Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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24

Ja, nun will es wieder Winter werden. Heute früh war der Garten schon bereift. Gegen Abend ist der Wind wieder nach Westen umgesprungen, und Wolken stiegen vor ihm her wie an dem Tage, als ich mich vor einem Jahre drüben in meiner Hütte für den Winter einrichtete. Auf den Wiesen steigt das Wasser wieder, und das Fährhaus ist aus seinen Sommerfreuden längst in winterliche Stille und Verlassenheit gesunken. Vor meinem Fenster wühlt der Wind in dem Astwerk der Pappeln, und die Boote, die im Sommer auf dem blauen Wasser wippten, liegen schon seit Wochen wohl verwahrt im Schuppen und halten ihren Winterschlaf wie sommermüde Tiere.

Lintrup ist schon nach Oslo unterwegs, und gestern ist auch Anka abgereist. Dina ist mit ihr. Die beiden wollen den Winter im Süden verbringen, irgendwo in den Bergen oder südlicher noch an einem der Seen. Für Dina ist es hier im Winter nichts in der feuchten, neblig-kalten Luft. Auch sollte Anka über Winter nicht allein bleiben, und Dina hat es Lintrup in die Hand versprechen müssen, daß sie bei ihr bleiben will. 283

So bin ich noch einmal allein geblieben hier im Hause. Ich will versuchen, die Arbeit, die der Brand der Hütte mir zerstörte, wieder aufzunehmen. Ich hoffe, daß sie reifer und schöner wiedererstehen soll, nun mein Leben sich gewendet und die Spannungen der letzten Jahre dem tiefen Glück gewichen sind, das mir das Jahr im Stillen reifen ließ.

Mählich fällt draußen schon die Nacht, und Fluß und Wiesen versinken in ihr dunkles, lautlos tiefes Schweigen. Nur das Seil der Fahnenstange, das Behrens noch nicht abgenommen hat, klatscht leis und ruhelos im Winde.

Aber was ist Einsamkeit, Verlassenheit und Stille, wenn man mit innerer Gewißheit weiß, daß man trotz allem nicht allein geblieben ist in dieser Welt des Schweigens und der Dunkelheiten und trotz allem Irren zuletzt dem einen Menschen doch begegnete, dem man seit Anbeginn der Welt schon zugehörte. Denn so verträumt und wunderlich bin ich noch immer, daß ich meine, wir Menschen waren schon, ehe wir in diese Welt getreten sind . . .

Anka hat freilich unzufrieden den Kopf dazu geschüttelt und es von neuem Eigensinn genannt, daß ich, statt endlich in die Stadt zurückzukehren, noch einen Winter hier im Fährhause und ganz für mich verbringen will. Aber ich habe das alte Haus nun einmal liebgewonnen, und Dina versteht es um so tiefer, daß ich die Ruhe nicht verlieren will, die meinem Werk gehören soll. Sie weiß auch, daß dieses Haus mir mehr ist, als nur ein Haus im Nebel und eine Insel in den Wassern, mehr als nur eine stille Brücke über Fluß und Wiesen. Hier schnitten sich die Wege aller, die mir nahetraten. Sie kamen aus dem Dunkel dieser Welt, wie man aus herbstlich tiefer Nacht in den Lichtschein eines stillen Zimmers tritt, und glitten dann 284 ins Dunkel wieder fort. Wie Stimmen aus dem Nebel schallen, und sind für einen Augenblick ganz nah, und schwinden wieder hin und sind wie ausgelöscht.

Was wissen wir vom Wesen dieser Welt? Wir fahren alle durch ein undurchdringlich dichtes Dunkel, und jeder geht auf seinem Wege, und keiner weiß im Grunde was vom andern, kennt kaum sich selbst und streckt die Hände nach Gefährten aus und dünkt sich klug und lächelt überlegen . . . und möchte doch im Tiefsten wissen, daß er nicht allein ist auf dem Wege, den er geht.

Da klingt ein Rufen über den Fluß zu mir herüber, lang gezogen, dringend und voll Ungeduld: Hal öwer!

Ich trete an mein Fenster und reiße den Flügel auf – aber die Nacht ist zu tief. Ich sehe nichts und höre nur den Ruf noch einmal halb verweht: Hal öwer! – und wieder lauter jetzt: Hal öwer!

Behrens ist ins Dorf gegangen, und ich will nicht, daß seine Frau bei Nacht und Wind hinüberfährt. So geh ich selbst zum Fluß hinunter, die alte Sturmlaterne schwenkend, damit der späte Fahrgast drüben weiß, er wird geholt.

Er ist wohl auf dem Damm von Diemenbusch gekommen, denn die Wiesen drüben tragen schon seit Wochen keinen Menschen mehr.

Als ich die Kette losgeworfen und das schwere Fährboot gegen Wind und Wasserdruck vom Ufer abgestoßen habe, fällt mir ein Regenschauer jach und prickelnd ins Gesicht. Die Dunkelheit ist wie ein Grab. Doch schimmernd liegt der Schein aus meiner Bootslaterne auf dem dunklen Wasser.

Wie ich mich in die Riemen lege und das Wasser an die Planken meines Bootes klatscht, muß ich plötzlich an 285 die Stunde denken, in der wir alle einmal aus dem Wirrsal unsrer Welt und müd von unserm Tagewerk ins Dunkle rufen werden: Hal öwer! Gott gebe, daß uns dann das Licht im Boot des Fergen so hoffnungsfroh entgegen blinkt, wie jetzt dem Unbekannten drüben das Licht aus Behrens altem Fischerkahn.

 


 


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