Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

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Fünftes Kapitel

Der Grundzug im Charakter Bernhards war ein sinniges, tiefes Gemüt, das still und ohne äußern Prunk wie eine zarte, rotblühende Erika auf den Heiden Westfalens erwachsen. Seine rätselhafte Abstammung, deren Geheimnis die Mutter nicht lüften wollte, diese still und wechsellos dahinfließende Kindheit – die Mauern eines alten verfallenen Ritterschlosses, dem nur der dunkle Wald drüben seine Grüße zurauschte, an dessen Toren nur der kalte Nordwest, wie ein durchfrorener Pilger, um Einlaß pochte, den ihm die klappernden Bohlen nicht verwehrten; – die wunderlichen Bilder, welche die abergläubische und abenteuerliche Gestalt der Römischen Marget in einer empfänglichen Phantasie wecken mußte; die Erziehung, die eine solche Frau nur geben konnte, alles das hatte seinem Gemüt eine ganz eigentümliche Richtung erteilt. Wer zweifelt, daß die fessellosen Aussprudelungen desselben originell, tief wehmütig und voll echter Poesie gewesen, wenn sie auch formlos waren? – Sie waren voll der Poesie, die auf der Heide wächst, die mit schlichten, gelben Ginsterblüten sich begnügen muß, voll Muttersorge über das Nest der Lerche sich beugt und das Rieseln und Pfeifen des Windes in den Aesten einer einsamen Föhre belauscht; die aber, wenn sie ihren Aufschwung nehmen will, gleich zum blauen Himmel hinauf muß, weil die Heide keine andern Höhen hat.

Als Bernhard größer geworden und von den Schulen zurückgekommen war, begann sein Leben reicher an Ereignissen zu werden, als seine Kindheit gewesen. In der Nähe von Bechenburg war ein adliges, freiweltliches Damenstift, zu dem er häufig von seiner Mutter gern gesehene Ausflüge machte. Wir wollen ihn auf einem derselben begleiten.

Es war ein heißer Nachmittag am Tage nach Herrn von Drieschs Ankunft auf seinem Gute. Als Bernhard aus dem Forste trat, der nach zwei Seiten hin das Gut umgibt, flimmerte die Luft wie lauter Silberfäden über den Pflanzen der Heide. Sie lag wie ein großes braunes Tuch ausgespannt vor ihm, von den Blüten der Immortelle hier und da rötlich überhaucht; dazwischen hielt eine Orchis den stämmigen Stengel mit der Blütenperücke dem Luftzuge entgegen oder ließ die Gentiane ihre tiefblauen Glocken im Winde spielen. Den Horizont besäumten blaue Waldungen; aus näheren Baumgruppen lauschten einzelne Strohdächer hervor, hier und dort auch mehrere zusammen, von denen das größte dann zum Teil mit Ziegeln gedeckt war, ein ansehnlicheres Gehöft. Auf der Mitte des Weges stand eine alte Buche mit einem Marienbild am Stamme und darunter eine Steinbank. Bernhard rastete dort, denn es knüpften sich liebe Erinnerungen für ihn an diese moosige Steinplatte; er überblickte seinen Pfad, den er so oft jetzt, trotz Regen und Wetter, trotz prellender Sonnenstrahlen zurückgelegt hatte; er kannte jeden Stein, jeden Baumstumpf am Wege, und jedes Ding hatte ein besonderes Auge, mit dem es ihn ansah; vor allen das Muttergottesbild, das nicht schlecht gehauen, wenn auch etwas verwittert war und ihm mit den Zweigen, die es oben schützten, zu sprechen schien. Als Knabe hatte er es oft genug mit dem Kopfe nicken gesehen, vorzüglich in der Dämmerung; und wenn er fortgegangen, winkten ihn die Zweige zurück.

Er schritt weiter, immer über die Heide fort; als er fast eine Stunde zurückgelegt, kamen Wiesengründe mit Erlengebüsch, dahinter eine Mühle an einem von Schwertlilien umgebenen Weiher, auf dem Enten in der grünen Wasserlinsendecke schnatterten und lange Fäden aus dem Grunde zogen. Am Ufer stand ein zwölfjähriges Mädchen mit hochblondem Lockenhaar und wasserblauen Augen, das einen zierlichen Knicks machte und dem jungen Herrn eine Kußhand gab; sie war nett gekleidet, ein Drahthäubchen mit Bandschleifen, ein weißes Fürtuch – sie sah nicht aus wie ein Bauernmädchen, sondern wie eine Kammerzofe in Miniatur.

»Wie heißt du, Kleine?« fragte Bernhard.

»Müllers Veronika«, antwortete sie ohne Anstand.

»So, Veronika? Dann ist wohl die gnädige Frau Aebtissin deine Pate?«

»Ja, Onkel, sie hat mir noch heute etwas geschenkt.« Die Kleine zeigte ein auf Pergament gemaltes Bildchen mit einem Rand, der künstlich durchbrochen war, wie die sauberste Filigranarbeit. Man sah, die Kleine war gewohnt, von vorüberwandelnden Fremden angeredet zu werden und zugleich zu einem jüngferlich sittigen Betragen angehalten worden.

Bernhard hatte die Immunitas sancti Cyriaci oder die Abteifreiheit betreten, wie eine am Wege stehende Steinsäule zeigte; nun kam ein langer, hölzerner Steg, der wie eine Brücke über sumpfige Wiesengründe führte. Die ganze Fläche unten war blau von Vergißmeinnicht; an den tieferen Stellen standen kleine Wasserflächen, in denen gelbe Nymphäen sich auf ihrem breiten glänzenden Blatte schaukelten, wie eine Orange auf ihrem Fruchtteller. Geißblatt und weiße Winden überrankten das Weidengebüsch, das sich hier und dort an den Steg drängte und wie müde Arme seine Aeste auf das Geländer gelegt hatte: es war ein Spaziergang, wie ein Stiftsfräulein mit Trillers Gedichten in der Hand ihn nur wünschen konnte. Der Steg endete an dem Gehölze, das unmittelbar die Abtei umgab; ein recht gut gehaltener Forst, in dem sich an vielen Bäumen saubere Täfelchen mit Nummern zeigten, als Beweis, daß die Aebtissen ihren Förster hielt, der ein sehr ordentlicher Mann war und unter tausend unnützen Umständlichkeiten – Kapuzinerarbeit nennt man's bei uns – seinen Mangel an eigentlicher Arbeit zu verbergen suchte. Hier und dort waren Alleen angelegt und Points de vue ausgeschlagen; in alle Bäume am Wege waren Namenszüge und brennende Herzen eingeschnitten, auch Verse an Phyllis oder Chimene in Ueberfluß, wo sich irgendeine glatte Rinde zeigte. Auf einer Rasenbank in einer der Alleen saß eine Stiftsdame, ein Buch, in dem der Wind blätterte, in der Hand. Sie stand auf und entfloh bei der Annäherung des jungen Mannes in das Gebüsch wie eine scheue Hinde; doch sah Bernhard bald nachher, wie sie in einem Seitenwege, der parallel mit dem seinen lief, gleichen Schritt mit ihm hielt und zuweilen durch die Lücken des Unterholzes verstohlene Seitenblicke nach ihm aussandte. Wo die Wege zusammentrafen, war sie verschwunden.

Vor dem Tore begegneten ihm drei Zofen, die Arme umeinander schlagend, wie drei Grazien, mit feinen Drahthäubchen und glänzend weißen Schürzen, deren Bruststück nonnenhaft bis an die Schultern hinaufging, daß sich das gekrönte Herzchen von Goldfiligran mit den blutroten Tiroler Granaten in der Mitte desto glänzender abhob. Bernhard zog artig sein Käppchen vor ihnen; sie gingen knicksend und mit niedergeschlagenen Augen an ihm vorüber, aber drei Schritte weit hinter seinem Rücken hörte er sie lebhaft flüstern und kichern.

Der Hof war groß und von den Häusern der Stiftsdamen umschlossen, von denen immer eines von dem andern durch den Garten, der es umgab, getrennt war. Die Kurien waren ansehnlich, jede mit einer hohen Treppe und ihrem Wappen über der Eingangstür. Nur die Abtei hatte auch einen Balkon und bekam dadurch den vornehmern Charakter; auch stand eine ausgespannte, schwerfällige Karosse davor, und ein Knecht war beschäftigt, das Leder einer Sänfte abzuseifen. Hinter ihr sah man die drei spitzen Türme und die Giebel der Abteikirche sich emporheben. Das Ganze bot ein stilles Bild: das Klappern von Flachsbrechen, das aus den Oekonomiegebäuden scholl, und einige Pfauen, die auf dem Hofe gellend das Wetter anschrien, machten den einzigen Lärm darin, wenn man die Kanarienvögel nicht rechnet, denn an jedem Fenster hingen mindestens drei Käfige voll dieser gelben Musikanten.

Bernhard öffnete ein Gitter vor einer der Kurien, die rechts nahe bei der Abtei lag, und schritt über den gelben Sand des Blumengartens, an verblühten Aurikelbeeten her, durch zwei lange Reihen von Blumenscherben mit herrlichen, farbenglühenden Nelken, bis er auf der obersten Treppenstufe stand. Die Tür wurde von einer Magd geöffnet, die ganz ihre Bauerntracht beibehalten hatte, dieselbe, die auch der alten Margret so gut stand, eine seidene Nebelkappe mit silberner Tresse, ein Tuchrock mit schweren Falten, an den Aermeln offen, die Jacke von demselben Stoff und ein schweres Silberkreuz an einem Samtbande auf der Brust.

»Ist das gnädige Fräulein zu Hause? Guten Tag, Anne- Marie, wie geht's?« sagte Bernhard, durch die halbgeöffnete Tür schlüpfend.

»Ach, junger Herr, ja wohl, gewiß wohl, sie hat schon zweimal gefragt, ob Ihr noch nicht da wäret. So, hier nur herein, ich will sie gleich rufen.« Bernhard pochte das Herz, als er das Empfangszimmer, den sogenannten Saal betrat, den Anne-Marie aufschloß. Weshalb? wußte er selbst nicht; er sah sie ja zweimal in jeder Woche, seine Gönnerin, und stolz war sie auch nicht, sondern die Freundlichkeit selber; aber er war beklommen, als er wieder in dem bekannten Räume wartete und, ohne zu schauen, seine Blicke auf den ernsten Herrn im blauen Fürstenmantel heftete, der über dem Kamine hing und auf die Domtürme von M. wies, die man hinter einem zurückgeschlagenen Vorhang im Hintergrunde des lebensgroßen Gemäldes erblickte. Es war der letzte Fürstbischof, der Oheim der Stiftsdame, die Bernhard erwartete. Sonst war das Zimmer einfach; weiße Wände, an der Decke das Gebälke sichtbar, aber mit Stukkaturarbeit bedeckt, Kanapee und Stühle von rotem Plüsch mit gelben Nägeln beschlagen; auf der Kommode Porzellanfiguren, ein Topf mit Potpourri in der Mitte und eine bronzene Uhr, an die sich ein flötender Schläfer lehnte mit einem Geschöpf zu seinen Füßen, das ebensogut Fidel, das treue Tier, als ein Lamm sein konnte – das und noch zwei Konsolen zu beiden Seiten des Kanapees mit großen blauen Vasen aus chinesischem Porzellan machten das Ameublement aus, alles in dem hübsehen und phantasiereichen Geschmack, der nicht allein das Bedürfnis befriedigt sehen will durch eckige, schneidende Linien, wie wir sie vorziehen, sondern auch geschweifte Schönheitslinien, Schnitzarbeiten und Schnörkel verlangt, zum Zeichen, daß ein übriges vorhanden, das zugunsten der Zierlichkeit verwendet werden mag.

Das Stiftsfräulein trat herein. Sie begrüßte ihn mit einem sehr feierlichen Knicks und einem freundlich-ernsten: »Guten Tag, wie geht es Ihnen, Herr Doktor?« – so hieß in den guten alten Zeiten jeder, der von der Universität heimkam – und setzte sich dann. Anne-Marie stand an der Tür, um auf ihre Befehle zu warten, als diese gegeben waren, ging die Alte und brachte gleich darauf eine Flasche Landwein mit einer Zuckerdose und einem Teller voll geschälter Mandelkerne und Traubenrosinen herein; ein andrer voll duftiger blauer Pflaumen, von der eignen Hand des Fräuleins für ihren Gast gepflückt, stand schon auf dem Tische. Sobald Anne-Marie aus der Tür war, stand die Dame wieder auf, ergriff mit ihren spottkleinen weißen Händen die beiden Bernhards und sagte: »Wie geht's meinem Jungen?« mit einem viel weicheren Tone, als ihre erste Begrüßungsformel trug. Bernhard sah sie mit einer schweigenden Innigkeit an und es konnte nun nur ein innerliches Seelenergötzen verursachen, ein Paar dieser treuen blauen Augen so in das andre blicken zu sehen, als ob es darin die Seele wiedersuche, die aus dem eignen hinüberschlüpfe.

Habt ihr wohl je eine Stiftsdame gesehen? ich meine eine rechte ordentliche Stiftsdame, die von einer jetzigen gerade so verschieden ist, wie ein jetziger Johanniter-Ordensritter von den panzerklirrenden Söhnen des heiligen Johannes von Jerusalem, damals, als sie noch den weißbekreuzten Mantel trugen und ihrer zwei auf einem Pferde saßen. Nein, eine solche Stiftsdame habt ihr noch nicht gesehen, ihr seid zu jung dazu, ihr seid sogar jung und eure Gedanken sind Wickelkinder; wenn sie schon im Jahre 1830 ein Schattenspiel angeschrien haben, so ist es viel, sehr viel.

Ich muß euch die Stiftsdame beschreiben. Sie trug ein weißes faltiges Kleid, das die volle, schöne Büste bis an den Hals hoch hinauf umschloß und von der schlanken Taille bis über den Fuß niederhing; es war schade für den Fuß. Die Aermel waren an den Ellbogen offen und mit langen herabhängenden Spitzen-Engageanten geziert; auch die Schürze hatte einen breiten Spitzenbesatz. Das Haar war zum Teil von dem Wimpel bedeckt, was wieder schade war für das goldne, fabelhaft reiche und seidenweiche Haar. Der Wimpel ist ein weißes gefälteltes Tuch von sehr dünnem, Linon genanntem Zeuge, das, um das Kinn gelegt, auf dem Scheitel zusammengenestelt wird und dann seine zwei Enden lang auf den Rücken hinabhängen läßt. Am Nacken, mitten zwischen den Schultern, war ein schmales Stück schwarzen faltigen Zeuges befestigt, das bis auf den Boden hinabflatterte, ganz wie ein Domherrnmantel.

Das Stiftsfräulein – sie hieß Katharina und war eine geborne Reichsfreiin von Plassenstein – war eine große, volle und blühende Gestalt. Das Gesicht war ein regelmäßiges Oval, die Stirne hoch und schön geschwungen, das große blaue Auge hatte etwas Träumerisches; wenn sie die langen Lider schloß, konnte man deutlich darunter die Bewegungen sehen, die der Apfel machte. Die Nase war lang und fein geschnitten, und der Mund klein; die ganze Partie umher hatte einen weichen kindlichen Charakter behalten. So nannte jeder das Fräulein von Plassenstein schön; freilich, man hätte manches gegen die unbeschränkte Anwendung dieses Beiworts auf ihre Züge einwerfen können, zum Beispiel, daß die Röte der Gesundheit nicht auf ihre Wangen sich beschränkte, ferner, daß die Nase, ganz scharf betrachtet, eine geringe Abweichung von der geraden Linie zeige, wie das gewöhnlich bei klugen Leuten der Fall ist. Aber, wer hätte das bei einem Gesichte, wie das ihrige, bemerkt? Es verschwand unter dem Eindrucke, den das Ganze machte, und dieser Eindruck war im höchsten Grade anziehend. Das Alter der Frauen ist zwar ein Geheimnis, außer bei den armen Prinzessinnen, die im Staatskalender stehen; aber man konnte es bei ihr doch ungefähr bestimmen. Sie hatte vor zwei Jahren ihre eigne Kurie bekommen; das geschah, wenn die Stiftsdamen fünfundzwanzig Jahre zählten; so lange mußten sie als Residenzfräulein bei einer ältern Chanoinesse wohnen: also war sie mindestens siebenundzwanzig Jahre alt. Aber Menschen mit umfassendem Geiste, wie der Katharinens war, sind jung und alt zu gleicher Zeit; sie haben alle inneren Schätze und Gefühle des Kindes, seine lebhaften Empfindungen und seine Lust an allen kräftig gefärbten Erscheinungen sich gerettet und zugleich durch Intuition alle Erfahrungen des Alters vorweggenommen. Sie umfassen auf einem Standpunkte das ganze Leben. Das ist das Geheimnis des Genies.

Uebrigens hatte Katharina von Plassenstein mehrere Gesichter; am auffallendsten war das, wenn sie auf dem Klavier phantasierte; es war nicht das schönste, denn sah man auch in ihren emporgeschlagenen Augen dann eine innere, Zeit und Erde überflügelnde Erhebung, so war doch damit der Ausdruck eines Stolzes verbunden, der sie unschön machte. Sie fühlte sich alsdann zu sehr als Kaiserin über ein Gebiet von Tönen und Gefühlen, über eine ganze, ihr gehörende Welt; dies nahm ihren Zügen an gewinnendem Reiz, was es ihnen an imponierender Hoheit zurückgab. Sie sah dabei aus wie eine Prätendenten-Majestät. Schöner war ihr Gesicht beim Nachsinnen, wobei leicht ihre Wimper naß wurde. Sie bekam dann etwas Veledaartiges, das die ernste Ordenstracht nur noch mehr hervorhob; auch dann, wenn sie erzählte, was meist höchst seltsame Geschichten waren, die man besser bei Tage, als an dunklen stürmischen Abenden hört. Sie hatte noch ein Gesicht, das hatte Bernhard aber erst einigemal gesehen; einst, als er Abschied von ihr nahm, um eine Reise zu machen. Dann sah sie so freundlich – sie sah aus wie eine trauernde Lachtaube.

Sie hatte kaum eine Weile mit ihrem Gaste sich unterhalten, als der Schäfer an der Bronzeuhr flötete; gleich darauf schlug die Glocke der Abteikirche vier Schläge an und das Vesperglöckchen läutete. Ein Kammermädchen trat ein und küßte ihrer Herrin die Schürze. Dann stellte sie sich mit dem Brevier derselben an die Tür, um ihr zum Chore zu folgen. Bernhard begleitete sie dahin, durch einen etwas feuchten und modrig duftenden Kreuzgang, der das enge, immer im Schatten begrabene Quadrum neben der Abteikirche mit seinen gotischen Arkaden umschloß. Am Ende desselben führte eine hohe Steintreppe durch eine kleine Spitzbogentür auf das Chor, das wie eine Emporkirche die hintere Hälfte des Münsters einnahm und eine Art zweiten Stockwerks darin bildete, vorn nach dem Altar hin mit einem niedern Geländer geschlossen, aus dessen Mitte ein großes steinernes Kruzifix hervorragte. Die andern Fräulein saßen zumeist schon in ihren geschnitzten Chorstühlen; keine verriet, daß sie dem Begleiter Katharinens irgend Aufmerksamkeit schenke. An der linken Seite des Chors, etwas in die Kirche hinausragend, war der Erker, in dem die Frau Aebtissin steckte, von den Fräulein ungesehen, aber mit scheuen Bücken bewacht; ihm gegenüber an der rechten Wand der Kirche hing das lebensgroße Bild des Schutzheiligen, recht gut in Oel gemalt; einige der älteren Damen schienen eine besondere Andacht zu ihm zu tragen, wie sich aus ihren tiefen Verbeugungen, als sie daran vorübergingen, und ihren Blicken, die zuweilen darauf hafteten, schließen ließ. Sankt Cyriakus war aber auch ein schöner Patron, blühend und hoch gewachsen; er saß in goldner Rüstung auf einem bäumenden und schnaubenden Apfelschimmel, der staunenswert gut im Futter gehalten war.

Als die Vesper geendet, waren Katharina und Bernhard fast die letzten, die das Chor verließen. Sie gingen eine Zeitlang in dem schmalen und düstern Kreuzgang auf und ab. Bernhard besah die vielen Epitaphien, die an Wänden eingemauert waren, die meisten in dem schlechten Jesuitenstil des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, einige aber weit älter, deren Unterschrift kaum mehr leserlich und auf denen der Donatar noch im Ringelpanzer und der Halsberge kniete, einen Helm von der Form des elften Jahrhunderts neben sich; ihm gegenüber sein wohl verhülltes steinernes Ehegemahl und hinter ihr eine ganze Reihe kleiner Burgfräulein wie Orgelpfeifen nach ihrer Größe geordnet; Katharina wußte von den meisten irgendeine seltsame Geschichte. »Das hier ist ein Miles von Schwalenberg«, sagte sie: »Sie sehen ihn allein, ohne Gespons. Er hatte in seiner frühesten Jugend einer Verwandten Treue gelobt, die einer verarmten Familie abgenommen und von seinen Eltern aufgezogen war; er hatte ihr hundertmal geschworen, sie allein solle alle seine Güter haben, und werde dann reich genug sein, wenn sie ihm einwarf, sie sei zu arm, um an eine Verbindung mit ihm denken zu dürfen; die schwalenbergischen Besitzungen waren ausgedehnt und das Gesohlecht gehörte zu den angesehensten jener Zeit. Aber eines Morgens war Agnes verschwunden; seine Eltern hatten sie in diese Abtei gesehickt, die damals noch ein Nonnenkloster war und eine strenge Klausur hatte; und nun half kein Beten, Agnes mußte den Weihel nehmen. Der junge Edelknecht sollte eine andre Jungfrau aufsuchen, mit der er den Namen fortsetze, aber ein Ritter des zwölften Jahrhunderts wußte sein Wort zu halten; er wollte nicht und es war nichts mit ihm anzufangen. Er wartete den Tod seiner Eltern ab und dann war das erste, was er tat, daß er alle seine Güter ohne Ausnahme diesem Kloster schenkte, mit der Bedingung, daß bei der nächsten Wahl Agnes zur Aebtissin gekoren werde, worauf der Konvent natürlich gern einging. So hatte Agnes doch seine Güter bekommen. Er selbst behielt sich nur eine Jahrrente und seine väterliche Burg vor, auf der er die Bücher der damals berühmtesten Dichter abschrieb. Eines davon besitze ich, das Sie nächstens sehen sollen; seine Handschrift ist nicht besonders; aber die Bilder werden Sie freuen. Er war der letzte Schwalenberg; darum ist das Wappen umgekehrt. – Sehen Sie, dieser hier ist mein Held,« fuhr sie fort, indem sie auf einen Ritter deutete, der ganz aufrecht an der Wand stand, dunkelbraun bemalt und auf zwei gelbe Hündchen seine Eisenstiefel stellend, »das ist Bernhard von Horstmar, auch der letzte dieses Dynastengeschlechts; er war ein Hauptanführer im zweiten Kreuzzuge und der westfälische Coeur de Lion; was mir ihn so lieb macht, ist, daß er neben seiner Tapferkeit so klug und brav war, und gewiß nicht seinen Vater totgeärgert hätte, wie der englische. – Aber nun kommen Sie, Sie haben ja alle diese Geschichten schon einmal gehört.«

»Aber Sie wissen, ich bin wie ein Kind, das am liebsten die Geschichte wieder hört, die es schon kennt.«

»Gut, Sie sollen alles noch einmal hören, aber nur draußen in der frischen Luft; es ist abscheulich feucht und dunstig hier.« Sie gingen durch einen von Rebenlaub umzogenen offenen Spitzbogen in einen großen Gemüsegarten hinaus, der durch einen Baumhof am Ende eine fast unabsehbare Verlängerung erhielt.

»An jenem Brunnen, dort unter den drei Mispelbäumen,« erzählte Katharina weiter, »spukt es in einigen Nächten des Jahres: vorzüglich zwischen Weihnachten und Dreikönigsfest will abends keiner der Leute mehr hinaus, um frisches Wasser zu holen. Man sagt, eine weiße Nonne komme dann dort aus der Kurie des Dechanten her, gehe quer durch die beiden nächsten Blumengärten trotz Geländer und Hecken, dann über den Hof, durch das Tor, bis an diesen Brunnen, wo sie einen Eimer Wasser nach dem andern schöpfe und nur zuweilen einhalte, um die Hände zu ringen. Einmal im Winter hat ein Knecht behauptet, eine ganze Flut Wasser habe, zu einem Eishügel gefroren, morgens neben dem Brunnen gelegen, der, das könne er beschwören, am Abende vorher nicht dagewesen sei.«

»Was mag sie denn daraus schöpfen wollen?«

»Die Sage behauptet allerlei Widersprechendes; ich weiß es nicht«, sagte Katharina.

Sie gingen an einer Hecke entlang. An der andern Seite kam ihnen das lesende Fräulein von Vorhin entgegen, das vor Bernhard entflohen war. Sie erwiderte seinen Gruß mit großer Nachlässigkeit, schritt aber jetzt mit erhöhter Anmut und Würde drüben auf und ab. Auf Katharinens Gesicht zeigte sich ein Anflug von lächelndem Spott, sie wußte, daß jenseits an der Hecke kein Pfad herlief, sondern daß das majestätische Fräulein mühsam mit den Füßen durch ein weiches Feld voll Kraut und Rüben sich arbeiten mußte. Katharina lenkte bald darauf in einen andern Pfad ein, bis sie eine Rasenbank erreicht hatten, die in dem Baumhofe angelegt war und sich an den mächtigen Stamm einer prachtvollen Buche lehnte, die über die birnen- und äpfeltragenden Nachbarn weit hinausragte. Diese Höhe und der majestätische Umfang des Wipfels hatte sie wahrscheinlich vor dem Untergange gerettet, als man den Baumhof anlegte. Katharina setzte sich und fuhr in ihren Erzählungen fort. Bernhard stand vor ihr und bemerkte, wie sie einigemal verstohlen nach einer Stelle des Baumstammes blickte. Er brachte sein Auge näher an die Rinde und fand mit einem Bleistift darauf geschrieben:

Wenn du anhero kommst, o göttliche Celinde,
Und in dem Schatten ruhst von dieser breiten Linde,
Bedenke, daß dein Hirt so manche Sternennacht
Mit kläglichem Gestöhn an diesem Stamm vollbracht.

Darunter war ein von zwei Pfeilen durchschossenes Herz gezeichnet. Bernhard fühlte einen Anflug von Aerger über die Verse, weil er an Katharinens Miene zu sehen glaubte, daß sie auf diese selbst von irgendeinem vornehmen und zierlichen Anbeter gemünzt seien; auf ihrem Gesichte zeigte sich übrigens wieder derselbe Ausdruck lächelnden Spottes, den eben das krautdurchwatende Fräulein hervorgerufen hatte.


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