Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Am Tage darauf kam Schulna. Kaum, daß er im Fährhause war, fuhr er mit Ankas Boot zu meiner Hütte herüber, sprang ans Land und stürmte, strahlend vor Frische, zu mir herein. Gram fuhr ihm wütend entgegen und kläffte, daß man kaum sein eigenes Wort verstand, aber er beachtete den Hund kaum. 116

»Halloh!« schrie er und streckte mir beide Hände entgegen. »Ausgezeichnet, daß ich Sie zu Hause treffe! Nein, wie lustig Sie sich hier eingerichtet haben! . . . Und was macht die Arbeit? Natürlich haben Sie tüchtig geschafft, kann ich mir denken. Sie konnten gewiß in der Einsamkeit hier aus Verzweiflung schon nicht anders als arbeiten? Was mich betrifft –«

O, alles betraf ihn, das war keine Frage. Gab es vielleicht etwas neben ihm?

Da stand er, breitbeinig, selbstbewußt, von sprühendem warmen Leben erfüllt, in jeder Fiber voll Kraft und Frische, zog mitten in seinen Worten einige Rollen mit Entwürfen zu meinen Schnitten aus dem Regal, betrachtete sie erstaunt und schüttelte den Kopf.

»Das ist alles so wunderlich,« sagte er. »Wie Sie nur auf solche Dinge kommen? Was mich betrifft –«

Hatte er sich wirklich einen Augenblick lang bei etwas aufgehalten, was ihn nicht betraf? Aber nun betraf ihn wieder alles: Die Schweiz, Norditalien, München, Bilder, Pläne, Aussichten . . .

Ich stand wie ein Waisenkind und hörte ihm zu.

»Übrigens,« schloß er und sprang mit einem Satz von der Schweiz aus wieder in meine Stube.

»Ich wundere mich, daß Sie hier über Winter nicht an stillem Wahnsinn zu Grunde gegangen sind. Was Sie da augenblicklich arbeiten, ist natürlich eine Folge dieser winterlichen Einzelhaft. Damit locken Sie keinen Hund vom Ofen, kann ich Ihnen sagen. Was sollen uns diese alten Mythen? Und ein Buch soll es werden? Also eine Art Erzählung in Bildern? Aber eine Idee wie diese sagt uns modernen Menschen nichts mehr. Sie versteinern hier langsam, kann ich Ihnen sagen. Gehen Sie in die 117 großen Ausstellungen – da spüren Sie den Pulsschlag der Zeit! Was mich betrifft –«

Gut, daß er sich wieder auf sich selbst besann. Ich atmete auf, nahm unauffällig meine Entwürfe und schob sie wieder an ihren Ort. Es war wirklich zu nebensächlich für ihn, sich damit zu beschäftigen.

»Wie kommen Sie denn zu der Bestie?« fragte er und musterte Gram, als wenn er ihn jetzt erst erblickte. »Zum Teufel auch, ich kann von Glück sagen, daß mir das Vieh vorhin nicht die Kleider zerrissen hat . . . Aber nun – kommen Sie! Ich habe einiges mitgebracht. Natürlich nur Skizzen und Entwürfe. Meine Bilder sind sämtlich unterwegs. Herrgott, sogar eine Zicke haben Sie sich angeschafft!« sagte er, als wir auf die Diele hinaustraten. Er lachte dröhnend und klatschte belustigt in die Hände. »Wann wird sie denn lammen? Und sie melken sie selber? In der Tat? Das muß ich malen! Nächste Tage komme ich, wenn es Ihnen recht ist. Die alte Diele ist famos in dem blauen Rauch des Torffeuers da. Aber Romantik, alter Freund, alles Romantik, darüber werden Sie sich keine Illusionen machen? Wenn man einmal in einem modernen Hochofenwerk gestanden hat, verliert man das Verhältnis zu solchen Dingen.«

Er lachte noch, als er im Boote saß.

»Ich habe Anka versprochen, gleich zurück zu kommen,« sagte er. »Sie hat zur Feier meiner Ankunft ein Essen für uns bestellt. Haben Sie Lust mitzutun? Nein? Aber heute nachmittag sehen wir Sie? Sie müssen sich unbedingt meine Skizzenblätter ansehen. Ich habe in München viel Akt gezeichnet. Nun, Sie werden ja sehen! Denn was mich betrifft, hatte ich da noch allerhand nachzuholen. Wahrscheinlich gehe ich im kommenden Winter nach Paris. 118 Überlegen Sie, ob Sie nicht mitkommen? Es wäre famos. Man hat dort täglich Gelegenheit, Akt zu zeichnen. Das wäre auch für Sie von Wert. Zweiminutenskizzen, wissen Sie. Das Modell wechselt jedesmal die Stellung. Herrlich! Natürlich muß man schon einige Sicherheit haben. Das wäre doch auch etwas für Sie, nun Sie es ausgerechnet mit Engeln und Dämonen haben? – Na, auf Wiedersehen also!«

Da fuhr er hin. Die Ruder klatschten, und die Spritzer fegten über das Wasser. Gram blickte ihm aus bösen Augen nach.

»Laß nur, Gram!« sagte ich. »Man muß so etwas nicht wichtiger nehmen, als es ist, siehst Du.«

*

Herrlich, wie die Sonne in diesen Tagen über Fluß und Wiesen lag. Im Fährhause wurde an jedem Morgen die Flagge aufgezogen und klatschte im Winde, daß es zuweilen wie ein Peitschenschlag klang.

Ja, es war eine gute Zeit. An Sonntagen lag eine ganze Kavalkade von Booten dort, und die Segler saßen in den lustigen Farben ihrer Sweater an den Tischen, bis sie nachmittags mit ihren Booten wieder in die Wiesen hinaussteuerten.

Sogar bis zu meiner Hütte kamen sie herauf und trieben mit matten Segeln langsam vorüber. Aber es war selten, denn die Sandbänke, die hier im Flusse lagen, ließen die größeren Boote nicht herauf, und selbst die kleineren mußten wegen ihres Schwertes vorsichtig fahren.

»Sieh doch die alte Hütte dort,« riefen sie zuweilen, wenn sie hinter den Korbweiden herum waren und an meiner Warf vorüber trieben. »Was für ein vorsintflutliches altes 119 Wrack das ist!« Dabei zerrten und neckten sie den Hund, daß Gram wütend am Ufer entlang lief und sich die Lunge aus dem Halse kleffte, und dann lachten sie.

Sie waren so fröhlich und ausgelassen.

Aber das machte der Sommer und die herrliche Fahrt durch die blühenden Wiesen. Waren sie nicht jung und voll von Kraft und Frische, und gab es etwas Schöneres, als die Segelleine in den Händen zu halten, im Boote zu liegen und den Wolken zuzuschauen, die über Fluß und Wiesen hinzogen?

»Gewiß wohnt ein Torfbauer in der alten Hütte,« sagten sie, schwenkten ihre Mütze und riefen: »Goden Dag, Jan von Moor!« So ausgelassen waren sie.

Die Ziege ließ ich jetzt jeden Tag ins Grüne. Sie weidete an einem Strick, den ich mit einem Bolzen in den Grund trieb. Da stand sie nun mit ihren gekrümmten Hörnern an der Warf und ihr braunes Vlies bekam wieder Glanz in dem Licht der jungen Sonne.

Am schönsten war es in der ersten Frühe des Morgens, wenn der Tag aus den tauigen Wiesen aufstand und sein Auge zu den Wolken emporhob, daß sie in zarter Glut erstrahlten.

Ich lief beim ersten Erwachen sogleich vom Bette aus die wenigen Schritte bis zum Wasser hinab und tauchte in den Fluß, der kühl und unbewegt zwischen den dampfenden Wiesen lag, schwamm mit wohligen Stößen aufwärts und ließ mich hinterher durch die atmende Stille des Morgens wieder zu meiner Hütte hinuntertreiben.

Die ganze Welt war ein Sommergarten. Das Vieh weidete jenseits des Flusses, und in den Nächten scholl zuweilen das Gebrüll einer Kuh zu mir herüber, langgezogen und mit einem heiseren Keuchen am Ende, durchzittert 120 von einer brünstigen Erregung, von der die ganze Natur erfüllt schien, die wie in der warmen und feuchten Luft eines Treibhauses in schweigendem Versunkensein verharrte.

In dieser Zeit war ich wieder häufiger im Fährhause als früher. Das war mir lieber, als wenn Schulna und die Mädchen zu mir herüber kamen, meine Hütte mit ihrem Geschwätz erfüllten und mich mit unnützen Fragen bedrängten. Meine Entwürfe hielt ich auf alle Fälle vor ihnen verborgen, mußte aber doch gute Miene zum Spiele machen, als sie eines Tages unversehens über eine halbfertige Drucktafel gerieten und sie neugierig betrachteten.

Nun sollte ich erklären.

»Die Erschaffung des Weibes? Los, los!« Das verstand man nicht ohne Worte und ohne den Zusammenhang mit der ganzen Folge. Die Mädchen besonders waren so ungeduldig, daß eine Frage die andere verdrängte.

Wer denn der Genius sei, der hinter dem Manne stehe, und ob denn das Weib nach dem Manne erschaffen worden sei? Die alten Mythen seien ja sehr schön, aber dem Menschen von heute vermöchten sie doch nichts Rechtes mehr zu sagen . . . Der Genius sei wohl die Sehnsucht des Mannes? und die Hand da über dem Weibe vielleicht die Hand Gottes?

Ich ließ sie reden, zuckte die Achseln und wollte die Tafel wieder an ihren Platz stellen.

Nein, nun sollte ich erst antworten: Hatte Gott nicht das Weib erschaffen? Wie? Wollte ich vielleicht sagen, daß der Mann das Weib aus seiner Sehnsucht heraus erschaffen habe?

»Er tut es noch heute,« sagte ich und lächelte.

Aber Anka war sehr still geworden.

»Merkwürdig,« sagte sie leise. »Diese Eva –« 121

»Nun?«

»Ich meine nur das Gesicht. Es könnte beinahe Dina sein.«

»Das ist wohl nur eine zufällige Ähnlichkeit,« meinte Schulna. »Aber den Genius müßten Sie erklären, meine ich.«

»Es ist Lucifer,« sagte ich.

Nun wollte man mehr sehen, am besten die ganze Folge.

»Wissen Sie,« sagte Anka, »wenn Sie wirklich während des ganzen Winters nur diese Tafel und die paar Entwürfe gemacht haben, wäre es schon gescheiter gewesen, Sie wären in die Stadt gekommen . . . Wie weltfremd Sie bei alledem hier geworden sind! Wenn Sie noch einen Winter hier verbringen, wird man sich im kommenden Sommer höchstens noch über das Wetter mit Ihnen unterhalten können.«

Ja, sie sagte es einem gehörig.

In diesen Wochen zog ein junger Mensch ins Fährhaus ein, der seine Ferien hier draußen verleben wollte und sich nun Hals über Kopf in Anka verliebte.

Lintrup hieß er. Er war mit einem der Segler befreundet, die zuweilen zum Fährhause herauskamen und dort mit ihren Booten anlegten. Es hatte ihm hier draußen so gefallen, daß er eines der neu eingerichteten Zimmer für sich bestellte und nach acht Tagen einzog. Da war er.

Er war jung, ein wenig lang aufgeschossen und schmalbrüstig, und hatte ein Gesicht, das noch knabenhaft unentwickelt und ohne Eigenart war, so daß man ihn jünger schätzte, als er war.

Es war so bedrückend, ihn abends immer allein und in gehöriger Entfernung an seinem Tische sitzen zu sehen, daß 122 ihn Schulna eines Tages zu uns bat, und damit begann sein Unglück. Vielleicht hatte es auch schon begonnen, denn er errötete bis zu den Haarwurzeln, als er unter wiederholten Verbeugungen an unseren Tisch kam und unausgesetzt zu reden begann, als stürze der Himmel ein, wenn er nur einen Augenblick lang schweige.

Aber daran waren nur Ankas Augen schuld, die ihn zugleich verwirrten und beseligten.

Nicht, daß sie ihm irgendwie Mut gemacht hätte, aber von diesem Tage an folgte er ihr wie ein Hund.

Fräulein Berg war nicht wenig beleidigt.

Wie? Waren sie nicht beide hier draußen und sie etwa ein Häuflein Nichts? Verriet es etwa eine gute Erziehung, daß er nur Augen für Anka hatte?

Wenn er zu uns trat, zog sie darum den Mund kraus und hob die Nasenflügel, als wollte sie sagen: »Ist vielleicht eben Herr Lintrup an unsern Tisch gekommen? Wirklich? Ich glaube beinahe.«

Ja, Fräulein Berg hatte so eine Art, ohne ein Wort ihre Meinung zu sagen, daß man schon blind sein mußte, um nicht zu merken, was die Glocke bei ihr geschlagen hatte.

Aber Lintrup merkte es nicht. Er hatte nur Augen für Anka.

Und Schulna?

Er hatte Lintrup ja selber zu uns gebeten. Da hatte er nun die Geschichte.

Natürlich war es ihm nicht so viel wert, daß er sich darüber erregte. Wie kam er denn nur dazu? Dieser junge Mensch da mit seinem geölten Scheitel, du lieber Gott. Es machte ihm höchstens Spaß, einen Nebenbuhler zu haben . . . 123

Aber das ist wohl schon zu viel gesagt. Denn Schulna hätte durchaus keine Rechte auf Anka geltend machen können. Er war es nur gewohnt, allenthalben der Hahn im Korbe zu sein, und nun war da plötzlich ein anderer, Kaufmann war er ja wohl – und machte verliebte Augen wie ein Sekundaner. Es war wirklich lustig. Darum blinzelte er uns zuweilen mit den Augen zu und zuckte die Achseln.

Ob Fräulein Anka denn nicht merkte, wie es um Lintrup stand?

O, sie merkte es gewiß sehr gut. Aber sie kam ihm nicht mehr entgegen, als sie gerade gelaunt war . . . Es war eine Abwechslung für sie und eine heimliche Genugtuung, begehrt zu werden. Vielleicht machte es ihr auch Vergnügen, Schulna ein wenig dadurch zu reizen? O, es gab nichts, was sie in eine so angenehme Stimmung hätte versetzen können. Sie sprühte vor Übermut und Lebensfreude . . . Lintrup, nein, sieh doch an! Ein guter Junge mit seinem Milchgesicht unter dem semmelblonden Haar und den etwas hervortretenden wasserblauen Augen. Es steht ihm so gut, wenn er errötet und hastig und überstürzt zu sprechen beginnt, sobald er mich sieht. Gott, nein, ich bin auf einen solchen Anbeter nicht etwa stolz. Wie käme ich dazu? Aber sollte ich ihn vielleicht kälter behandeln als nötig?

Eines Tages – ich war mit ihr und Fräulein Berg allein am Tische – sagte sie und dämpfte ihre Stimme, als müsse sie es wie ein Geheimnis behandeln: »Denken Sie, ich habe heute einen Brief bekommen von Dina, einen ausführlichen und lieben Brief.«

»Das ist gewiß eine große Freude für Sie.«

»Das schönste ist, daß eine Neuigkeit darin steht, eine 124 wirkliche Überraschung. Raten Sie. Was denken Sie, was es sein mag?«

»Wie schwerfällig Sie doch sind,« setzte sie spöttisch hinzu, als ich die Achseln zuckte und schwieg. »Ich hätte sicher geglaubt, daß Sie es erraten würden.«

Vielleicht weidete sie sich heimlich an der Unruhe und Spannung, die mich ergriffen hatten und die ich nicht so gut verbarg, daß sie sie nicht bemerkt hätte.

»Nun,« sagte ich, »vielleicht hat sie sich verlobt oder gar verheiratet da drüben?«

»Was Sie nicht alles raten können,« lachte Anka. »O, sie hat viele Bekanntschaften gemacht da drüben. Aber solche Dinge sind es nun doch nicht, von denen sie schreibt. Durchaus nicht. Muß denn auch immer geheiratet sein? Ihr Männer meint immer, daß sich die Gedanken eines Mädchens allein um solche Dinge bewegten. Wie lächerlich das ist. Nein. Aber daß sie am 3. Juli von Madras aus die Heimreise nach Deutschland antreten wird! Was sagen Sie? Sie ist also schon seit ein paar Tagen unterwegs, und wenn sie glücklich fährt, wird sie Ende August schon wieder bei uns hier draußen sein können.«

Ich fühlte, daß mir eine heiße Welle der Freude ins Gesicht stieg. Aber ich gab ihr keine Gelegenheit, die Wirkung ihrer Nachricht auf mich zu beobachten, hatte mit einem Ruck meine Kaffeetasse umgestoßen und erregte einen wahren Aufstand damit am Tische. Weiß Gott, – Fräulein Berg hatte einen langen Spritzer auf ihr Kleid bekommen, machte ein Gesicht wie Essig und lief empört ins Haus, ihn in der Küche auszuwaschen.

Ja, ich war ungeschickt, aber niemand sollte sagen, daß ich etwa Fräulein Berg ohne Hilfe gelassen hätte, lief ihr nach, entschuldigte mich und wollte ihr behilflich sein. 125

Aber sie schlug mich auf die Finger und sagte: »Nein, lassen Sie bitte . . . Sie geben sich ja sonst nicht so große Mühe um mich.«

Da hatte ich es.

»Wie schade,« sagte ich zu Anka, als wir zurückkamen. »Da habe ich Sie mit meinem Versehen vorhin so unangenehm unterbrochen. Also Fräulein Dina kehrt zurück? Das ist eine Überraschung, in der Tat. Schreibt sie, aus welchem Grunde?«

Aber Anka saß da, hatte die Stirn zusammengezogen und sagte: »Sie wird ja nun bald hier sein. Da dürfen Sie sie selber darum fragen.«

Aber das lag wohl an der Überschwemmung, die ich auf dem Tische angerichtet hatte. Ich sah erst jetzt, daß ich ihr ein Bund ihrer Stickseide durchnäßt und verdorben hatte.

 


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