Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

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Zehntes Kapitel

Man beneidet das Glück der Jugend, weil ihr nie die Hoffnung ausgehe, und diese jugendliche Hoffnung selbst hat man mit den unzerstörlichen Tierköpfen verglichen, von denen die Fabel erzählt, daß sie nach jedem Streich, der einen fortgenommen, neu wieder angewachsen seien. Nichts ist unrichtiger als dies. Wer das Leben und den mannigfachen Wechsel der Geschicke beobachtet zu haben nicht alt genug ist, läßt nichts leichter fahren als alle Hoffnung. Er weiß nicht, welchen wunderbaren Zufällen das Leben zum Spielball dient, er ist geneigt, überall die bekannte Regel als waltend anzunehmen, und, wenn diese Regel ihm keine Chancen verspricht, da die Welt mit mit Brettern vor sich zugenagelt zu sehen, wo erfahrene Leute noch hundert Aussichten wissen, die der erste beste Zufall aufreißen kann.

Freilich, ein Erfolg – und der jugendliche Mut glaubt an kein Hindernis mehr; er glaubt die Welt in seiner Hand zu haben, oder ist mindestens immer das Milchmädchen, das mit dem Korb voll Eier zum Markte geht und sich aus ihnen einen Meierhof mit Vieh und Pferden, mit Land und Leuten ausbrütet, bis die Eier zerplatzt auf dem Boden liegen. Aber nur ein Mißgeschick, wo er sicher gerechnet zu haben glaubt – und er liest über seinem Lebenstore die Inschrift, die Dante über dem Portal der Hölle erblickte.

Bernhard las mit trüben Augen dieses Todesurteil aller Hoffnung, das sich in seine Seele schrieb, als er sinnend auf der Steinbank saß, an der Katharina von Plassenstein mit dem Kurfürsten von Köln im glänzenden Zuge soeben stolz vorübergeritten. Er, der heimatlos, mit dem Gefühl der völligen Verwaisung aufs Geratewohl mit einer wunderlichen alten Frau in die Welt hinausziehen mußte; – und sie, die in der ganzen aristokratischen Herrlichkeit ihrer Lebensstellung, mit einem herablassenden Gruß – fast als kenne sie ihn nicht – vorüberzog, die ihn mit seinem Kummer hinter sich ließ, um im königlichen Prunk, mit schmetternden Fanfaren, auf den schnaubenden Rossen vorüberzubrausen, an den Scharen staunender Bauern her, die glaubten, der Herrgott selber komme mit seinen Heerscharen über sie und ihre Kornfelder – Bernhard fühlte, welche unendliche Kluft zwischen ihr und ihm liege. Er zürnte ihr – eine Eifersucht ergriff ihn, nicht auf ihre galanten Begleiter, aber auf ihre ganze glänzende Erscheinung und Hoheit; ein Anflug von Stolz kämpfte gegen diese Eifersucht an; aber ohne zu siegen; er ärgerte sich im Innersten seiner Seele und hätte auch sie ärgern mögen; endlich trat er den Heimweg an, fest entschlossen, sein Herz von ihr loszureißen – aber bis zum Tode über diesen Beschluß betrübt, ohne es gestehen zu wollen. Ja, es war eine Weisung des Himmels, daß er aus ihrer Nähe fortziehen mußte; er fühlte es, sie war ihm gefährlich geworden, weil sie einen Teil ihrer Neigungen und seiner innern Sorgen an sich zog, die doch ganz und ungeteilt seiner Mutter zugehörten. Sollte sie, die Glückliche, das Herz eines Kindes seiner unglücklichen Mutter entfremden? Nein, es wäre Sünde gewesen!

Bernhard war nicht wie die meisten schwachen Sterblichen, die, wenn sie einem der Ihrigen ein großes Opfer gebracht, durch Unmut oder Prätensionen oder auf irgendeine andre Weise sich bezahlt machen. Er verdoppelte seine Sorgfalt für seine Mutter. Als er heim kam, standen ein paar hölzerne Koffer mit ihren Habseligkeiten und drei nicht umfangreiche Kisten, die seine Bücher enthielten, daneben ein etwas eleganteres Stück Gepäck, das mit Seehundsfell überzogen war und seine Kleider enthielt, auf dem Hofe. Es war ein wehmütiger Anblick für ihn, der nie den Koffer einer abziehenden Magd unter dem Torwege auf dem Schiebkarren hatte packen sehen können, ohne daß ihm ganz unheimlich traurig wurde. In der Tür, an die Steineinfassung gelehnt, stand Johannes und sonnte sich und schaute mit großer Gemütsruhe zu, wie Anton das Gepäck Lenen auf einen einfachen Bauernwagen heben half, wobei der Junker sich einige ungeregelte Melodien vorpfiff, wie ein Kanarienvogel, dem die Sonne auf die Federn scheint. Endlich kam der Bauer mit den Pferden, einem Paar kleiner, langhaariger Klepper von jener dauerhaften, aber unscheinbaren Rasse, wie man sie ehemals und noch jetzt großenteils auf dem schweren Kleiboden des Landes zieht.

Margret zog fort, ohne von irgend jemand Abschied zu nehmen. Lene hatte erklärt, sie nicht verlassen zu wollen, und stieg mit ihr auf den Wagen, über dessen Leitern hinten eine Bank in eisernen Haken gehängt war, welche die beiden Frauen aufnahm. Der Fuhrmann behalf sich mit einem Sitz auf einem der Koffer. Bernhard hatte seinen Reiseanzug durch einen blauen Kittel vervollständigt und schritt voran, einen derben Stecken aus Stechpalmenholz zur Abwehr gegen die Hunde in der Hand. Als sie schon auf der Brücke waren, kam Anton ihnen nachgelaufen: »He, halt mal, Doktor, ein Wort!«

Bernhard ging zurück. »Was ist, Anton? hab' ich etwas vergessen?«

»Nein, Herr Doktor, vergessen nichts, aber der gnädige Herr läßt Euch sagen, daß es ihm leid tue und daß Ihr ihm doch neulich abends so wacker beigestanden hättet; es sei nur von wegen Eurer Mutter, und dies Buch hier solltet Ihr zum Andenken mitnehmen, und wenn's Euch schlecht gehen täte, so solltet Ihr nur an ihn denken, daß er ja zu finden sei. Da, 's wird was für die Andacht sein,« setzte er hinzu, als er das kleine in Pergament gebundene Buch überreichte.

Für die Andacht, wie Anton glaubte, der nur Gebetbücher und »Flemmings deutschen Jäger« kannte, war es nicht, sondern der Elzevier mit den kleinen Lettern, die Herr von Driesch nicht mehr lesen konnte.

»Und nun,« fuhr Anton fort, indem er Bernhard die Hand schüttelte, »geht mit Gott, Herr Doktor; es tut uns allen leid, daß Ihr fortgeht, ja wahrhaftig, so tut's, der Teufel hol' die lateinischen Jäger, aber ein Herr, wie Ihr seid – seht, ich mach' mir den Henker draus, ob ein neues Gesicht ins Haus kommt oder hinauszieht, aber das muß ich sagen, es ist mir den ganzen Morgen zumute gewesen wie neulich, als mir die Juno totgeschossen wurde. – Gott vergelt's dem Racker – und ich werde nicht nach dem Telgenkamp gehen können, ohne stehen zu bleiben und zu denken, wie Ihr ihn damals so scharf an der Kehle packtet. Na, Gott befohlen, und denkt auch zuweilen – Anton wischte sich die Augen und drehte sich auf dem Absatz um – du verfluchte Rüde, die Canaille läuft einem immer zwischen die Beine, wenn man ein vernünftig Wort sprechen will – daß dich das Donnerwetter!«

Antons Rührung suchte einen Ableiter und der unglückliche Bello ward heulend der Depositor seines Schmerzes.

Bernhard eilte wieder zum Wagen zurück. Das Schrecklichste der Schrecken war damals in unsrer Gegend der Zustand der Wege und Heerstraßen. Ganze Strecken führten den Namen »Briserie«, weil es nicht wahrscheinlich war, hindurchzukommen, ohne ein Rad oder die Achse oder mindestens Arme und Beine zu brechen. Doch hatte jetzt eine anhaltende Dürre sie erträglich gemacht, das heißt, man lief nicht so leicht Gefahr, ganz stecken zu bleiben, und der Wagen kam doch weiter, freilich mit denselben Bewegungen wie ein Schiff auf stürmischem Meere sie macht, wenn es in einem Wogenabgrund niederschießt und gleich darauf über den nächsten Hügelkamm fortgeschoben wird. Es mag in der Tat wahr sein, daß ein Bischoff von Osnabrück einst ein Jahr lang gereist sei, um auf dem Reichstage zu Worms anzulangen; er kam freilich immer noch früh genug.

Um den Wagen und Frau Margret vor den Stößen der schlimmsten Stellen zu behüten, gab Bernhard dem Fuhrmann fortwährend Weisungen, wie ein sorgfältiger Kundschafter vorausschreitend. Wo das Haselnußgesträuch der Wallhecken zu beiden Seiten seine Zweige zu weit vorstreckte, war er bedacht, sie an die Seite zu schieben oder abzubrechen, daß sie Margret nicht verletzen konnten. Diese war in ziemlich zufriedener Stimmung; den Krankheitsanfall hatte ihre feste Natur völlig überstanden, und die Sorge ihres Sohnes für ihre Bequemlichkeit schien ihr innerlich wohlzutun, und wenn sie selbst auch schweigsam war und wenig antwortete, so mochte ihr doch zu großer Beruhigung dienen, daß Bernhard so heiter und mutig schien, ja eine gewisse Art Lustigkeit verriet, die sie sonst nicht an ihm gekannt hatte. Hätte Margret in seiner Seele lesen können, so würde sie gesehen haben, daß auf die Schwelle seines Gemüts das Leben jenen Findling gelegt hatte, den wir nach trüben und durchwachten Nächten uns dort mit seinem halb weinenden, halb lächelnden altklugen Kindergesicht anschauen sehen, den heimatlosen Vagabunden, den Leid und Lust erzeugt haben und der nur äußerlich der leichtsinnigen Mutter wie aus den Augen geschnitten scheint, innerlich aber vielmehr den Vater gleicht; Margret würde gesehen haben, daß in der melancholischen Seele ihres Kindes sich der Humor entwickelte.

Die Reisenden hatten bald die Regionen der Heiden hinter sich gelassen und kamen durch ein angebautes, fruchtreiches und anmutiges Land; sanft schwellende Hügel mit weidenden Viehherden, Wälder, die mit aller Pracht herbstlicher Färbung, an ihren Weg traten, in der Ferne stattliche Rittersitze mit dunkeln Schieferdächern und kleinen Türmchen, meist am Fuße der Hügel und von breiten Wassergräben umgeben, Gehöfte, die blaue Rauchsäulen steil recht in die sonnige Luft emporsandten, oft über die Wipfel der Bäume hinauf, als nicke über dem Waldturban, der die Scheitel des Hügels krönte, ein hellblauer Reiherbusch; hier und da ein Weiher mit einer Schar schnatternder Gänse am Ufer; dann ein verwitterter Heiligenschrein am Wege, an dem abgeblühte Kränze niederhingen; das alles trat zu einem lieblichen Gemälde zusammen, über das der Sonnenglanz eines wunderschönen Herbsttages seinen Firnis legte. Die Landschaft war nicht eigentlich still zu nennen. Von den Gasthöfen her hörte man das helle Geklapper und den dumpfen Niederschlag im Takt geschwungener Dreschflegel oder den ähnlichen Lärm, den eine Schar junger Mädchen mit ihren Flachsbrechern machte; Hunde bellten dazwischen, auf den Aeckern tönte der Ruf der Pflüger oder das helle Wiehern eines Gaules, der aus offenen Nüstern Wolken Hauches in die frische Morgenluft schnaubte; aber trotzdem schien ein stilles sonntägliches Feiern über all den Fluren zu liegen, jene schlummernde Ruhe eines Landes, das die Kultur noch nicht zum Aufbieten aller seiner Kräfte zwang, das eine Art jungfräulicher Frische und ursprünglicher Unverletztheit bewahrte.

Margret wurde am Abend wohlbehalten vor dem Wirtshause eines ziemlich ansehnlichen Dorfes abgesetzt; dort wurden frische Pferde gemietet, und so konnte am andern Morgen ohne Anstand die Reise fortgesetzt werden, über deren eigentliches Ziel die alte Frau sich nicht weiter äußerte, als daß sie noch eine oder zwei Tagereisen fürder wolle. An diesem Tage mußte der Wagen in einer Fähre über die Ruhr gesetzt werden; in demselben Nachen trafen unsre Reisenden mit einem andern Wanderer zusammen, dessen Aeußeres den Landgeistlichen ankündigte und der desselben Weges zog Bernhard bot ihm seinen Platz auf dem Wagen an, von dem er keinen Gebrauch machte. Der geistliche Herr aber lehnte es ab: »Das würde wohl etwas zu viel sein,« sagte er; »ich gehe zu Fuß, weil ich mir eine Motion machen will.«

Der gute Herr, aus dessen Zügen und schlichtem Wesen eine rührende Einfalt und Gutmütigkeit sprach, schien mit der hochdeutschen Sprache, die ihm als Kind eines »plattdeutschen« Landes nicht angeboren war und in der Bernhard ihn anredete, nicht recht fertig werden zu können. Trotzdem war er ziemlich gesprächig, und Bernhard fand, als er ihm den Zweck seiner Reise, eine neue Heimat zu suchen, mitgeteilt hatte, eine große Teilnahme bei ihm.

»Das würde ja ganz schön sein,« sagte er, »wenn –« er blieb stehen, um den Tabak seiner halbausgebrannten Meerschaumpfeife zusammenzustopfen, und ging eine Strecke schweigend weiter.

»Kann der Herr Messe dienen?« hob er dann wieder an.

»O ja, recht gut.«

»Das würde ganz schön sein,« sagte er nachdenklich. »Also Sie reisen, um kein Haus zu haben?«

»Ja, um eins zu finden, Herr Vikar.«

»Jawohl, um eins zu finden – das mochte schon wohl gefunden sein,« versetzte er mit bedeutsamem Nachdruck, und indem er eine innere Freude mit einer wichtig tuenden, aber etwas schalkhaften Miene zu verstecken bemüht war.

»So, und wo denn, ehrwürdiger Herr?«

»Wenn's dem jungen Herrn und der Frau Mutter gefallen konnte, ich habe ein kleines Vikariehaus leer stehen. Ich bin aus Kraneck hinten im Sauerlande, und weilen der gnädige Herr haben wollen, daß ich bei ihm auf dem Schlosse wohne, steht mein Haus ganz leer. Es ist auch ein kleiner Garten dabei, den hab ich aber vermietet, und der bringt wohl zwei Taler alle Jahr' zu Lichtmeß ein. Den konnte ich also nicht umsonst weggeben, aber das Haus möchte Ihnen wohl gefallen.«

»Aber umsonst? Das würden meine Mutter und ich nie zugeben, Herr Vikar.«

»Aber um ja doch leer zu stehen!« warf der gutmütige Geistliche ein. »Es ist auch nur klein; eine gute Küche, ein großes Wohnzimmer und zwei Schlafkammern, eine Stallung« – der Vikar fuhr fort, eine ganz anständige Zahl bewohnbarer Räume zu nennen.

Bernhard ging zu seiner Mutter zurück und besprach sich mit ihr; diese willigte gern in den Vorschlag ein, wenn der ehrwürdige Herr den Mietzins von zehn Talern jährlich annehmen wolle.

»Zehn Taler,« sagte Herr Gerhards, so hieß der gutmütige Geistliche. »Ja, so, zehn Taler jährlich!« Die Sache schien ihm bedenklich vorzukommen; Leute, die heimatlos in einem andern Lande einen Aufenthalt zu suchen gezwungen waren, hatten so viel Geld allein für die Wohnung zu bieten; das mochte ihn etwas beunruhigen. Die Summe war zwar so bedeutend nicht; aber es ausgeben zu wollen für etwas, das umsonst angeboten würde – es kam dem geistlichen Herrn etwas verdächtig vor, und er war halb entschlossen, sein Anerbieten zurückzunehmen. Es ist charakteristisch für jene Zeit und jenes Land, daß man mit vollem Herzen und mit vollen Händen beistand, wenn der Bedürftige des Nachbars Kind war und zu bekannten guten, christlichen Leuten gehörte; daß man aber mit einem gewissen verachtenden Haß alles ansah, was etwas Fremdartiges mitbrachte und nur eine leise Färbung eines andern Dialekts in seiner Sprache verriet.

Herr Gerhards war jedoch zu gutmütig, um irgendwo etwas andres als das Beste vorauszusetzen. Als er deshalb einigemal Bernhard angeblickt und aus seiner ganzen Erscheinung die vollständigste Beruhigung gesogen hatte, gab er seine Einwilligung zu erkennen, und man war des Handels einig.

Nach und nach nahm die Gegend, durch die der kleine Zug sich langsam fortbewegte – der Fuhrmann hütete sich wohl, dem wohlbeleibten fremden Herrn das Mitkommen sauer zu machen – einen ganz andern Charakter an, als sie bis an die Ufer des zurückgelegten Flusses getragen hatte. Sie entfaltete vor Bernhards entzückten Augen eine ganz ungeahnte märchenhafte Schönheit, wie sie auf keiner seiner frühern Wanderungen sich ihm gezeigt hatte. Der Weg zog das Gestade eines kleinen, aber wie zürnend über sein kieselreiches Bett hinschießenden Bergstromes entlang, der hier kollernd, spritzend, Streichwellen über das Ufer werfend, dahin rollte, dort hitzig mit einer tüchtigen Schaumwelle einem Felsriff ins Gesicht fuhr. Dichtbewaldete Berge traten mit Felsenwänden von mehreren hundert Fuß Höhe dicht an das Gewässer oder stellten ihren Fuß auf die smaragdgrünen Teppiche, wo sich das Flußtal erweiterte und Raum für Wiesengründe ließ, die wieder von unendlich malerischen Gruppen uralter Eichen und Pappeln überragt wurden. Kleine, aber nette und reinliche Ortschaften mit schimmernden weißen Häusern, die sich in den größeren Talerweiterungen angesiedelt hatten und halb in Gärten und üppigen Pflanzenwuchs wieder versteckten, waren überragt von imposanten und noch wohl erhaltenen Burgen, wenn auch ein zertrümmerter Wartturm und eine zerfallende, zinnengekrönte Brustwehr an den Außenwerken schon von dem breitwuchernden Efeu umfangen war, der seine grünen Ranken wie triumphierende Banner eines jungen Lebens um die alten Zacken und Scharten flattern ließ.

Bernhard hatte immer seine Heimat mit ihrem milden, weichen Klima, ihrem saftiggrünen Waldreichtum voller Nachtigallen, mit dem warmen behaglichen Charakter ihrer angebauten Striche, ja auch mit den unendlichen Heiden, welche die einsam säuselnde Tanne oder das graue Hünendenkmal aus aufgetürmten Granitblöcken überragt – für schön gehalten; aber er hatte nie geglaubt, daß sie so wunderbar großartige, so wild pittoreske Szenen umschließe. Diese Felsenwände, an deren Fuß das Tor unendlicher Höhlen aufklaffte, diese Seitenschluchten des Tals, aus denen brausende Wasserfälle niederstürzten, um weiter unten an einer tief versteckten Mühle vorbei zu schäumen, diese himmelhohen Kuppen ringsum – es war eine unnennbar ergreifende Landschaft!

Zu rechter Zeit, ehe die schöne Romantik der Gegend in eine öde Wildheit überging, wie sie höher gen Süden hinauf sich zeigt, führte der geistliche Herr unsre Reisenden rechts ab vom Ufer des Bergstromes und durch eine enge Schlucht in ein Seitental von sehr mäßiger Ausdehnung. Die Sonne stand nicht weit mehr von den höchsten Gipfeln im Westen entfernt und indem sie jetzt gerade in das Gesicht der Wanderer schien, lag der Glast ihrer schrägen Strahlen zugleich auf die Fensterscheiben einer Burg, die links auf einem vorspringenden Bergrücken stand und das Tal beherrschte, obwohl noch über ihr, eine Strecke höher hinauf, eine kleine Kapelle emporgeklommen schien, die weiß getüncht, hell aus der grünen Waldumfassung hervorleuchtete. Ein kleines Dorf mit einem niedern, grauen Kirchturme, lag unten im Grunde des Tales. Der Weg führte hindurch, und an der zerfallenen Kirchhofumfassung her, über welche die im feuchten Schatten lang aufgeschossenen Grashalme nickten, eine üppige Vegetation, die die Grabhügel mit den Steinplatten oder das kleine schwarze Holzkreuz, das gesenkt darüber hing, unsichtbar machte. Holunderbäume, Dorngesträuch und eine Gruppe von breitblätterigen Linden hatten sich brüderlich in den übrigen Boden geteilt und dienten einer Schar zwitschernder Sperlinge zum Aufenthalt. Der Kirchhof lag um mehrere Schuh über den Weg, der zugleich die Hauptstraße des Dorfes bildete, erhöht, so daß unten von der Kirche nur der Turm, das bemooste Ziegeldach und der obere Teil der schmalen, spttzbogigen Fenster sichtbar wurden. Es war so stille ringsumher, daß man das Tiktak der Turmuhr vernehmlich aus dem grauen Gemäuer schallen hörte wie ein Herzpochen des alten sinnenden Dorfwächters. Nur einige Knaben und Mädchen, Nachzügler der aus der Schule entlassenen Jugend schlenderten durch den Hohlweg und kletterten auf die Kirchhofmauer, um von da herab mit stiller Neugier die ankommenden Fremden anzuschauen. Ein Junge griff nach einem Stein, um nach den Pferden zu werfen; aber als der Vikarius ihn anblickte, sprang er beschämt hinter den nächsten Dornbusch; die andern tummelten sich herunter, dem Geistlichen eine Kußhand zu geben und dann auch Berhard ihre kleinen, schmutzigen Fäuste zu reichen.

»So, das sind artige Kinder,« sagte Herr Gerhards; »aber wo ist denn Antönchen? muß er die Pferde werfen?« sieh mal! soll ich's mal dem Schulmeister sagen?«

Der kleine Bösewicht steckte den Kopf hurtig durch die Zweige seines Strauches und rief von oben herab: »O, das tut Ihr doch nicht, Ihr wollt mir nur bange machen!«

»So wart' nur! Das konnte doch wohl sein!«

»Nein, Herr Vikarjes ist viel zu gut!« rief Anton und duckte blitzschnell wieder hinter den Strauch zurück.

»Es sind gute Kinder,« sagte der Vikarius im Weiterschreiten zu Bernhard; »haben Sie bemerkt, wie die kleine Range gar nicht daran dachte, ihr Vergehen abzuleugnen?«

Einige hundert Schritte von der Kirche entfernt, an dem Wege, der zum Schlosse hinaufführte, lag das Ziel der Reise, das kleine Vikariehaus. Hinter seinem Gärtchen, von hohen Obstbäumen beschattet, von dem Grün wilder Weinreben dicht umrankt, bildete es die lieblichsten Idylle, die man sich denken kann. Es hatte nur ein Stockwerk, an beiden Seiten der Haustüre drei fast quadratförmige Fenster mit runden bleigefaßten Scheiben und außer dem Garten, der es von der Straße schied, noch rundumher einen großen Baumhof; dieser war durch einen breiten Bach begrenzt, über den ein Steg mit einer Lehne auf eine von den Dörflern zur Bleiche ihres selbstgesponnenen Leinens benutzte Wiese und zu einer tiefer unten in dichtem Erlengebüsch liegenden Mühle führte.

Der Vikarius holte aus einem Nachbarhaus die Schlüssel zu seiner Besitzung; als er die Haustür geöffnet hatte und die Läden vor den Fenstern zurückgeschlagen waren, sah sich Margret in der steingepflasterten Küche um, prüfte, ob die geweißten Wände auch Spuren des Rauches trügen, und als der Vikarius sie in dieser Beziehung beruhigt hatte, schickte sie, ohne weiter die andern Räume anzusehen, Lene zum Fuhrmann hinaus mit der Weisung, er könne nur abpacken. – In einer anstoßenden Kammer ständen sämtliche Betten und Möbel aufeinander geschichtet; sie wurden herausgeholt, aufgestellt, die Fenster geöffnet, um frische Luft in die verschlossenen Räume zu lassen; dann wurde ein Feuer angezündet, zu dem die Nachbarsfrau eilfertig eine Schaufel mit Kohlen herbeigebracht hatte – um nebenbei zu sehen, wen der Herr Vikarius denn da in aller Welt aufgegabelt habe – und Margret saß bald ganz behaglich im Lehnsessel an einer prasselnden Herdflamme, noch immer ziemlich schweighaft, aber, wie es schien, ganz zufrieden mit der neuen Behausung in diesem von der Welt abgeschnittenen Erdwinkel, wo niemand sie kannte und niemand also auch von ihrem schmachvollen Rückzug von Bechenburg eine Ahnung haben konnte.

Die nötigsten Vorbereitungen für die erste Nacht nahmen den Rest des Abends fort. Als Bernhard am andern Morgen sich erhob, um an die Einrichtung des Zimmers zu gehen, das er schon den Abend vorher für sich ausgewählt hatte, fand er Lene darin beschäftigt, den Fußboden zu scheuern, die Ranken von dem Fenster zusammenzuflechten, die zu üppig es überwucherten, und eine Reihe von Blumenscherben mit Monatsrosen, die sie hinter dem Hause auf dem Baumhofe stehend gefunden, über der Fensterbank aufzustellen. Bernhard hatte nur noch Tisch und Stühle zurechtzuschieben und seine Bücher zu ordnen und er war im Besitz eines so freundlichen Studierzimmers, daß er die hohen und etwas wüsten Räume auf Bechenburg gern entbehrte.

Nachdem nun noch Frau Margret eine Ziege und eine Katze sich angeschafft, auch für den Einkauf der nötigsten Vorräte gesorgt hatte,war die kleine Familie ebenso vollständig installiert, als mit der Beschaffenheit ihrer neuen Heimat zufrieden.


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