Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Der Abend ist grau und düster. Ich höre die Wellen des Flusses an die Hauswarf schlagen, so hoch ist das Wasser schon gestiegen. Klick – klick – klick – es ist immer derselbe Ton. Nur der Wind hat tausend Register in seiner Orgel.

Ob Anka die Nacht noch im Fährhause geblieben ist? Denn vielleicht haben die Fährleute sie noch zu dem 17 Abendzuge ins Dorf gefahren. Ich sah, daß man den Wagen aus der Scheune zog, nur fortfahren sah ich ihn nicht. Vielleicht war es schon zu dunkel und mein Auge nicht scharf genug.

Am Ende ist es gleichgültig, ob sie heute oder morgen früh das Fährhaus verläßt. Denn glücklich heimgekommen ist sie vorhin, so gefährlich es auch war, über die halb überschwemmten Wiesen ins Fährhaus zurückzukehren. Ich habe jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgt und kann ohne Sorge um sie sein. Und doch quält mich eine heimliche Unruhe um sie.

Da blitzt das Licht in ihrem Zimmer auf, und ich weiß nun, daß sie über Nacht noch im Fährhause geblieben ist und wohl erst morgen früh abreisen wird.

Es macht mich ein wenig ruhiger, das zu wissen, wenn ich auch keinen Grund dafür weiß.

Da sitzt sie nun drüben in ihrem Zimmer, denke ich, nur ein Viertelstunde Wegs von mir entfernt, und vielleicht hat sie bis zu diesem Augenblick zu meiner Hütte herübergestarrt wie ich zu ihrem Fenster. Eine Einsamkeit ist darüber in ihr aufgestiegen, daß sie erschauerte und ihre Lampe anzünden mußte, weil sie es nicht mehr ertrug, allein mit sich selber in die sinkende Dunkelheit hinauszusehen.

O, ich empfand alle Grade der Enttäuschung, die ich ihr bereitete und blieb doch wie ein Stein, als sie vorhin fortging, und bei jedem ihrer Schritte, die so stolz und abweisend waren, dachte ich nur an Dina . . . Das war es wohl, was sie so kränkte, daß sie im Zorn von mir ging, und vielleicht wußte sie auch, daß ich an Dinas kleinen Fuß dachte, als sie vorhin am Herde ihren durchnäßten Strumpf abstreifte. War es vielleicht meine Schuld, daß sie es mit einer ganz ähnlichen Bewegung tat, wie Dina im 18 vergangenen Sommer, als sie in meinem Boot unversehens Wasser in ihre Schuhe bekommen hatte? O, ich erinnere mich noch so gut, wie sie Schuh und Strumpf auszog und mit den kleinen, nackten Füßen vor mir saß, daß mir alles Blut darüber zum Herzen strömte und ich wegsehen mußte, um wieder ein wenig Atem schöpfen zu können. Es traf sich so gut, daß mir in meiner Verwirrung damals das Ruder entglitt und ich mich darnach bücken mußte . . .

Aber das sind vergangene Dinge. Habe ich nicht einen langen, einsamen Winter vor mir, und wenn ich hier in meiner Stille und Abgeschiedenheit an Dina denke und den kleinen Fuß, der ihr gehört, so meine ich, ist das eine Unterhaltung für mich und es geht niemand etwas an.

Ich brauche nur ein wenig die Augen zu schließen, so sehe ich alles wieder, wie es war: das Boot und die Wiesen und Dina selber und das Lächeln, das in ihren Augen stand über das kleine Mißgeschick, das sie betroffen hatte.

Die Wahrheit zu sagen: ich hatte Schuld. Warum hatte ich das Wasser im Boot nicht sorgfältiger ausgeschöpft? Mußte ich so ein Tolpatsch sein und es vergessen, damit sie sich erschreckte, als sie unversehens hineintrat? Warum sah ich nicht voraus, daß es so kommen konnte? Aber ich hatte das Wasser gelassen, wo es war, ohne nach der Schaufel zu greifen, als ich das Boot für die Fahrt zurecht machte.

Gut, daß mir nachher der Zufall zu Hilfe kam und mir bei dem Haschen nach dem Ruder das Blut über dem Bücken ins Gesicht trat . . . Es muß im Juni gewesen sein. Auf den Wiesen lag das Heu in breiten Schwaden und duftete süß und durchdringend in den sinkenden Tag.

Am späten Abend ruderte ich mit meinem Boote zu 19 meiner Hütte zurück. Es ging bereits auf Mitternacht. Denn ich hatte noch Stunden hindurch allein in der Gaststube im Fährhause gesessen, allein mit mir und meinen Gedanken an Dina, die längst oben in ihrem Zimmer zur Ruhe gegangen war. Ich merkte wohl, wie ungeduldig der Alte war, daß ich endlich aufstehen sollte und fortgehen. Aber hatte ich nicht ihre Schritte über mir gehört, wie sie beim Entkleiden hin- und wiederging, die leisen, schwebenden Schritte ihrer Füße, nur eben vernehmbar in der tiefen Stille, die im Hause lag?

Als ich endlich gegen Mitternacht in meinem Boote zur Hütte zurückfuhr, lagen die Wiesen, vom Mond beschienen, unter einem niedrigen, dichten Nebel. Nur hier und da ragte eine Gruppe von Bäumen darüber empor und stand traumhaft still und unbewegt wie in einem weiten schweigenden Meere . . .

Nein, es ist nicht gut, jetzt an den Sommer zu denken. Seine Tage haben selbst in der Erinnerung noch nichts von ihrer Glut verloren und seine Nächte nichts von dem dunklen Wein ihrer Schwermut.

Von nun an bin ich allein mit Wolken und Winden, mit dem Fluß und den Weidenbäumen an seinem Ufer und den brausenden alten Pappeln an den übervollen Gräben. Ich höre ihre Stimmen des Nachts in meinen Träumen und den leisen und unermüdlichen Laut der Wellen unter meinem Boote.

War es einmal Sommer?

Aber nun ist alles ruhig und klar in mir geworden. Vielleicht verwandelte der Herbst mich so? Oder tat es die eine kleine Minute, in der ich erfuhr: Sie ist abgereist – fort ohne ein Wort – zurückgekehrt in die Stadt, aus der sie im Sommer in diese Einsamkeit kam? Kann 20 eine einzige kleine Minute so viel Macht haben? Nein, es ist wohl der nahende Winter, der alles um mich so nachdenklich und still macht.

Vielleicht, daß auch das Jahr in diesen Nächten dem Sommer nachdenkt, den es durchlebte . . . Wie es erfüllt war von dem reifenden Duft der Felder, dem glühenden Licht der Mittage, von dem satten Ruhen aller Farben und dem süßen Tau der stillen Nächte.

O, ich höre seine Stimme wohl und das schwermütige Lied, das es dem Sommer nachsingt . . . Oder ist es die Finsternis draußen, die ich singen höre, die Finsternis, die von der Erde hinauf in alle Himmel steigt?

Ich bin älter als alle Welt, spricht sie, älter als die Sonne und der Mond mit seinen Sternen, älter als die Erde und alle Himmel. Ehe das Licht war und Abend und Morgen geschaffen wurden, war ich, der dunkle Schoß der Welt, und werde sein, wenn einmal alles Licht verglühte, alle Himmel erbleichten und alle Sterne erloschen. Ich sah die Erde im Schwung und Feuer ihrer jungen Tage, sah sie in Gluten erzittern und gleich einer glühenden Garbe sprühen und leuchten, sah Gott in seiner Einsamkeit, da er den ersten grünen Kranz um ihre Stirn flocht und ihre Hüften segnete, und sah sie fruchtbar werden von dem harrendem Leben in ihrem Schoß. »Himmel und Erde wurden erschaffen mit ihrem ganzen Heere –« ich aber bin das Unerschaffene, Schwester des Chaos und Mutter aller Dinge dieser Welt . . . Was ist ein Sommer, und was sinnst du seinen Tagen nach?

Die Lampe auf meinem Tische ist niedergebrannt. Der Docht beginnt zu schwelen, und ich lösche sie lieber. Das Dunkel kommt wie eine weiche Woge und hüllt mich ein. 21

Lange sitze ich so, trete dann ans Fenster und blicke hinaus.

Der Regen hat aufgehört. Im Westen blinken ein paar Sterne, und über dem Fährhause, das mit seinem Strohdach wie ein riesiger schwarzer Sarg unter den entblätterten Pappeln liegt, leuchtet der Jupiter mit seinem ruhigen, weißen Licht.

Im Fährhaus sind schon alle Fenster dunkel. Auch Anka wird längst zur Ruhe gegangen sein. Aber vielleicht liegt sie noch wach und starrt in die Dunkelheit, die ihre Kammer füllt, und ihre Finger krampfen sich in die Decke ihres Bettes. Und plötzlich weiß ich, daß sie noch immer mit der Dunkelheit ringt, die ihr dieser Tag hinterließ.

»Anka,« beginne ich in Gedanken mit ihr zu reden, »gräme Dich doch nicht so. Ich weiß ja, daß ich Dir weh tat – aber wußtest Du nicht, daß ich Dina liebe? Doch, Du wußtest es, Du mußtest es wissen . . . Die Stunde ist so still und das Dunkel so tief, daß ich in diesem Augenblicke ganz offen mit Dir darüber reden kann. Denn ich habe es noch nie ausgesprochen, und wenn sie sich nur an meinen Worten halten will, kann es selbst Dina nicht wissen. Aber verraten wir uns nicht oft mehr durch einen Blick, durch ein Lächeln und die Verwirrung eines Augenblickes? Was sind Worte? Sie trennen mehr, als daß sie binden, und es gibt Dinge, für die noch niemand Worte fand. Sieh nicht so starr durch das Dunkel zu mir herüber, Anka. Ich kenne Deinen Stolz wohl und liebe ihn an Dir, denn er gehört zu Dir, und wenn ich könnte, würde ich Deinen Gram ein wenig zu lindern versuchen. Aber sieh, ich leide um Dina, wie Du um mich, und wir können einander nicht helfen . . . nur uns darauf besinnen, 22 daß wir Menschen sind und Tage zwischen uns dreien waren, die schön waren und voller Sonne. Vergiß das nicht, ich bitte Dich. Und zürne Dina nicht. Denn ich weiß. es ist etwas in Dir, das Deine Liebe zu ihr stören möchte. Es ist ja kein Glück, Anka, um das Du uns beneiden könntest, es ist Schicksal. Nichts anderes, Anka . . . »Also ward erschaffen Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heere«. . . . Du verstehst nicht, was ich damit sagen will? Bekümmere Dein Herz nicht darum und laß es auf sich beruhen . . . Daß wir uns doch immer nur in den einsamsten Stunden der Nacht darauf besinnen, wer wir in Wahrheit sind und wer Gott ist, Anka. Am Tage aber tragen wir Masken, und einer erkennt den anderen nicht, – ja, wir erkennen uns selber nicht, so fremd machen wir uns voreinander. Darum bitte ich Dich, wenn Du morgen wieder in die Stadt zurückkehrst und wieder bei Dina sein wirst und ihr wieder beieinander sitzen werdet in euren stillen Zimmern, versuche Dich zu dem Lächeln zurückzufinden, das Du früher immer für sie hattest. Hast Du vergessen, wie kindhaft und rein ihre Seele ist?

Eines noch, Anka: Vergiß mich, streiche meinen Namen in Dir aus, das Leben ist so reich. Sieh, ich habe einen Winter vor mir voll trüber und dunkler Tage. Aber es wird viel Ruhe um mich sein, sorge Du, daß auch Ruhe in Dir ist, daß Friede zwischen uns sei, zwischen Dir und mir. Es ist so sinnlos, sich zu grämen in dieser Welt der kargen Freuden und des verborgenen Lichtes. Dann wird auch Dein Lächeln wieder zu Dir zurückkehren, und Du wirst Dinas Hand wieder nehmen wie damals im Frühling, – weißt Du noch? – als ich euch zum erstenmale sah und ihr saßet beieinander und hieltet euch bei den Händen wie ein paar Schwestern? Du hattest einen Kranz aus 23 Marienblümchen geflochten und setztest ihn Dina auf, und er stand ihr so gut, daß Du in die Hände klatschtest und fröhlich warst, wie nachher an keinem Tage wieder. Ja, es ist lange her, aber vielleicht besinnst Du Dich doch darauf, wenn Du mit Deinen Gedanken ein wenig zurückgehst . . . Es möchte vielleicht gut sein, es zu tun, denn im nächsten Frühling wird ein Tag kommen, da werden die Wiesen hier draußen wieder abgetrocknet sein, das Fährhaus wird wieder Gäste aufnehmen, und Dina und Du werdet wieder dort einziehen, und ganz unvermutet, wenn ihr zum erstenmal wieder über die blühenden Wiesen geht, werde ich euch begegnen und sagen: Sieh da, Fräulein Anka! Und da ist Fräulein Dina auch, welche Überraschung. Wie lange sind Sie schon hier draußen? Haben Sie einen angenehmen Winter gehabt in der Stadt?

Ja, so werde ich sprechen, oder so ähnlich. Dann werden wir wieder zusammen plaudern, und vielleicht wird ein Lächeln dabei auf unseren Gesichtern sein. Glaubst Du nicht, Anka? Wollen wir uns nicht jetzt schon ein wenig Mühe darum geben? Laß das Herz nur brennen darunter. Was wäre unser Leben ohne seine heimliche Glut? Wirklich, Du mußt mir versprechen, wieder ruhig zu werden, ganz ruhig und gelassen. Nur mußt Du die Ruhe nicht aus Deinem Stolz gewinnen wollen, Anka, Deine Ruhe könnte ein Kartenhaus werden . . .

Und nun schlafe wohl in Deiner Kammer und vergiß diesen Tag, der Dir so viel Schmerz bereitete. Ich wünsche es so sehr für Dich, Anka. Sieh, nun senken sich langsam, langsam Deine Lider über den starren Blick, mit dem Du so lange in das Dunkel um Dich starrtest, und Deine Hände lösen sich und werden wieder weich und still . . . Schlaf wohl – – schlafe wohl . . .« 24

 


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