Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

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Achtes Kapitel

Am anderen Tage nachmittag wanderte Bernhard wieder den Weg zum Stifte. Er war tief, tief betrübt. Fast ohne Fassung warf er einmal auf dem Wege sich in das Heidekraut, rupfte mechanisch einen Strauß von Enzian und verkümmerten Vergißmeinnicht zusammen, und dann sahen ihn die abgerissenen Blüten so eigen traurig an, daß er das Gesicht in die Kräuter drückte und heftig schluchzte. Die Hoffnung, daß er bei Katharinen Trost finden würde, erhob ihn wieder; er raffte sich auf, wusch die Tränen in dem nächsten Bache ab, der wie eine breite, grüne Schlange mit seinen Grasufern über die braune Fläche sich gelegt hatte, und schritt hastig weiter. Er wollte ihr alles sagen, was ihn drückte; er wollte einmal so rückhaltslos mit ihr reden, wie er es noch nie über seine angeborene Verschlossenheit vermocht hatte. Aber als er vor ihr stand – sie war so heiter, so lächelnd freundlich, etwas verschämt im Andenken über ihr letztes Verschwinden; er konnte seinen Kummer nicht über die Lippen bringen. Ihre Heiterkeit wies seine so ganz verschiedene Stimmung auf sich selbst zurück; er fühlte sich ihr fremder denn sonst. Er hätte sie etwas ärgern mögen, weil sie so heiter war, weit lieber, als ihr noch eine Freude durch den Beweis seines rückhaltslosesten Vertrauens zu machen. Kurz, er vermochte es nicht und flüchtete vor sich selbst hinter die Ausrede, er wolle sie in ihrer heiteren Stimmung nicht stören.

Katharina merkte aber bald seine Traurigkeit, und weil diese sonst oft in seinem Verhältnis zu seiner wunderlichen Mutter ihren Grund hatte, lenkte sie das Gespräch auf diese, um ihm so schonend wie möglich seinen Kummer abzulocken.

»Ich muß gestehen,« sagte sie im Verlaufe dieses Gesprächs, »ich würde mich wenig wundern, wäre Ihre Mutter auch eine noch so seltsamere Frau als sie jetzt ist; ja, ich glaube nicht, daß ich selber noch diesen scharfen und ruhigen Verstand, welcher der Grundton unter all ihren wunderlichen Meinungen bleibt, mir bewahrt haben würde, wäre meine Jugend von denselben Schrecken begleitet gewesen wie die Ihrige; ich würde es nicht ertragen haben; ich wäre wahnsinnig geworden.«

»Nun,« sagte Bernhard, »ihre Jugend war keine frohe, soviel ich weiß; es liegt ein besonderes Unglück auf unserer Familie; es ist ein Fluch, den sie sich zugezogen hat – und gegen den es vergebens ist, anzukämpfen«, setzte er seufzend hinzu.

»Mein armer Junge! Lassen Sie uns ein Paar« – sie stockte und lächelte, dann fuhr sie fort: »Lassen Sie uns ein Paar anhänglicher Familienglieder sein die aus dem gebannten Kreise heraustreten; – Sie mißverstehen mich nicht; ich meinte, Sie sollten sich anhänglich und vertrauend an Ihr Adoptivtantchen halten; dann kommen Sie vielleicht heraus. Ja, Sie verstehen mich. Sie sind ein guter, guter Mensch, und, nicht wahr, Sie sind wie ein Tor? Ich will Ihnen ganz vertrauen; Sie werden kein erbärmlicher Geck sein und meinem Betragen Auslegungen unterschieben, die mich lächerlich machen würden, die aber bei Ihnen Verdorbenheit bewiesen. Nein, Sie tun es jetzt nicht, und auch später, wenn das Leben und allerhand Abenteuer Sie mißtrauischer gemacht haben, werden Sie es nicht tun! O Gott, ich müßte meinen guten Jungen dann verloren geben!«

»Glauben Sie, gnädiges Fräulein, ich könnte jemals etwas denken, was einen Schatten auf Sie würfe?«

»Nein, ich hoffe, Sie sind unfähig dazu; aber wenn es jemals der Fall wäre – o ich könnte meine Verachtung nicht stark genug ausdrücken; es wäre gemein, niedrig – abscheulich wäre es. – Ich will wie eine Verwandte für Sie sorgen; ich will Sie wie einen Bruder liebhaben; ich will jemand haben, für den ich sorgen kann wie ein Weib; an dem ich eine geistige Stütze habe, denn meine Umgebung reicht nicht für mich aus; meine Gedanken gehen darüber hinaus und bewegen sich in einem Felde, das nur Sie auch betreten; aber wenn ich auch so gedankenarm wäre wie meine Köchin – es wär' doch dasselbe, ich will jemand haben, der mein ist und dem ich wie einem geduldigen Kamel alles aufpacken kann, was an Liebe und Wärme, an Drang, zu pflegen und zu hegen, zu beschützen und zu leiten, in mir ist und übersprudelt!« Sie fuhr bei diesen Worten heftig in seine Locken und küßte ihn auf die Stirn.

»Aber wenn Sie Kamel deshalb glauben oder jemals sich einbilden, ich wäre verliebt in Sie, ich wäre eine Törin und würfe mich Ihnen an den Hals, so sind Sie nicht nur ein eitler Geck, sondern Sie sind etwas Schlimmeres, ein verdorbener Mensch, der von einem reinen und edlen Verhältnis keinen Begriff hat. Sie wissen, was ich von der Liebe halte; ich mag freilich zu streng darüber urteilen, denn ich kenne Sie nicht und fühle auch kein Organ dafür in mir, so daß ich sie nie kennenlernen kann; aber das weiß ich, daß sie keinen Wert hat, weil keine Dauer; keine echte Tiefe, weil keine Ruhe; daß sie nicht, glücklich macht, weil ihr beides fehlt, und daß sie endlich viel zu sehr mit allerlei physischen Dingen in Rapport steht, als daß ich sie je achten könnte. Dafür halte ich alle Bande des Blutes für das Höchste im Leben; sie machen ein Verhältnis, das innig, tief und ewig ist, und dessen Pflichten die heiligsten auf der Welt sind. Ich könnte mich nie als Braut, recht wohl aber als Frau denken. Und Ihnen, ja wahrhaftig Ihnen müßte auch wunderlich zumute sein – es müßte Ihnen lächerlich schlecht stehen, wenn Sie den Liebhaber spielen sollten.«

»Wenn ich ihn spielen müßte, freilich; aber wenn ich es nun wirklich wäre?«

»O, das ist's eben, Sie können es nicht sein; ich weiß, Sie fühlen wie ich und können es nicht.«

Bernhard glaubte in der Tat zum großen Teile ebenso zu fühlen, wie das Stiftsfräulein mit einer gewissen Heftigkeit es ausgesprochen hatte. Er gab ihr deshalb endlich recht, obwohl er ihr allerhand Paradoxen einwarf. Aber im Grunde war ihm etwas in ihrer Rede nichts weniger als erfreulich. Zwar hatte er sich nie klar und bewußt gesagt, Katharina liebe ihn; aber dennoch wurde ihm ein wenig gewissenbeschwert bei ihrer entschiedenen Protestation zumute. Das Ende war übrigens, daß er sie jetzt nur noch mehr liebte. Seine Neigung schoß im ersten Augenblick zurück wie eine arme, spielende Welle, die ein kalter Windstoß plötzlich zurückwirft; aber sie kehrte höher angeschwollen gleich darauf wieder. Katharina war in seinen Augen nur größer und edler, ihre ganze Erscheinung nur erhabener geworden.

Und sie – ein großer jungfräulicher und vielleicht auch ein gewisser aristokratischer Stolz – wäre so tödlich verletzt worden, wenn sie hätte glauben müssen, Bernhard gebe ihrem Betragen eine demütigende, eine gemeine Auslegung, daß sie alle Seelenkräfte aufbot, um sich zu überzeugen, Bernhard sei durchaus unfähig dazu, er sei die Unschuld, die Reinheit, die Kindlichkeit selbst; er sei ein Engel. Ja, man konnte es ja schon seinem Aeußeren, dieser bescheidenen Milde, diesen spiegelklaren, blauen Augen, deren Innigkeit so tief war wie der tiefste Bergsee, diesen weichen klaren Zügen seines glänzend schönen Gesichtes ansehen, daß er ein Engel sei – sie ward über Nacht bis zum Sterben verliebt in ihn, bloß deshalb, weil er nie die dumme Einbildung haben konnte, daß sie es sei –

O süße Logik eines Frauenherzens!

Katharina lenkte das Gespräch nach einiger Zeit dahin zurück, von wo es ausgegangen. Bernhard äußerte sich über seine Mutter heute noch weniger als sonst; aber er sagte mit einer Betonung, als kämen die Worte tief aus einem wunden Herzen, daß eine Mutter nie eine Sünderin sei.

»Eine Sünderin? Was wollen Sie damit sagen, Bernhard?«

Bernhard schwieg.

»Ich glaube fast,« fuhr das Stiftsfräulein fort, »Sie tun Ihrer Mutter, welch guter Sohn Sie auch immer sind, doch in Ihrem geheimsten Denken unrecht, lediglich weil Ihnen der Schlüssel zu all ihrem Wesen fehlt.«

»Den glaub' ich zu haben; Gott hat ihr ein tiefes Gemüt gegeben, das ebenso viel Kraft schlauen Verstandes als Schwäche der Vernunft hat, wo Leidenschaften zu bekämpfen sind. Sie ist ein großartiger, gewaltiger Charakter; der Mann und das Weib sind gleich stark in ihr.«

»Lieber Bernhard, der Mensch wird wie ihn die Welt erzieht; ich achte Ihre Mutter, aber ich glaube, daß die Großartigkeit ihres Charakters nur Folge großartiger Schrecken sei, die sich ihrer jugendlichen Phantasie eingeprägt haben. Sie wäre vielleicht ein sanftes, weiblich liebenswürdiges Weib geblieben, hätten sie nicht unbegreifliche Ereignisse gewaltsam in einen Gedankenkreis gezogen, dem sie bei aller Verstandeskraft doch nichts weniger als gewachsen ist.«

»Schreiben Sie jenen Ereignissen auf meines Großvaters Hofe eine solche Gewalt zu?«

»Auf Ihres Großvaters Hof? Kennen Sie denn die wunderbare Geschichte mit den Kindern nicht?«

»Mit den Kindern? Mit welchen Kindern?«

»Ich kann mir denken, daß Ihre Mutter nicht davon sprechen mag.«

Das Fräulein blickte, einen Augenblick nachsinnend, durch die Fensterscheiben und zuckte mit ihren langen Wimpern. »Sie wissen,« sagte sie dann, »daß Ihre Mutter in Diependahl wohnte, wo jetzt der Herr von Katterbach haust, der den armen Driesch so mißhandelt hat.«

Ueber Bernhards Gesicht zuckte der Ausdruck einer plötzlichen, krampfhaften, inneren Bewegung; er barg sein Gesicht in der Fläche seiner Hand und horchte in dieser Stellung der folgenden Erzählung.

»Damals,« sagte Katharina, »wohnten die Schemmeys noch dort. Der letzte Schemmey war ein lustiger Bruder, leichtsinnig, gutmütig, schwach, wie diese Art Menschen ist; ausschweifend wahrscheinlich auch. Vor Ihrer Mutter soll er immer einen gewissen Respekt bewiesen haben, sagt man; jedenfalls war ihre Stellung im Hause eine sehr gute, und sie hatte manches Vorrecht, vorzüglich, als die alte Frau von Schemmey noch lebte; diese Frau von Schemmey war eine seltsame Person, die ich Ihnen hier nicht weiter schildern will; sie zeichnete sich durch Stolz, Verschwendung und Härte aus und hatte einen schlechten Ruf durch diese Eigenschaften. Nun, sie mag sie in der Jugend nicht gehabt haben – aber auch sie hatte die Welt erzogen. Sie hatte ihren alten Truchseß von Schemmey mit dem größten Widerwillen genommen; man hatte keine Umstände mit ihr gemacht; die Folge war, daß auch sie keine Umstände mit ihrem Gemahl machte und ihm und allem, was seinen Namen trug, jedes mögliche Unheil auf den Hals wünschte. Sie war eine von Katterbach. Ihr beständiges Streben soll gewesen sein, die Güter der Schemmeys an ihres Bruders Sohn zu bringen und zu dem Ende jede Heirat ihres Stiefsohnes, des einzigen, den der alte Truchseß nach des letzteren Tode hatte, zu hintertreiben. Daß eine Heirat ihres Sohnes sie vom Hauptgute vertrieben hätte, um, mit einem Wittum abgefunden, einer regierenden Schwiegertochter Platz zu machen, mag ein anderer Grund gewesen sein, der sie bestimmte. Kurz, der letzte Herr von Schemmey heiratete nicht, solange sie lebte; als sie aber gestorben war, noch in demselben Jahre. Seine Frau ward gesegnet und gebar einen gesunden und starken Knaben. Als das Kind sechs oder sieben Wochen alt war, hatte Herr von Schemmey seine Frau zum erstenmal ins Freie geführt und kehrte nach einer Weile mit ihr in das Haus zurück; es war ein stiller Nachmittag, die Domestiken, außer einem alten Rentmeister, der im Speisezimmer auf den Herrn wartete, befanden sich draußen auf dem Felde. Während der Herr von Schemmey nun mit dem Rentmeister spricht, geht die junge Mutter, um nach dem Kinde zu sehen. Im ersten Zimmer sitzt Ihre Mutter am Fenster und näht; im zweiten steht die Wiege des Kindes; der einzige Eingang dorthin ist durch dies erste Zimmer; nur hat das zweite, das Kinderzimmer, eine Tapetentür zu einer verborgenen Treppe, die aber schon lange nicht mehr geöffnet worden ist.

Stille, Ew. Gnaden, das Kind schläft, sagt Ihre Mutter, als Frau von Schemmey vorüberschreitet, indem sie ruhig das Gesicht von ihrer Arbeit emporhebt.

Frau von Schemmey geht sanft in das mit grünen Rouleaus verhangene Gemach, tritt an die Wiege, schlägt die weißen Vorhänge zurück, reißt die Decke auf und schreit heftig auf: »Margret, Margret, wo ist das Kind?«

In der Wiege, gnädige Frau – es schläft in der – Jesus Maria, wo ist das Kind?

Die beiden Frauen sehen sich mit starren Blicken an, Frau von Schemmey mit todesbleichem Gesicht und blauen Lippen, Ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. Das Kind ist fort. Als Herr von Schemmey den der Schrei Ihrer Mutter herbeigezogen, in das Zimmer tritt, fällt die letztere, Ihre Mutter, in Ohnmacht.

Das Kind war und blieb fort; alles Suchen alle Nachforschungen, alle, auch die schärfsten Verhöre aller Domestiken leiteten auf keine Spur, die sein rätselhaftes Verschwinden erklärt hätte. Wenn auf jemand Verdacht fiel, so mußte es natürlich allein Ihre Mutter sein; Frau von Schemmey sprach ihn auch wirklich in ihrem ersten Schmerze laut aus. Aber Margret behauptete fortwährend mit der größten Ruhe, das Kind sei anfangs sehr unruhig gewesen, sie habe sich damit auf einen Stuhl gesetzt, um es durch Hin- und Herschaukeln einzuschläfern und als es endlich in Schlaf gefallen, es in die Wiege gelegt, um sich an ihre Arbeit zu setzen. Sie habe niemanden gesehen und könne auch nicht sagen, daß sie etwas gehört habe. Allerdings sei ihr einmal gewesen, als ob die Tapetentür sich geöffnet habe; wirklich gehört habe sie es nicht, aber es sei ihr einmal so halb durch den Kopf gegangen, als wenn es in dem Augenblick geschehe: sie habe auch aufgesehen, die Tür habe aber ganz ruhig, wie immer, fest in der Wand gelegen. Die Tapetentür war wirklich in ihren Riegeln und Angeln so eingerostet, daß das Schloß nicht ohne Hilfe eines Schmiedes sich aufbringen lassen wollte und ein großes Geräusch machte, als es sich in den Angeln drehte.

Welchen Beweggrund sollte Ihre Mutter auch gehabt haben? Nein, es war töricht, einen Verdacht gegen sie auszusprechen, die bei dem traurigen Ereignisse sich ebenso tief ergriffen zeigte wie die eigene Mutter des Kindes. Herr von Schemmey schnitt auch sehr heftig und fast erzürnt jedes Wort, das eine argwöhnische Hindeutung auf Margret enthielt, für immer ab. Er nahm überhaupt, so erschüttert er war, an den vielen Nachforschungen und Vermutungen den wenigsten Anteil; ja, sie schienen ihm unangenehm zu sein; man glaubt, Herr von Schemmey habe seine eigenen Gedanken von der Sache gehabt; Gedanken, die nur Margret, Ihre Mutter, ahnen mochte; sie war ja, außer Herrn von Schemmey selbst, von allen die längste Zeit im Hause gewesen und hätte allerhand erzählen können von dem, was früher darin vorgegangen und welcher Gemütsart gewisse Leute gewesen, die jetzt freilich mit den Füßen zuerst herausgetragen.

Nach einigen Tagen fand man das Kind wieder. Ein starker Geruch leitete auf die Spur; eben unter jener verborgenen Treppe unter einem Haufen Holzscheite lag es; es sah schrecklich aus; das Gesichtchen blau, gedunsen im Nacken; der Hals war dem armen Wurm umgedreht.

Nach einem Jahre ward Frau von Schemmey wieder entbunden; es war ein Mädchen, ein Kind, das gleich ziemlich schwach und armselig gewesen sein soll. Von den Eltern wurde jetzt die größte Sorgfalt angewendet, es zu hüten. Die Tapetentür ward vermauert; Herr und Frau von Schemmey schlugen ihr eignes Nachtlager in dem Zimmer vor der Kinderstube auf; Margret mußte die heiligsten Versicherungen geben, das Kind nie aus den Augen zu lassen oder es der Mutter zu bringen. Alle früheren Domestiken wurden gewechselt, eine Maßregel, die Herr von Schemmey übrigens gegen seinen Willen, nur seiner Frau zuliebe, ergriff. Es ging mehrere Wochen gut; die kleine Therese ward stärker und gedieh sichtlich; da, in einer Nacht, hören die schlafenden Eltern einen Schrei, noch einen, hell und kreischend – es war Margrets Stimme. Diese lag ohnmächtig neben der Wiege, in der das Kind laut wimmerte und röchelte. Das Nachtlicht war verlöscht. Als Margret wieder zu sich kam, war einer ihrer Arme gelähmt; auch hatte sie anfangs die Sprache verloren, sie sah wie innerlich zerstört, wie wahnsinnig aus. Erst am andern Tage bekamen ihre Reden Zusammenhang; sie hatte etwas bröckeln, dann ein leises Schlürfen gehört, war an die Wiege gesprungen und sah nun, wie sich ein dunklos, fremdes Wesen, flockenartig weich in seinen Umrissen, darüber beugte und mit den Händen dem Kinde nahe kam, das in diesem Augenblicke aufwachte und wimmerte. Sie hatte in Todesangst wie von Verzweiflung gefaßt, sich auf die Gestalt geworfen, da habe sie das Bewußtsein verlassen, sagte sie, doch habe sie zuerst noch einen Schmerz, ein Gefühl, als ob sie Eis geworden, an der linken Seite gehabt. Ihr linker Arm war mehrere Wochen lang lahm.

Als Margret ihre Aussage machte, sah sie mit einem gewissen bedeutsamen Blicke Herrn von Schemmey an und sagte, ihm allein könne sie mehr sagen. Herr von Schemmey bedachte sich einen Augenblick unschlüssig und ängstlich; dann, wandte er sich ab und sagte, es sei genug.«

»Aber das Kind?« fragte Bernhard.

»Das Kind war nach dieser Nacht wie verwandelt; es mußte Ihm angetan sein; es kränkelte und verkümmerte und nach zwei Monaten war es wo sein Brüderchen.«

»Das ist eine grausige Geschichte, gnädiges Fräulein; war die alte Frau von Schemmey in ihrem Leben ein solches Ungeheuer, um einen Schlüssel zu dem zu geben, was sie nach ihrem Tode getan zu haben scheint?«

»Ich habe Ihnen gesagt, was ich von ihr weiß; aber die Geschichte selbst habe ich zehnmal in meinem väterlichen Hause erzählen hören; ich war damals fast noch ein Kind, aber sie hat sich mir tief eingeprägt.«

»Hatten die Schemmeys keine Kinder mehr?«

»Ja, noch eins; um es zu retten, waren sie nach Paris gezogen und dort hatte Frau von Schemmey ihre Niederkunft gehalten. Aber das Unheil verfolgte sie auch dahin; die näheren Umstände sind hier nicht so bekannt geworden wie die, welche ich Ihnen erzählte; man weiß nur, daß das Kind ein Knabe war, daß es ebenso rätselhaft verschwand wie das erste, und man sagte damals, es sei mit abgeschnittenem Hälschen oben auf einem alten Kleiderschranke liegend wieder gefunden worden.«

»O Gott, und meine arme Mutter mußte auch das noch erleben?«

»Sie war mitgenommen worden nach Paris.«

»Nein, davon habe ich in der Tat nie eine Ahnung gehabt,« sagte Bernhard; »die arme Frau! Es wäre schlecht, wenn jetzt noch der leiseste Gedanke eines Vorwurfs gegen sie in mir aufkeimte – solche Leiden, solche Schrecken können das festeste Gemüt zerrütten und geben, wenn sie mit Kraft bestanden werden, eine Art Verklärung. Eine Dornenkrone ist doch immer eine Krone. Und nun ihr eigner Sohn – warum habe ich das nicht früher gewußt!«

Bernhard war sehr erschüttert und versank in sich selbst; er hatte Augenblicke, wo die Welt für ihn nicht da war und wo er mit seinen Gedanken in einer andern sich befand, in der es freilich höchst seltsam, kraus und bunt hergehen mußte, nach den wunderlichen Satzschnitzeln zu urteilen, die man alsdann mit großer Mühe als Antworten aus ihm herausholte. Diese Welt umspann ihn auch jetzt mit ihren Passionsblumenranken, mit ihrem absorbierenden Blütenduft. Er überließ dem Stiftsfräulein die Unterhaltung zu führen, und erst, als es Zeit war, zu gehen, fuhr er auf und bedauerte, daß der Nachmittag hin sei, weil er ihr so viel zu sagen gehabt.

»Ich würde Sie über den Hof begleiten,« sagte Katharina, »aber ich weiß, Sie haben doch nicht zwei Worte herausgebracht, wenn ich auch der halben Weg mit Ihnen mache. Sie waren heut einmal wieder wie eine Wasserpumpe, die zwar kristallklares, frisches Bergwasser führt, aber nur unten im tiefsten Grunde; man arbeitet sich so müde und erhitzt, es herauszubringen, daß man's nicht mehr trinken mag, wenn es endlich kommt. Adieu, mein guter Junge; seien Sie hübsch wohlgemut; mit Gott! – Gehen Sie, es ist spät.«

Bernhard küßte ihre Hand und wanderte durch die Dämmerung nach Bechenburg zurück.


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