Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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9

Es gibt Dinge, an die man in der uferlosen Einsamkeit, die hier um mich steht, nicht zurückdenken darf, besonders nicht, wenn die Abende über die Wiesen kommen, lautlos vor der Tür meiner Hütte stehen und ihre dunklen Hände vor die kleinen Scheiben meines Fensters legen.

Es ist nicht leicht, sich gegen die Schwermut zu bewahren, die dann in einem aufsteigt, und man muß auf seiner Hut sein, um nicht von ihnen und ihrer dunklen Gewalt erdrückt zu werden.

Ich mache an solchen Abenden früher Licht als sonst, beginne zu pfeifen und in der Hütte herumzuwirtschaften, als gäbe es nichts Wichtigeres, als die kleinen Hantierungen, mit denen ich mir dann zu schaffen mache.

Aber die Nächte sind zuweilen noch schlimmer. Als würde alles Leben ringsum von ihrer tiefen Stille und beklemmenden Dunkelheit langsam erstickt.

Ich stochere dann das Feuer draußen auf dem Herde an und werfe Holz darauf, daß es mit hellerer Flamme brennt, schraube die Lampe so hoch, wie sie es ohne zu blaken erträgt, und breite eine helle Decke über meinen Tisch.

Um Mitternacht aber, wenn ich zu Bett gehe und die Lampe ausblase, stürzt das Dunkel, das wie ein Tier die Flamme scheute, mit einem jähen Sprunge in meine Stube, und alle Dinge um mich herum versinken in der ungeheuern Tiefe der Nacht. Mit einem Ruck bin ich von ihnen getrennt, von Wand und Tisch, von Stuhl und Tür, von 101 dem Buche auf meinem Tische und dem Fußboden unter mir. Als wäre ich in ein Meer gesunken und würde von dunklen, stillen Wassern davongetragen.

Im ganzen Hause rührt sich dann kein Laut. Nur das Herz der Einsamkeit, die um mich steht, schlägt hart und fest.

Aber nun ist der Frühling nahe, und dann hat es nicht viel mehr zu sagen. An manchen Tagen schmeckt die Luft schon nach seiner ersten Süße, und die Unruhe seines Blutes ist schon in allen Dingen zu spüren.

Selbst Gram ist davon erfaßt. Er winselt des Nachts zuweilen leise auf, läuft schnuppernd durch die Hütte, kratzt verzweifelt an der Tür und will sich lange nicht wieder legen.

Gestern nacht war es besonders schlimm mit ihm. Er störte mich mit seiner Unruhe bis nach Mitternacht, heulte auf wie ein Verzweifelter und legte sich schließlich nur nach einem scharfen Verweise wieder nieder.

Als ich heute morgen auf die Diele kam, sah ich, daß er ausgebrochen war. Er hatte die Sohle unter der Stalltür unterwühlt.

In Diemenbusch ist eine Hündin, und er hat ihre Witterung eine Wegstunde weit gespürt. Erst heute Mittag kam er wieder, zerzaust und schmutzig wie ein Vagabund, triefend von Nässe und mit blutig gebissenem Ohr.

Es wäre grausam gewesen, ihn zu strafen. Aber sein Blick war wie der eines Verbrechers. –

Auch im Fährhause fängt man an, sich für den Sommer zu rüsten. Ich sah Behrens gestern schon die Klappstühle und Gartentische anstreichen, die während des Sommers am Flußufer und auf der Veranda am Hause stehen sollen. Er rechnet für die Ostertage bereits auf Besuch aus der 102 Stadt. Von da ab wird es mit der Einsamkeit und Ruhe hier draußen langsam zu Ende gehen. Im Mai werden wieder Logiergäste ins Fährhaus ziehen und Fluß und Wiesen wieder mit Geschwätz und Lachen erfüllen. Anka wird wieder herauskommen, und auch Schulna wird eines Tages dasein mit seinem Lachen und seiner unbekümmerten Fröhlichkeit . . . Die Weiden am Flusse stehen in Kätzchen, und die Schwarzerlen hinter dem Fährhause treiben schon.

Merkwürdig, daß ich während des ganzen Winters nicht ein einziges Mal an Ankas Boot gedacht hatte. Es wurde wirklich Zeit damit, und ich fuhr zum Fährhaus hinüber, um das Versäumte nachzuholen.

Die Tür zu dem kleinen Schauer, in dem es hängt, war mit einem Schloß versperrt, und ich mußte ins Fährhaus gehen, um mir den Schlüssel zu holen. Er paßte gut, aber das Schloß war innen doch so verrostet, daß ich es sprengen mußte.

Da hing das Boot wohlbehalten an seinen Gurten. Es war kein Schaden daran zu entdecken.

Ich ließ es zu Wasser und beobachtete, ob es vielleicht leck geworden war.

Natürlich war es leck. Ich hatte es gar nicht anders erwartet, und Behrens half mir, es auf das Ufer zu ziehen, damit es kalfatert und neugestrichen werde.

Vielleicht wird es Anka freuen, wenn sie herauskommt und das Boot ist wieder gut im Stande, dachte ich und begann mit der Arbeit.

Neugierig kam die Kleine, die Behrens nach dem Tode des Alten zu sich genommen hat, an das Ufer gelaufen und sah mir zu.

Es ist ein Kind von drei Jahren etwa, flachsblond und 103 mit Augen, die groß und blau in dem bleichen Gesichtchen stehen.

Sie war scheu wie eine Ente, traute sich keinen Schritt näher und wich ängstlich zurück, als ich ihr die Hand bot.

Elsbe heißt sie.

Ich lächle ein wenig, als gleich darauf die junge Frau kommt, das Kind an die Hand nimmt und wieder ins Haus führt.

»Es ist scharfer Ostwind,« sagt sie, »und die Kleine könnte sich erkälten. Sie ist es noch nicht gewöhnt, bei jedem Wetter draußen zu sein.«

Sie ist ein wenig verlegen geworden über ihren Worten, als müsse sie sich entschuldigen. Aber ihr Mund lächelt in mütterlicher Sorge.

Als Behrens wiederkommt, der mir unterdes Leinöl und Pinsel aus dem Hause holte, will ich ihm ein Wort über das Kind sagen und über das glückliche Lächeln seiner Frau . . . Aber dann unterlasse ich es doch. Es ist besser, darüber zu schweigen. Das Kind gehört hierher, hätte längst hier sein sollen. Warum über Selbstverständliches reden?

Aber er beginnt selber davon:

»Was sagen Sie zu der Kleinen?« fragt er mich, und das Lächeln in seinem Gesicht sagt mir, wie glücklich er ist und welche Antwort er erwartet.

»Wir wollen das Kind adoptieren,« fährt er fort. »Wir waren schon beim Rechtsanwalt in der Stadt, Aleid und ich. Es ist alles in Ordnung. Sie soll auch meinen Namen bekommen.«

Er ist so glücklich darüber, daß er ganz redselig wird. Auch der Sommer wird gut werden für ihn. Trotz der frühen Jahreszeit hat er schon einige Anmeldungen von 104 Logiergästen, und nun der Alte gestorben ist, hat er ein Zimmer mehr im Hause frei. Natürlich muß seine Frau für den Sommer Hilfe haben. Er ist schon gestern in Diemenbusch gewesen und hat dort eine Magd gemietet, ein älteres kräftiges Mädchen. Denn seine Frau hat ja nun auch das Kind zu versorgen und wird im Sommer alle Hände voll zu tun haben, wenn so viele Gäste im Hause sein werden.

Was ich denn von den Gartenstühlen meine? Er denke, grün nehme sich dafür am besten aus. Weiß wäre ja auch ganz hübsch, aber es schmutze so leicht, und gelb – da müsse das Holz schon geadert werden, und darauf verstehe er sich nicht.

Ob denn Schulna schon geschrieben habe, wann er komme? frage ich. Er habe doch das Giebelzimmer für sich bestellt?

Ja, bald nach Ostern komme er. Und Fräulein Anka komme diesmal auch schon früher. Schon zum 1. Mai. Fräulein Anka und das Fräulein, das im vorigen Herbst mit ihr hier draußen gewesen sei. Aber es seien ja noch einige Wochen bis dahin, und ich brauchte mit dem Boot darum keine so große Eile zu haben.

»Welches Fräulein?« frage ich. »Das ist wohl ein Irrtum, Behrens.«

Behrens zuckt die Achseln. Es ist ja möglich, daß er sich irrt. Aber er meint doch, daß ihm Anka vor ein paar Tagen so geschrieben hat.

Ich fühle, daß mir das Blut in die Wangen getreten ist. Aber das kommt von dem Bücken über den Bootskiel. Vielleicht hat auch der Wind schuld, der so scharf und schneidend ist, daß die Haut unter ihm prickelt.

»Nein,« sage ich, »da irren Sie sich sicher, Behrens. 105 Fräulein Dina ist ja im vorigen Herbst nach Indien gefahren.«

So? Sieh an, das ist ein gehöriges Ende. Ja, dann ist es wohl nicht gut möglich. Aber er will doch die Karte noch einmal wieder hersuchen. Er meine doch, daß es das Fräulein vom vorigen Sommer sei, das Fräulein Anka angemeldet hat. Was sie denn auch sonst mit dem zweiten Zimmer wolle?

Aber dann geht er, um die Prahmfähre loszumachen. Ein Bauer aus dem Dorfe steht am anderen Ufer und will mit zwei Rindern, die er in Diemenbusch gekauft hat, über den Fluß.

Wenn ich nur die Karte einmal selber lesen könnte, die Anka geschrieben hat. Ob ich die junge Frau in der Gaststube darum angehe?

Aber eine Scheu, mich zu verraten, hält mich ab.

»Ach,« rede ich mir zu, »selbstverständlich ist es ein Irrtum. Dina? Nein, es ist lächerlich. Da kommt irgend eine flüchtig geschriebene Postkarte, und du hast nicht so viel Herrschaft über dich, deine Arbeit zu Ende zu führen? – Sieh doch an, wie die Fugen hier hinten am Boote auseinander gewichen sind. Oben am Bug haben sie wirklich viel besser dicht gehalten. Da werde ich vielleicht kaum mit dem Werg auskommen, so viel ich sehe . . .«

Als Behrens die Fähre wieder festgelegt hat und zu mir zurückkehrt, erwähnt er von der Postkarte nichts mehr, und es bleibt mir nichts anderes, als ihn noch einmal darauf zu bringen.

Ja, er will doch gleich einmal sehen. Vielleicht, daß seine Frau sie – »Aleid!« ruft er und geht zum Hause hinauf.

Ja, die Karte ist da. Natürlich ist sie da. Seine Frau 106 wirft solche Sachen nicht gleich fort, bewahre! Und natürlich hätte er recht gehabt. Da stehe es ja, ganz wie er gesagt habe.

Er reicht sie mir, und ich nehme sie vorsichtig zwischen die Finger, damit ich sie mit meinen öligen Händen nicht fleckig mache.

Wirklich, da steht es, schwarz auf weiß. Dina ist ausdrücklich genannt.

Das Blut braust mir in den Schläfen, als ich den Namen lese.

Ich zucke die Achseln, gebe die Karte wieder zurück und tue so unbefangen wie möglich.

Freue ich mich vielleicht nicht?

Nein, ich freue mich nicht, durchaus nicht. Nur ein fassungsloses Erstaunen ist in mir.

Vielleicht bin ich ein wenig verwirrt, und glaube es am Ende nicht einmal?

Nein, ich glaube es nicht, so ist es.

Und wenn es doch richtig wäre und ich hätte keine Nachricht, nicht eine einzige Zeile von Dina erhalten, daß sie zurückgekehrt ist? In einem halben Jahre kann viel geschehen. Vielleicht, daß ihr das Klima nicht bekam, vielleicht auch, – daß ihre Sehnsucht nach Schulna sie zurückgetrieben hat? Schulna ist ein so heiterer Mensch, so unbekümmert und seiner selbst so sicher . . .

Nein, das eine ist so gleichgültig wie das andere. Was geht es mich an?

Aber ich werde nicht fertig damit, und am Abend wird's erst schlimm mit mir.

Gut, daß ich es immer noch aufgeschoben habe, den alten Eichenkloben zu zersägen, der auf der Diele in meiner Hütte liegt. Es ist ein rechtschaffener Kerl, 107 zweimannsdick, knorrig und fest wie ein Stein. Die Säge wird so heiß wie ein Bügeleisen . . . Weiter, weiter, nicht besinnen . . . Der Arm beginnt zu schmerzen, will nicht mehr . . . Egal. Weiter . . .

Zum Teufel auch, was für ein Narr ich doch bin!

Wütend schleudere ich die Säge in die Ecke.

Warum gehst du nicht, und suchst Anka auf? Da wird es sich ja zeigen, spricht es höhnisch in mir.

Nichts. Ausgeschlossen. Ah, das wäre das letzte. Habe ich vielleicht vergessen, welchen Abschied ich von Anka genommen habe?

Ärgerlich greife ich von neuem zur Säge. Es ist ein so schöner, widerspenstiger, alter Kloben . . . Aber vielleicht ist die Axt besser für ihn zu brauchen, als die Säge? Man kann sie mit beiden Händen fassen und niedersausen lassen, als wollte man die Erde damit zerspalten.

Aber wo steckt das Ding? Es sind Tage, daß ich sie nicht mehr benutzte.

Nein, ich muß nachdenken, wo ich sie gelassen habe.

Natürlich, ich habe zuletzt Torfziegel damit zerhackt. Da mag sie also wohl unter den Torf geraten sein.

Endlich, da ist sie. Das Holz kracht unter meinen Hieben.

Als ich von Schweiß gebadet aufhöre, bin ich wirklich ein wenig ruhiger geworden und muß über mich selber lächeln. Aber das Lächeln ist bitter und die Dunkelheit draußen tiefer als je.

Ich gehe den Fluß hinunter, das Boot loszuwerfen und rudere stromabwärts.

Über mir flammen die ersten Sterne, und nun kommt auch noch der Mond auf.

Als ich am Fährhause vorüberfahre, sehe ich, daß 108 Behrens die Gartentische schon an ihren Platz gestellt hat. So erwartungsfroh wie sie dastehen auf dem sauber geharkten Grund. Dunkel und still liegt das Haus unter den Pappeln.

Jetzt schlägt der Hund drinnen an. Er hat wohl meine Ruder klatschen gehört.

Leise treibe ich am Hause vorbei.

Nein, es ist Unsinn, überrede ich mich. Dinas Name auf der Karte muß ein Versehen sein, nichts weiter. Ich weiß selber nicht, warum ich plötzlich so fest davon überzeugt bin. Denn wenn ich mich überwinden könnte, bei Anka einen Besuch zu machen und nach Dina zu fragen, höre ich schon ihre Antwort: »Dina? O, danke. Es geht ihr gut. Vortrefflich sogar. Ich hatte vor einiger Zeit einen längeren Brief von ihr. Sie hat eine gute Reise gehabt und ist so sehr glücklich in ihrer neuen Heimat. Auch mit ihrer Gesundheit geht es besser. Die Sonne tut ihr so wohl . . . Warum fragten Sie übrigens?«

Würde ich dann sagen, daß es wegen der Nachricht wäre, die sie ins Fährhaus schickte?

Nein, kein Wort. Vielleicht würde ich ihr entgegnen, wie sie mir: »Ja, es war ein ausgezeichneter Gedanke von Fräulein Dina, nach Indien zu fahren, wirklich.«

Das Herz begann mir über meinen Gedanken zu brennen. Ja, ich war wohl ein wenig durcheinander an diesem Abend, und die lange Einsamkeit des Winters hatte mich krank gemacht.

Als ich heimkam, empfing mich Gram mit ausgelassener Freude.

»Komm her, mein Hund,« sagte ich und preßte seinen Kopf an meine Knie. »Es war ein dummer und törichter Abend heute. Aber nun ist wieder Ruhe in mir und Zuversicht. Habe ich nicht meine Hütte und meine Arbeit, 109 und steht nicht der Frühling vor der Tür? Wir wollen still sein und lernen dankbarer zu sein, als wir es heute waren, und uns alle törichten Gedanken aus dem Sinn schlagen. Ein wenig aufräumen in uns, verstehst Du, Gram? Es ist lange Winter gewesen und dunkle Zeit. Da häuft sich so allerlei unnützer Kram in einem an. Man stößt sich nur die Knie daran wund, wenn man im Dunkeln durch sein Haus geht, meinst Du nicht auch, Gram?«

 


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