Türchen wieder zu und sagte leise: »Laßt, laßt, Ihr könnt ganz ruhig sein; ich habe zwei Worte mit Euch zu sprechen. Ich bin ein Scherenschleifer; ich bin ihr Anführer, wenn Ihr das wissen wollt und es etwas zur Sache tut.«

»Und was wollt Ihr von mir?«

»Wollt Ihr das Mädchen heiraten, das Eure Mutter auferzogen hat?«

»Heiraten? Ich? Wen?«

»Lene, sag' ich Euch.«

»Mensch, seid Ihr toll?«

»Manchmal; je nachdem man mir's macht!«

»Wie kommt Ihr auf den Einfall?«

»Ich habe meine Gründe gehabt, es zu glauben. Es wäre kein dummer Streich von Euch; sie könnte Euch zu einem reichen Manne machen.«

»Mich zu einem reichen Manne? Ich glaube wirklich, daß Ihr toll seid! Erklärt Euch oder ich rufe! Ihr seid in in meiner Hand.«

»So wenig wie die Enten da drüben; habt Ihr je gehört, daß der Heidenküster Wendels gefangen sei? und es haben ihm schlauere Leute nachgestellt als Ihr seid.«

Der Bursche drückte seine Finger um Bernhards Arm wie eine Eisenschraube so fest.

»Seid ganz ruhig,« fuhr er fort; »was ich Euch zu sagen habe, ist immer des Anhörens wert. Ich will sie heiraten, aber sie will aus Eurem Hause nicht fort; daran seid allein Ihr schuld; sonst würde sie das freie fröhliche Ziehen über Berg und Heide nicht aufgeben, um sich einer alten Hexe gegenüber am Feuer zu schmoren und sich wie eine Magd aushunzen zu lassen, während sie wie eine Königin im Walde draußen sein kann. Ich schlag' Euch nun einen Handel vor; er soll Euch nur Worte kosten und dafür geb' ich Euch einen Namen, Güter, Land und Leute. Wollt Ihr?«

»Um Gottes willen, Mensch, was wollt Ihr von mir? sprecht weiter, sprecht!«

»Ihr sagt, sie könne Euretwegen nur gehen; Ihr haßtet sie; sie sei eine Scherenschleiferdirne, die Ihr nicht möchtet. Sagt Ihr das frei heraus, als ob's aus Euch selber käme; achte Tage später habt Ihr Papiere in Händen, kraft deren Ihr nichts weiteres zu tun braucht, als Eure alte Römische Margret an den lichten hohen Galgen hängen zu lassen und dann Besitz von so schönen Gütern zu nehmen, als ihrer im Lande sind. Wollt Ihr?«

»Ich soll meine Mutter hängen lassen? Ich soll ein Geschöpf, das durch Gottes Hilfe zu ehrlichen Leuten gekommen und eine Christin geworden ist, Euch Diebsgesindel wieder zutreiben? Kerl, packt Euch jetzt oder Ihr bereut es! Ihr sagt mit Wahrheit, daß Ihr mitunter toll seid.«

»Ihr habt so unrecht nicht,« sagte der Scherenschleifer nach einer Weile nachdenklich; »ich bin ein Narr, daß ich zu Euch kam, ohne mein Versprechen auf der Stelle erfüllen zu können; wie kann ich verlangen, daß Ihr mir glaubt! Gute Nacht! – Nach acht Tagen komm ich wieder zu Euch; an der Waldkapelle oben; wollt Ihr nicht hinkommen, so will ich Euch schon anderswo finden; Ihr werdet dann anders sprechen.«

Die Weidentür sprang auf und der Scherenschleifer glitt geräuschlos, wie er gekommen war, hinaus. In der nächsten Erdhütte riskierte Herr Gerhards einen Schuß; ein zweiter fiel; der Gutsherr hatte geschossen; auch Bernhard feuerte sein Rohr ab, kaum wissend, was er tat, und sprang zur Hütte hinaus. Die Hunde warfen sich laut anschlagend in das Wasser, um die Beute zu apportieren.

Sie brachten zwei Stück getöteten Wildes zurück, die Herr von Kraneck als von ihm erlegt erklärte.

»Aber eine mochte ich wohl getroffen haben,« sagte Herr Gerhards mit betrübter Stimme Bernhard ins Ohr; »ich habe ebensogut wie der gnädige Herr in den dicksten Haufen gefeuert. – Sagen Sie, Herr Doktor, konnte das nicht wohl meine Ente sein? Was meinen Sie?«

Der junge Doktor sagte und meinte nichts; er stützte das Kinn auf die Mündung seines abgeschossenen Rohres und blickte starr auf die Wasserfläche. Der Vikar ging und wog die Beute in seinen Händen, befühlte die Brust des Wildbrets, dehnte ihm die Flügel aus, dann die Schwimmflossen, warf sie auf den Rasen und sagte ingrimmig: »Alte Racker!«

»Nun, lassen Sie sie jetzt nur fliegen,« kam Herr Gerhards nach einer Weile wieder zu Bernhard; »die kriegen wir doch nicht mehr.« Der Vikar glaubte, Bernhard beobachtete die aufgescheuchten und über den Spiegel langgereckt dahinschießenden Entenschwärme. Er mußte ihm einen Stoß in die Seite geben, um ihn lebendig zu machen.

»Ei, so kommen Sie doch; der gnädige Herr mochten wohl verdrießlich werden; wir haben schlechte Jagd gemacht.«

Der gnädige Herr fanden gar nicht, daß sie so schlechte Jagd gemacht; auch waren sie keineswegs verdrießlich, daß sie allein zwei Stück Wildbret geschossen, während die andern gar nichts bekommen; was sie als vollständig konstatiert annahmen. Herr von Kraneck war, als die drei Herren heimschritten – der Jäger blieb zurück, um die Lockenten aufzunehmen – ganz außerordentlich gesprächig, Herr Gerhards desto schweigsamer. Herr von Kraneck hatte so allerlei Stücklein, auf die er bei solchen Stimmungen, um die Heiterkeit der Gesellschaft zu erhöhen, zurückzukommen liebte, obwohl Herr Gerhards das gar nicht begriff, da er nicht das mindeste Vergnügen daran fand, sie zu hören.

»Monsieur l'Abbé,« sagte Herr von Kraneck, »meine Frau Gemahlin wird die Gnade haben, uns eine Flasche Glühwein vorsetzen zu lassen; ich denke, es wird uns guttun.«

»Gott steh' uns bei!« murmelte Herr Gerhards; dann sagte er laut: »Freilich, die Luft ist etwas kalt und feucht geworden, Ew. Gnaden, und ich glaube auch, wir mochten andres Wetter bekommen, denn wenn es am Crispinustag kalt und –«

»Ja, halten Sie einmal ein, Herr Vikar, was wollt' ich auch noch sagen? – Ja, von der Flasche,« Herr von Kraneck lachte, »wissen Sie noch, wie Sie in die Flasche kriechen wollten?«

»Oh, Ew. Gnaden, es war ja ein Aprilscherz!«

»April? Nichts da, es war mitten im März; wollen Sie den Kalender sehen, worin ich's angestrichen habe? Hören Sie, Doktor, wie der Vikar hat in eine Flasche kriechen wollen. Eines Abends – wir wollten uns gerade zu Tische setzen und warteten nur noch auf den Herrn Vikar, da kommt er herein, ist sehr vergnügt und aufgeregt und erzählt, drunten im Dorfe in der Schenke sei einer, der könne ihn in eine Flasche praktizieren! Ei, ich dachte Wunders, was er habe; wir nahmen es für einen Scherz; er blieb aber dabei und wurde nur gegen das Ende der Tafel durch unsre Argumente gegen die Möglichkeit des Umstandes, daß der Hals einer Flasche sich so erweitere, um einen ganzen Vikar durchschlüpfen zu lassen, ein wenig zweifelhaft. Am andern Abend aber kommt er – Herr Vikar waren wieder in der Schenke gewesen – triumphierend heim: Ew. Gnaden, 's ist nun aber ganz gewiß wahr, der Karl Habicht unten in der Schenke hat mich ausgelacht mit meinem Zweifeln und gesagt, er habe schon den Pastor von Werdenohl in eine Flasche gesetzt; und das kann jedes Kind sehen, der ist doch noch viel dicker als ich! – Ei, du meine Güte, hat jemand solchen Glauben in Israel gefunden? Nein, Monsieur l'Abbé, man kann wohl eine Flasche in einen Vikarius praktizieren, aber nimmer einen Vikarius in eine Flasche!«

Herr von Kraneck lachte laut über sein Stücklein, auch Bernhard mußte lächeln, aber er fand nur, daß dies Beispiel von Leichtgläubigkeit und arglosem Vertrauen einen neuen und ganz harmonischen Zug zu dem rührend kindlichen Charakter des gutmütigen Vikars füge.

Man hatte das Dorf erreicht, und Bernhard war von dem gnädigen Herrn mit der Einladung, eine der Enten oben im Schlosse verzehren zu helfen – während der Jäger ihm die andre morgen für seine Mutter zustellen solle – verabschiedet worden. Margret war noch auf; sie könne doch nicht viel schlafen, sagte sie. Auch Bernhard, der im höchsten Grade durch das Gespräch mit dem Scherenschleifer aufgeregt war, floh lange der Schlaf, als er in den Federn lag; endlich siegte die Ermüdung und seine Augen schlossen sich.

Fast eine Stunde später wurde die Klinke seiner Tür leise aufgehoben; dann bekam diese einen kurzen und heftigen Stoß, so daß sie ganz geräuschlos halb offen schnellte, und von einem Oellämpchen angeflimmert, vor dem sie bedeckend die Hand hielt, trat Lene in das Zimmer. Sie stellte das Lämpchen auf den Tisch, dann ein Buch vom größten Formate davor und näherte sich sacht dem Lager Bernhards. Dann schlug sie die Arme über der Brust zusammen, stand unbeweglich wie eine Statue und schien mit der größten Spannung seinem Atemholen zu lauschen. Endlich durchfuhr sie ein krampfhaftes Zucken oder eine innere heftige Bewegung; sie warf sich über das Bett, ihren linken Arm sacht über seine Brust und den Kopf neben dem seinen auf das Kissen legend, daß beider Atem sich vermischte. Bernhard flüsterte im Traume einen Namen.

Lene fuhr zurück und wieder empor; ihre Glieder zitterten; sie ging und nahm die Lampe wieder, wobei das Buch umfiel; der Schein drang jetzt ungehindert und voll bis zu den Wimpern des Schläfers.

»Ha, was ist? Wer ist da? Du?« fuhr er auf.

Lene stellte ruhig das Licht wieder hin und kniete auf den kleinen Teppich vor dem Bette nieder, indem sie Brust und Arme daran legte.

»Ich muß mit Euch reden,« sagte sie leise: »nehmt es nicht übel, ich mußte es, diese Nacht noch. Ihr habt mit ihm gesprochen?«

»Mit ihm? – Ach ja, mit dem Wendels!«

»Habt Ihr mir nichts zu sagen?«

»Nein, Lene, als daß du mit dem Gesindel dich nicht abgeben sollst.«

Bernhard war jetzt erst so vollständig erwacht, daß er mit Überlegung und Besinnung sprechen konnte; darum schwieg er eine Weile. Mahnte er das Mädchen zu eifrig ab, mit dem wilden Waldgesellen je wieder in Verkehr zu treten, so konnte er Hoffnungen in ihr erwecken, deren Aufkeimen ihm im höchsten Grade unangenehm gewesen wäre; tat er es nicht, so war sie imstande, der Versuchung nachzugeben, welche sie in die unstete und schweifende Lebensart zurücklockte, und vielleicht an einem innern, angeborenen Triebe ihres Blutes einen mächtigen Verbündeten hatte.

»Höre, Lene,« sagte er, »du bist ein ordentliches und verständiges Mädchen; was sollte ich dir zu sagen haben? Du weißt, was du als Christin geworden bist und wirst dir nicht einfallen lassen, mit dem Heidenvolk davonzulaufen und dich ins Verderben zu stürzen.«

»Was für einen Namen habt Ihr eben im Traume ausgesprochen?«

»Ich? Im Traume? Hab' ich gesprochen? Was hast du denn zu horchen?«

»Liebt Ihr sie?«

Bernhard fuhr mit der Hand über die Stirn.

»Es kommen einem allerhand Gedanken im Traume,« sagte er; »ich weiß nicht, was du meinst.«

»Es ist gut,« sagte Lene mit einer tonlosen Stimme; »ich hab' es wohl gedacht. Es ist gut; ich weiß, woran ich bin.«

»Hör', Lene, geh' jetzt, es schickt sich nicht, daß du hier bist.«

»Wir sind noch nicht zu Ende, Herr,« sagte Lene und schlug ihre Hände vor's Gesicht; ein Strom von Tränen quoll hindurch und tröpfelte auf die Kissen. Sie legte den Kopf darauf.

»Um Gottes willen, was hast du, Mädchen? Was fehlt dir?«

»Ein Wort! O nur ein Wort – ob Ihr das Fräulein liebt?!«

»Das Fräulein? Lene, ich bin nicht viel reicher und vornehmer als du!«

»Ist das der einzige Grund, daß Ihr nicht an sie denkt?«

»Nun ja.«

Lene drückte ihren Kopf tiefer in die Kissen.

»Willst du jetzt gehen und ruhiger sein? Denk' an Gott, Mädchen, das ist das Beste.«

»Der hilft viel!« sagte sie, sich aufrichtend und ihre Augen mit der Schürze trocknend; ihre Stimme war fester geworden und etwas Zorniges, Verbissenes in ihrem Tone.

»Aber Euch kann ich helfen,« fuhr sie fort. »Ich bin ein armes Mädchen, das niemand hat, der sich um es kümmert.«

»Sprich nicht so; hast du an uns nicht Freunde?«

Lene sah schweigend in sein Gesicht. – Ich wollte, Ihr wäret es; ja, ich habe es zuweilen gehofft; wir hätten glücklich und ruhig zusammen sein können, und wir wären beide so geblieben, wie man uns aufgezogen hat, und das ist das Beste. Jetzt werden unsre Wege weit auseinander laufen; Ihr werdet über ein oder über zwei Jahre Euch schämen oder tun, als wäret Ihr nicht zu Hause, wenn man Euch sagt, die arme Lene sei da und wolle mit Euch sprechen. Es macht nichts; ich werde vielleicht doch gerächt sein, es sieht aus wie Glück, was, ich Euch geben will und ist vielleicht doch keines. Freilich, wenn Ihr sie liebt – ja, dann ist es eines. –: O Gott! –« sie drückte wieder schluchzend ihr Gesicht in die Kissen.

»Lene, Lene, armes Mädchen – ich weiß nicht, was ich dir sagen soll – aber wahrhaftig, du mußt jetzt gehen.«

»Sogleich,« sagte sie, »hört erst: in der Nacht, bevor wir von Bechenburg fortgezogen und Ihr mich in dem Koffer Eurer Mutter kramend fandet, habe ich wirklich, wie ich lange ahnte, etwas darin gefunden, das Euch betrifft. Ihr hörtet Papiere rispeln; als Ihr aufsaht, steckten sie in meiner Tasche. Ich las sie draußen in der Küche, ich durchflog sie, meine Sinne nicht recht mächtig, und deshalb weiß ich nur noch, daß damit bewiesen war, Ihr seiet der Sohn eines verstorbenen Barons aus dem Bergischen; Ihr heißt eigentlich von – ja, das war ein wunderliches Wort, das ich eigentlich nicht lesen konnte; aber Ihr seid in Paris geboren. Wie es weiter eigentlich zusammenhängt, weiß ich nicht, aber Margret ist Eure Mutter nicht, Eure Mutter ist auch eine Adlige von – von – der Name steht in den Papieren, ich weiß ihn nicht mehr; ich war zu sehr in Hast und Angst; auch weiß ich nicht recht, wie Margret es angefangen hat, Euch zu stehlen.«

»Mein Gott – aber wo sind die Papiere – wo hast du sie?«

»Sie sind gut aufgehoben. Ich dachte so: Margret wird sich hüten, sie Euch zu geben, weil sie zugleich gestehen muß, daß sie Euch Euren rechten Eltern nicht wiedergegeben oder wenigstens Euch Euren Namen vorenthalten hat, wenn Ihr auch von Euren Eltern ihr übergeben seid; bei ihr sind sie nicht sieher. Ich schlich mich sacht über die Stiegen in den großen Saal auf Bechenburg; dort ist hinter der Kaminecke links eine Füllung der Lambris, die sich verschieben läßt, und dahinter ein leerer Kasten, von dem niemand weiß. Ich habe sie hineingelegt und Ihr möget dort nur suchen lassen.«

»Um Gottes willen, weshalb sagtest du dem Wendels davon, Unvorsichtige? Warum gabst du mir nicht gleich die Papiere? Das war schlecht von dir, Lene!«

»Schlecht? sagt Ihr, schlecht? Ich dachte, wenn – o sagt nicht so, Herr, daß ich schlecht gegen Euch gewesen wäre.«

»Nun, was dachtest du denn?«

»Ich dachte, es könne vielleicht – einst – für uns beide viel, viel besser sein, wenn Ihr nie etwas von dem, was da geschrieben stände, erführet; ich hätte dann still die Schriften liegen lassen, wo sie jetzt liegen, und niemand auf Erden hätte davon eine Ahnung bekommen. Jetzt aber, nun Ihr – nun Ihr sie –« Lene stockte und weinte wieder heftiger; dann hob sie ihr feuchtes, gerötetes Gesicht empor und sagte: »Herr, das eine versprecht mir, daß Ihr nie in Eurem Leben vergessen wollt, daß ich es bin, welche jetzt Euch ein Glück gibt, das Euch freilich gehört, das Ihr aber ohne mich nie zu sehen bekommen hättet. Das sollt Ihr mindestens nicht vergessen!«

»Wie könnte ich das vergessen, Mädchen? Du kannst von mir verlangen, was du willst.«

»Und was Wendels anbetrifft, um dessentwillen Ihr mich schaltet,« unterbrach sie ihn, »so dacht' ich nicht, daß er Euch davon sagen würde, da er Euch gar nicht Freund ist; aber ich mußte ihm alles sagen, er ist unser Oberhaupt und hat gewisse Sprüche, mit denen er uns alles abfragen kann. Wir müssen dann tun, was er immer will. Mehr darf ich Euch nicht sagen. Jetzt will ich gehen.«

Lene stemmte den Arm auf die Kissen, legte die Wange auf die flache Hand und blickte in Bernhards aufgerichtetes und freudestrahlendes Antlitz: Es wurde so still in der Kammer, daß man beider Herzen pochen hörte. Das Bernhards schlug in einer berauschenden Freude; das Lenes klopfte so von Schmerz belastet, so voll bitteren Gefühls von ewiger Unseligkeit, daß es matt und wieder mit heftigem Zucken gegen die Gewalt anarbeitete, die es zu zersprengen drohte. Der Schmerz war zu groß; ein Ausdruck von Abgespanntheit und geduldiger Apathie beschlich ihre Züge.

»Mädchen, wie siehst du mich so traurig an?« Bernhard ergriff ihre Hand und drückte sie mit dem gutmütigen, aber schlechten Troste: »Sei nicht so traurig! Ich will alles tun, was ich kann, um dich glücklich zu machen – du sollst nur verlangen dürfen, was du wünschest – sei nicht so traurig, Lene; aber in der Tat, jetzt mußt du gehen.«

»Herr, Ihr treibt so – denkt, es läge einer im Starrkrampf im Sarge; würdet Ihr so treiben, daß nun der Deckel zugenagelt würde?«

Sie erhob sich, nahm die Lampe und ging leise aus der Kammer.

Ihre traurigen Worte hatten Bernhards Freude gedämpft; bald aber gewann diese mit einem angemessenen Entzücken wieder die Oberhand; er war also nicht der Sohn, der Bastard Katterbachs, wie dieser ihm an jenem Abende im Walde zugeflüstert hatte. Wie eine Zentnerlast fiel es ihm vom Herzen! Er schaute durch die Fenster, ob es nicht bald tage; mit dem ersten Sonnenstrahl wollte er zum Schlosse hinauf, um eines von Herrn von Kranecks Pferden zu entlehnen, dann windschnell nach Bechenburg, um in Besitz der Dokumente zu kommen – seine Gedanken flogen den Hufen seines gespornten Gaules vor – über die Heide zum Stifte, zu Katharinen – er sah sich vor ihr stehen, zitternd, atemlos, seine Urkunden in der Hand – er sah sie selber zittern – blaß und rot werden – er sah, er fühlte sie in seinen Armen liegen. – »O Gott, o Gott, wie kann ein Mensch doch glückselig sein!« jubelte er auf und schlug dann still die Hände zu sammen, als ob er beten wolle. Ein Husten tönte von jenseits der Küche her durch die nächtliche Stille. Es war Margret.

»Meine Mutter!« stammelte Bernhard betroffen. »Ich denke nicht mehr an sie, noch an die arme Lene. Was soll aus meiner Mutter werden? – Sie habe mich gestohlen, sagte Lene – Herr des Himmels, es geht nicht!«

Er sank in die Kissen zurück, seine Brust wogte, von einem gewaltsamen Atem bewegt, keuchend auf und ab – er rang mit sich in einem inneren Kampfe, der ihm den Schweiß auf die Stirne trieb. Eine Schar von unseligen Gedanken flog durch sein fieberndes Hirn; seine Mutter hatte ihn seinen Eltern genommen – weshalb – konnte sie einen andern Grund gehabt haben, als ihn dem geheimnisvollen, aber sicher tödlichen Verhängnis zu entreißen, das die andern Kinder der Schemmeyschen Familie, sein älteres Brüderchen und seine Schwester betroffen? Er dankte ihr das Leben also – nur ihr, glaubte er; sie hatte ihn wie ihr eignes Kind großgezogen, sie hatte alle die unsägliche Last auf sich genommen, welche die Erziehung eines hilflosen Geschöpfes einer Mutter aufbürdet – gegen ein fremdes Kind hatte sie alle die Geduld, die hegende und pflegende Sorgfalt geübt – er mußte ihr ja noch mehr dankbar sein als einer rechten Mutter. Und nun, was sollte aus ihr werden, wenn er mit seinen Ansprüchen hervortrat? Würde die Welt, würden die Gerichte glauben? Würde es nicht heißen, sie habe, von Katterbach bestochen, ihn unterschlagen? Würde Herr von Driesch, der sie nicht leiden mochte, den Umstand verschweigen, daß sie Geld von jenem bezogen habe, und wenn der auch, würden es die Domestiken, die alle es erfahren und gewiß schon längst ein Gerede in der Gegend von Bechenburg daraus gemacht? Würde es nicht heißen, wenn Margret ihn aus bloßer Fürsicht seinen Eltern entzogen habe, weshalb sie denn nicht jetzt, nun er erwachsen sei, das Geheimnis entdeckt habe, um die Güter nicht in fremde Hände kommen zu lassen?

Diese Frage machte ihn einen Augenblick stutzig und ließ ein Schatten von Argwohn gegen Margret in ihm selber aufsteigen. Aber Margret, sagte er sich wieder, hing mit einer so mütterlichen Zärtlichkeit an ihm; er war ihre einzige Freude, die sie auf der Welt hatte; gewiß war es ihr unmöglich, sich von ihm zu trennen und ihre Mutterrechte an ihn aufzugeben; sie war eine alte Frau, die nicht lange mehr zu leben hatte und wahrscheinlich gedachte, auf ihrem Todesbette ihm die Papiere auszuhändigen. Sie hatte freilich fortwährend Geld von Katterbach bezogen; aber es war ja eine Pension, die ihr auf die Güter verschrieben, wie sie ihm oft gesagt, obwohl er nicht recht begriffen, weshalb sie gegen andere ein Geheimnis daraus gemacht hatte; und er wußte zudem, daß sie nichts davon für sich behalten, sondern es ganz für seine Studien verwandt habe. – Die arme Frau, wenn es möglich sei, sie den Gerichten zu entziehen, sollte er sie vor der ganzen Welt prostituieren? Und es war auch nicht möglich, sie den Gerichten zu entziehen; seine Ansprüche ließen sich sicherlich nicht ohne Rechtshändel und ohne ihr Zeugnis durchsetzen. – Es war unmöglich, es konnte ihr den Hals kosten!

Bernhard war aus allen seinen Glücksträumen niedergestürzt und fühlte sich wieder so arm, so verlassen wie früher. Nur eine Hoffnung tauchte in ihm auf, die er sich im nächsten Augenblicke jedoch zum Vorwurf machte; aber dennoch blieb sie: Margret konnte bald sterben. Dann wollte er auftreten mit seinen Ansprüchen – aber dann, wie vieles konnte sich geändert haben bis dahin? Würde Katharina dann nicht längst ihn vergessen haben? – Er drückte schluchzend sein Gesicht in die Kissen. Dann bestürmte ihn ein anderer Gedanke: War er nicht vielleicht Katharinen, ihrer Liebe zu ihm, schuldig, daß er hervortrete und ein Geheimnis enthülle, von dessen Entdecken vielleicht auch ihr Glück abhing? – Ach Gott – war er ihrer Liebe sicher? War er nicht ein Tor, ein vermessener Geck, den sie mit ihrem Zorn, ja mit ihrer Verachtung bedräut, wenn er es sich einfallen lassen würde, zu glauben, sie liebe ihn anders, wie ihn eine Verwandte lieben würde? Sie war so kalt und stolz an ihm vorübergeritten – Bernhard sank in seine Verzweiflung zurück, als er daran dachte. Aber sein Entschluß stand fest und unerschütterlich. Er wollte seine Pflicht tun gegen die, welche ihm das Leben am nächsten gestellt. Er wollte fürs erste abwarten, ob der Mensch, der ihn in der Entenhütte aufgesucht, ihm die Papiere nach dem Ablauf der versprochenen Zeit übergebe; wenn nicht, wollte er sich selber auf den Weg machen, um sie in Sicherheit zu bringen.

Der Morgen dämmerte. Bernhard hatte sich erhoben und schritt in seinem Zimmer auf und ab; als die Sonne emporstieg und ihre ersten Strahlen durch das Fenster in sein blasses, resigniertes Gesicht fallen ließ, hörte er Margret rufen. Lenes Stimme antwortete nicht wie sie pflegte, wenn Margret um diese Zeit nach ihren Dienstleistungen verlangte. Er ging, um Lene zu wecken – aber ihre Kammertür stand offen, Lene war fort; ein Teil ihrer Habseligkeiten war mit ihr verschwunden, der andere lag in ein Bündel zusammengeschlagen auf ihrem Tische.

»Was habt ihr miteinander gehabt?« fragte Margret, als sie es hörte, mit einer scharfen und etwas zornigen Betonung, während sie Bernhard scharf ins Gesicht sah.

»Nichts, Mutter!«

»Nichts? Solch ein Nichts ist eine hinreichende Antwort; geht, ich will aufstehen, setzt mir erst den Schemel hierher vors Bett, so ! – Es ist vielleicht gut, daß die Dirne fort ist«, murmelte sie, als Bernhard aus der Kammer war.

Bernhard war es schwer geworden, das Wort Mutter über seine Lippen zu bringen. Alles kam ihm verändert vor, tot und öde um ihn, Margret fremd und kalt, das Haus wie ausgestorben; es war ihm krank zumute. Die acht Tage, binnen welcher Wendels wiederkommen wollte, schlichen so träge an ihm vorüber, wie ebensoviele Monden; er war jeden Abend an der Waldkapelle oben – aber Wendels kam nicht; weder von ihm noch Lene war eine Spur zu entdecken.


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