Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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18

Ich wohnte nun im Fährhause.

Behrens hatte mir oben im Giebel ein Zimmer eingeräumt, das durch eine verschlossene Tür von Ankas Kammer getrennt war. Vor die Tür war ein Kleiderschrank gerückt, so daß ich zuweilen vergaß, wie nahe ich jetzt mit ihr zusammen wohnte. Nur spät nachts, wenn alles im Hause still geworden und nur das Rauschen der Pappeln draußen vor meinem Fenster zu hören war, drang zuweilen ein Seufzer von ihr zu mir herüber, so schwer und bang, daß ich wohl merkte, wie sehr sie im stillen litt und sich quälte.

Die Brandstelle war ein wüster Haufen von Asche, Steinen, verkohltem Holz und ausgeglühtem Lehm. Nur die Herdstelle war noch deutlich zu erkennen.

Der alte Holunder, der neben der Hütte gestanden hatte, war bis auf den Stumpf niedergebrannt, die Weiden am Fuße der Warf angekohlt, das Gras ringsherum versengt und schwarzgebrannt. Als ich am nächsten Tage hinüberging, kam mir erst recht zum Bewußtsein, was mir geschehen war.

Auf! Weg! Nicht länger hier bleiben! sagte etwas in mir.

Aber dann meldete sich wieder etwas, was mich hielt, ich hätte selber nicht sagen können, was es war. Vielleicht war es Ankas Geschick, das ich mit wachsender Sorge begleitete?

Ich weiß es nicht.

Es war in diesen Tagen etwas in ihr, in dem Ausdruck ihres Auges und der Schwermut, die über ihr lag, etwas so merkwürdig Verhaltenes, beinahe Teilnahmloses, daß ich sie sorgfältiger im Auge behielt, als ich mir merken lassen durfte. 203

Den Brief an Dina, den sie mir an dem Tage, an dem meine Hütte abbrannte, zugesteckt hatte, hatte ich in die kleine Schreibkommode eingeschlossen, die Behrens mir ins Zimmer gestellt hatte.

Dinas Name stand in festen entschlossenen Zügen auf dem Umschlag. Eine Wohnungsangabe fehlte. Ich hatte ja zugestimmt, ihn selber in Dinas Hände zu legen, wenn sie wirklich eines Tages zurückkehrte.

Aber Anka! Was hatte sie vor? Es war ja wahrscheinlich, daß sie das Fährhaus verlassen würde. Aber wohin wollte sie? Wenn nicht die unglückselige Liebe Lintrups zu ihr gewesen wäre! Ob er es wirklich überwand, wenn er einmal erfuhr oder selber erkannte, wie es um Anka stand?

Als ich an einem der nächsten Tage in die Stadt gefahren war, mir das Notwendigste an Sachen und Wäsche wiederzukaufen, stieß ich, bei der Rückkehr auf dem Bahnhofe in der Stadt unvermutet auf Schulna.

Ich traute meinen Augen nicht. Aber er war es.

»Ich glaubte Sie in Paris!« rief ich und begrüßte ihn.

»Gerade daher komme ich,« antwortete er. »Dumme Geschichten! Sie werden davon gehört haben? Frau Korkhan kam mir nachgereist. Gestern habe ich sie wieder hierher zurückgebracht. Dieses Weiberzeug! Nein, hol' sie der Henker alle miteinander!«

»Und nun?«

»Natürlich ist sie zu ihrem Manne zurückgekehrt. Ich bestand einfach darauf. Einem so eine Geschichte an den Hals zu hängen!«

»Ihr Mann hat ihr also verziehen?«

Er zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht,« sagte er verdrießlich. »Es ist mir auch gleichgültig. Warum brockt sie sich einen solchen Skandal 204 ein? Ein so verrückter Einfall! Kaum, daß ich in Paris bin, telegrafiert sie mir von Köln aus, daß sie unterwegs ist, und steuert denn auch wirklich noch an demselben Abend bei mir an, als wenn das selbstverständlich wäre! Ich bitte Sie, was sollte ich machen? Natürlich wollte sie trotz allen Zuredens um keinen Preis wieder zurück. Es hat Wochen gedauert, bis ich sie endlich dazu bewog. Aber es half nichts, ich mußte sie begleiten. Allein wollte sie auf keinen Fall. Es fehlte nicht viel, daß sie auch noch darauf bestanden hätte, daß ich sie ihrem Manne wieder in die Arme legte. Ich danke schön. Szenen sind nun mal mein Geschmack nicht . . . Was machen Sie denn gutes? Fahren Sie heute noch wieder hinaus? Ja? Haben Sie Lust, auf mich zu warten? Ich habe nur noch einige Besorgungen, könnte aber zum Abendzuge fertig und wieder an der Bahn sein. Nein? Nun, dann sehen wir uns vielleicht morgen einmal. Jedenfalls gehe ich zunächst auf ein paar Tage wieder ins Fährhaus. Wie geht es Anka? Ich hoffe doch gut? Nun, servus! Auf Wiedersehen denn also!«

Er grüßte und ging.

»Halt!« rief er nach ein paar Schritten und kehrte wieder zu mir um. »Da fällt mir etwas ein: Sie könnten mir einen Gefallen tun, wollen Sie? Ich bin doch ein wenig unruhig. Hätten Sie die Zeit, bei Korkhans einen Besuch zu machen? Nein? Schade. Aber Sie haben recht, es ist vielleicht ein etwas merkwürdiges Ansinnen. Nichts für ungut. Ich dachte nur, daß Sie vielleicht als gänzlich Unbeteiligter – – Aber lassen Sie sich erzählen,« fuhr er fort, schob seinen Arm unter den meinen und begann mit mir auf und ab zu gehen. »Korkhan hat nämlich einen Antrag auf Scheidung gestellt! Na, das ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin habe ich Hoffnung, daß die Sache noch wieder 205 beigelegt wird. Was soll das? Ich kann mit solchen Sentimentalitäten nichts anfangen, zumal ich ja auch Anka gegenüber Verpflichtungen habe. Eine etwas verzweifelte Situation augenblicklich. Natürlich besteht Anka nicht darauf, daß ich sie heirate. Dazu denkt sie natürlich zu frei. Vielleicht ist sie auch zu stolz zu erwarten, daß ich mich verpflichtet fühle. Aber sie hat so eine Art, wissen Sie, daß man eine Verpflichtung empfindet, auch wenn man sie nie ausdrücklich auf sich genommen hat! Jedenfalls kann ich heute noch nicht übersehen, wie sich die Dinge ordnen werden. Anka ist ein ausgezeichneter Mensch, das ist keine Frage! Im Grunde ist ja dieser Lintrup an allem schuld!« setzte er ärgerlich hinzu.

»Lintrup?« fragte ich verwundert.

»Ja doch! Haben Sie das nicht bemerkt? Er hat mich einfach verrückt gemacht mit seiner schmachtenden Anbetung Anka gegenüber. Es war ja unglaublich! Sollte ich mich vielleicht von ihm ausstechen lassen, wie? Nun und da, – wie dann so etwas kommt, nicht wahr? Jedenfalls – geschehen ist nun einmal geschehen, und es wäre ja alles ganz belanglos, wenn ich nur im Augenblick ein wenig klarer sähe. In der Affäre mit Korkhan, meine ich. Nebenbei: Verkehrt Lintrup noch im Fährhause? Wirklich? noch immer? Na, der weicht auch nicht eher vom Platze, bis er sich mit eigenen Augen überzeugt, daß er –«

»Dann haben Sie also die Absicht, Anka zu heiraten?« fragte ich.

Er machte ein Gesicht, als hätte er unvermutet auf ein Pfefferkorn gebissen. »Ich weiß nicht,« sagte er. »Ich muß gestehen, daß ich diese Möglichkeit nie ernstlich überlegt habe. Immerhin möchte ich mein Verhältnis zu ihr nicht von einem anderen gestört sehen, das ist doch 206 verständlich, nicht wahr? Ja, Sie lächeln? Aber ich bitte Sie – eine bürgerliche Ehe? Sind wir nicht Künstler, wie? Auch Anka ist ein durchaus künstlerischer Mensch! Jedenfalls denkt sie viel zu modern, als daß sie in solchen Dingen durch überkommene Anschauungen gebunden wäre. Niemals, daß sie eine Erklärung dieser Art von mir verlangt hätte. Selbst bei unserem Abschied, als ich nach Paris fuhr, ist mit keinem Worte davon die Rede gewesen! Gerade das hat mir an ihr immer so imponiert. Wollen Sie ihr, wenn Sie hinkommen, einen Gruß von mir sagen? Sie wird sich sehr freuen, daß ich so unvermutet zurückkomme. Im übrigen auf Wiedersehen morgen, vielleicht schon heute nachmittag. Wie gesagt, ich kann noch nicht ganz sicher sagen –.«

Also so standen die Dinge!

»Arme Anka,« dachte ich, als ich sie bei meiner Rückkehr mit ihrer Stickerei unter den Bäumen im Garten sitzen sah.

Nein, zu dem Gruß, den Schulna mir aufgetragen hatte, fand ich den Mut nicht. –

Ein paar Stunden später war er selber da, fröhlicher und aufgeräumter als je.

»Denken Sie,« flüsterte er mir zu, »alles ist in bester Ordnung! Korkhan hat seine Frau wieder aufgenommen. Die Scheidungsklage wird natürlich zurückgezogen. Ich bin wirklich sehr froh und tausend Pfund leichter. Es wäre eine sehr ärgerliche Geschichte geworden, ohne Zweifel.«

»Das ist gewiß eine willkommene Lösung für Sie,« antwortete ich. »Sie haben sich mit Korkhan ausgesprochen?«

»Es war nicht ganz zu vermeiden,« nickte er. »Sie können denken, wie froh ich bin, die Geschichte hinter mir zu haben!« 207

Er hatte Anka noch nicht gesehen. Sie war mit Fräulein Berg in ihrem Boote den Fluß hinuntergefahren, und Schulna begann ungeduldig im Garten auf- und abzugehen.

»Halloh!« schrie er von weitem, als das Boot um die Weiden herum in Sicht kam, und winkte mit dem Taschentuch.

Wirklich? Sie winkte nicht wieder? Vielleicht erkannte sie ihn nur nicht? Aber auch als das Boot, von Fräulein Berg gerudert, näher kam, rührte sie keine Hand.

Ich war zum Hause hinaufgegangen und hatte mich auf die Veranda gesetzt, um nicht Zeuge ihres Wiedersehens zu sein.

Bleich und mit zusammengezogener Stirn erhob Anka sich jetzt im Boote, das sich langsam dem Ufer näherte.

Nahm sie vielleicht seine Hand, die er ihr lächelnd entgegenstreckte, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein?

Ja, sie nahm sie. Aber wenn Behrens statt Schulna dagestanden hätte, wäre es kaum anders gewesen.

Nun, vielleicht war es die Überraschung, die sie empfand, Schulna so unvermutet wieder zurück zu sehen? Es gibt ja Menschen, die in einer Überraschung steifer und förmlicher werden als sonst, für einige Minuten dann wie verwandelt erscheinen können.

Aber sieh an – wie entschlossen und ruhig sie nun ihre Hand aus der seinen löste und ohne ein Wort an ihm vorbei den Weg zum Hause hinauf nahm.

»Aber Anka!« rief Schulna, verwundert und verständnislos. »Ja, erkennst Du mich denn gar nicht?« Aber jetzt hatte er auch Fräulein Berg aus dem Boote geholfen, kam Anka mit eiligen Schritten nach und schob seinen Arm vertraut in den ihren. 208

»Bitte!« sagte sie, und ein Blick traf ihn, der ihm jedes weitere Wort abschnitt. Damit schritt sie die wenigen Stufen zur Veranda hinauf und trat ins Haus, ohne sich nur noch ein einziges Mal nach ihm umzusehen.

Verdutzt sah Schulna ihr nach.

»Sieh doch an!« brummte er. »Nun, ganz wie Du willst, mein Kind!«

Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging Fräulein Berg entgegen, um ihr die Decke abzunehmen, die Anka im Boot zurückgelassen hatte.

Fräulein Berg war solche Aufmerksamkeiten von ihm nicht gewöhnt. Sie lächelte süß und sauer zugleich. »Danke,« sagte sie, »sie ist wirklich nicht schwer . . . Nein, lassen Sie nur, ich trage sie doch besser selber hinauf.«

Damit nahm sie denselben Weg wie Anka, und Schulna blieb stehen, wie er stand – bis er in ein ärgerliches Lachen ausbrach.

»Verstehen Sie das?« rief er mir zu, kam auf die Veranda herauf und setzte sich zu mir. »Na ja, Frauen sind nun einmal unberechenbar, und Anka ist es doppelt, da wundert man sich über solche Liebenswürdigkeiten nicht so sehr!

Aber nun müssen Sie mir erzählen! Wirklich, Ihre Hütte ist niedergebrannt? Behrens sprach vorhin davon. Und Ihre ganzen Arbeiten und Entwürfe sind dabei vernichtet? Ja, was fangen Sie denn da nur an? Kann es sein, daß der Brand angelegt worden ist? Hören Sie mal, die Sache würde ich nicht so stecken lassen! Sie haben doch Verdacht auf jemand? Ob sich etwas nachweisen lassen wird, kann sich ja später noch herausstellen . . . Daß Sie ein so gleichmütiges Gesicht zu alledem machen können! Wissen Sie, mitunter sind Sie mir wirklich rätselhaft!« 209

»Ach,« sagte ich, »lassen wir diese Dinge, sie sind ja im Grunde wirklich nicht wichtig. Augenblicklich beschäftigen mich ganz andere Fragen.«

»Vielleicht,« antwortete er zerstreut, »war es in der Tat nicht wichtig für Sie, daß die alte Hütte in Flammen aufging. Sicher hätten Sie sonst noch ein paar Winter da drüben in der Einsamkeit verhockt. Ich riet Ihnen schon im Herbst, von hier fortzugehen. Sie wollten aber ja nicht hören. Haben Sie sich schon entschieden, wohin Sie nun gehen werden? Noch nicht? Nun, Sie brauchen Ihre Entschlüsse ja auch nicht zu überstürzen. Ich würde an Ihrer Stelle über Winter jedenfalls nach dem Süden gehen. Der Norden macht nur ernst und grüblerisch. Was mich betrifft, –«

Gott sei Dank, er war wieder einmal bei sich selber angelangt, und da brauchte ich nur zuzuhören.

Währenddes wurde der Tisch für das Abendbrot gerichtet. Aber es wurden nur zwei Gedecke aufgelegt.

»Was heißt denn das?« fragte Schulna das Mädchen, als er Platz nahm.

»Die Damen essen heute abend auf ihrem Zimmer.«

»So, so . . .« antwortete Schulna verblüfft. »Na ja.«

»Da haben wir es,« wetterte er, als die Magd gegangen war. »Was sagen Sie, he? Teufel nochmal, dahinter steckt doch etwas?«

Ich zuckte die Achseln. Mochte er selber sehen.

Er kaute verärgert und schwieg.

»Na, in des Henkers Namen!« schalt er zuletzt und warf Gabel und Messer hin. »Bin ich vielleicht ihr Narr? Wenn sie nichts mehr von mir wissen will – brauche ich ihr nachzulaufen, wie?«

Er ging ins Haus und ließ sich sein Zimmer anweisen. 210

Frau Behrens überließ ihm die grüne Stube mit der anstoßenden Kammer, in der der Justizrat gewohnt hatte, der nun wieder in die Stadt zurückgekehrt war. Sie lag der meinen gegenüber, nur wenige Schritte von Ankas Zimmer entfernt. Fräulein Berg wohnte am anderen Ende des Flurs in dem gelben Zimmer, das zwei schräge Wände hatte und nur Platz für Bett und Waschtisch bot. Ankas Zimmer war das geräumigste. Sie hatte einen eigenen Arbeitstisch darin, auf dem sie ihre Zeichnungen und Entwürfe machte, und einen Fensterplatz mit einem bequemen Sessel, in dem sie bei schlechtem Wetter zuweilen saß und arbeitete. Fräulein Berg war dann meistens bei ihr im Zimmer, da Ankas Stube von beiden gemeinsam als Wohnzimmer benutzt wurde.

»Nun, Sie entschuldigen mich für heute abend, nicht wahr?« sagte Schulna, als er noch einmal wieder herunterkam. »Ich bin recht müde heute abend und werde zeitig schlafen gehen.«

Der Abend war lau und still. Ich hatte mich auf den Landungssteg gesetzt und beobachtete im stillen Ankas Fenster, in dem ein Flügel offen stand. Leise trieb der Wind zuweilen die Gardinen ins Zimmer hinein und blähte sie wie ein Segel auf.

Wenn die Tür geöffnet wurde, mußte ich es an der Gardine sehen können. Der Zugwind würde sie dann so tief ins Zimmer drängen, daß ich mich nicht darüber täuschen konnte.

Aber alles blieb, wie es war, bis sich Fräulein Berg aus dem Fenster bog, den Flügel heranzog und das Fenster schloß.

Da hatte ich es.

Vielleicht hatte ich allzu oft zu ihnen hinaufgeblickt, und 211 es fing an, ihnen lästig zu werden? Oder Anka war bereits zur Ruhe gegangen, lag nun und hatte Kopfschmerzen von der Aufregung, die ihr das unvermutete Wiedersehen mit Schulna bereitet hatte?

Nein, wirklich, nicht ein einziger Funke der Freude war an ihr zu erkennen gewesen, als er sie vorhin am Wasser erwartete und sie ihn erkannte . . .

Als ich es aufgab, noch länger dazusitzen, und ins Haus gehen wollte, sah ich Behrens vom Dorfe zurückkommen. Er war am Nachmittag hinübergegangen, um seine Feuerversicherung beim Küster zu bezahlen, der die Vertretung hatte.

»Gut, daß ich Sie treffe!« rief er, als er mich sah. »Wissen Sie schon das neueste? Jan Meiners ist verhaftet! Was sagen Sie? Er soll bereits eingestanden haben, daß er Ihre Hütte in Brand gesetzt hat. Der Gendarm hat ihn heute nachmittag in Wittemoor geschnappt. Sagte ich Ihnen nicht gleich: Niemand als Jan Meiners hat Ihre Hütte angesteckt?«

Im Hause war bereits alles still. Ich ging in mein Zimmer hinauf, riegelte die Tür ab und öffnete das Fenster.

Draußen wurde es langsam Nacht, der warme Spätsommerwind lag in den Pappeln, hörte aber nach einer Weile wie mit einem Zauberschlage auf, und gleich nachdem begann es aus dem niedrigen, wolkenverhangenen Himmel zu regnen.

Die Luft war warm und schwül. Irgendwo am Horizont wetterleuchtete es, und die fernen Blitze erhellten zuweilen die Nacht, daß ich die Gegenstände im Zimmer zu erkennen vermochte.

Wie sanft der Regen auf Fluß und Wiesen herabrauschte! Bei dem Aufleuchten der Blitze sah ich die Boote an ihren Tauen liegen. 212

Einige Male donnerte es leise. Es ging nur wie ein schütterndes, dumpfes Stoßen durch die stille Regennacht.

Da – klinkte da nicht eben eine Tür draußen auf dem Flur? Jetzt wieder! Es waren doch Schritte, die da näher kamen?

Ich lauschte mit angehaltenem Atem.

»Anka!« hörte ich eine Männerstimme flüstern und noch einmal dringender: »Anka!«

Es war Schulna. Selbstverständlich, wer sollte es sonst sein?

Da stand er nun auf dem dunklen Flur vor Ankas Tür und wartete darauf, daß sie ihn einließ.

»Wer ist da?« antwortete Anka mit einer Stimme, die mir merkwürdig verändert erschien. Oder lag es daran, daß die Wand den Klang so veränderte?

»Ich! Errätst Du es nicht?«

»Und was wünschst Du?« fragte sie. »Ich bin bereits zu Bett gegangen.«

»Anka! Ich muß mit Dir reden, so begreife doch –«

»Mit mir reden? Wozu? Ich finde es so sinnlos . . . Sind wir nicht fertig miteinander?«

»Nein, Anka! Ich – wie ich Dich vorhin im Boote sah und Du an mir vorübergingst, – Anka, mach es mir doch nicht so schwer! Es ist doch verrückt, so aneinander vorbeizugehen, als hätten wir uns nie gekannt. Ich – ich zerspringe ja einfach vor Verlangen, hörst Du? Aber verstehe mich nicht falsch. Wir können ja in den Garten hinuntergehen, wenn Du mich nicht in Dein Zimmer lassen willst.«

O, ich verstand jedes Wort. Ich zerspringe, sagte er. Aber versteh mich nicht falsch! Hahaha!

»Wozu?« antwortete Anka. »Ich wüßte nichts, was ich 213 noch mit Dir zu besprechen hätte, wirklich nicht. Habe ich Dir nicht geschrieben und alles gesagt, was nötig war? Ich liebe Dich nicht mehr, Du weißt es doch!«

»Sprich doch nicht so laut!«

»Warum nicht? Ist vielleicht jemand da, der es nicht hören dürfte? Geh zu Frau Korkhan, hörst Du? Sicher hast Du mehr mit ihr zu reden als mit mir. Oder hast Du sie verlassen, wie Du mich verließest?«

»Anka, ich bitte Dich! Es ist unerhört von Dir, mir das durch die Tür hin zu sagen . . . Öffne doch wenigstens, hörst Du? Ich will, daß Du mir jetzt öffnest. Ich habe ein Recht, es zu verlangen!«

Jawohl. Er hatte das Recht. Das mußte ein Kind einsehen! Hahaha!

»Nein,« widersprach Anka und wiederholte es noch lauter: »Nein. Seit wann hättest Du ein Recht auf mich, wie? Sage mir, woher Du Dir ein Recht nimmst, das ich Dir niemals gewährte?«

Ihre Stimme zitterte in der Erregung, mit der sie sprach. Ich glaubte, sie zu sehen, wie sie in ihrem Zimmer stand, aufgerichtet, und ihre Worte voll Empörung und heimlichem Haß gegen die Tür hin sprach.

»Es ist genug, hörst Du?« keuchte er. »Ich bin nicht länger willens, mich wie ein Narr von Dir behandeln zu lassen. Schließ auf oder – ich sprenge die Tür!«

Jetzt stemmte er sich wohl mit dem Gewicht seines schweren Körpers gegen die Tür, denn ich hörte, wie sie in ihren Fugen knackte.

»Ich will, daß Du mir öffnest, – hörst Du nicht?«

»So warte doch,« antwortete sie jetzt. »Ich muß mich erst ankleiden, das wirst Du doch einsehen.«

Das Blut sauste mir in den Schläfen. War es nicht 214 unerträglich, dies mit anhören zu müssen, und hatte ich mich nicht schon vorhin vernehmlich genug geräuspert? Aber sie waren wohl zu sehr mit sich beschäftigt, um es zu hören.

Wirklich? Leise knirschte der Schlüssel jetzt in Ankas Tür.

»Endlich!« sagte er in einem Ton der Erleichterung und trat zu ihr in die Stube.

»Du hättest wirklich kein Licht zu machen brauchen,« hörte ich ihn sagen. »Hab keine Sorge, daß ich Dich berühre. Nein, wirklich, darum bin ich nicht gekommen. Es wäre lächerlich von Dir, das anzunehmen. Ich wünsche nur Klarheit zwischen uns, endgültige Klarheit!«

»Worin bitte?« fragte Anka zurück. »War mein Brief nicht deutlich genug, den ich Dir schrieb, wie? Oder kam er vielleicht nicht an Deine Adresse?«

»Dein Brief? Du hast wirklich erwartet, daß ich ihn ernst nehmen würde? Wenige Tage nach unserem Abschied, kaum, daß wir uns getrennt haben, schreibst Du mir, daß Du mich nicht mehr liebst, – ja, daß Du mich nie geliebt hättest? Verzeih, wenn ich ein wenig an Deiner Vernunft zu zweifeln beginne. Auge in Auge mit mir wiederholst Du, daß – Du mich nie geliebt hast?«

»Ja. Vielleicht habe ich es mir einmal eingebildet. Ich bin davon geheilt.«

»Dann – ja, dann habe ich hier wirklich nichts mehr zu suchen, wie es scheint, dann – dann – wären wir also fertig miteinander!«

Er ging wohl bis an die Tür und kehrte jetzt wieder um? Ich hörte die Dielen unter seinen Schritten knacken.

»Nein«, sagte er um einige Grade ruhiger, »mir scheint, wir benehmen uns alle beide wie Kinder. Nachdem ich Dir geschrieben habe, daß mein Verhältnis zu Frau 215 Korkhan – Anka, ich muß sagen, ich bin einfach fassungslos und verstehe nicht –«

»Du meinst,« sagte sie, »weil ich ein Kind von Dir erwarte, müßte ich Dich mit offenen Armen wieder aufnehmen, demütig und ergeben, wie es einem Mädchen in meiner Lage geziemt? Nein, ich verzichte, hörst Du? Geh, wohin und zu wem Du willst. Ich – habe nur ein Achselzucken für Dich!«

»Anka!« keuchte er. »Ist das Dein letztes Wort?«

»Zweifeltest Du daran?«

»Aber Anka! Besinne Dich doch und überlege, was Du sagst! Das – das – ist ja Wahnsinn!«

»Bitte, nein, berühre mich nicht! Ich verbiete es Dir! Ich – will – es – nicht!«

»So sprich doch ein wenig leiser,« versuchte Schulna sie zu beschwichtigen. »Es ist doch wirklich nicht nötig, daß das ganze Haus erfährt, was wir uns zu sagen haben. Ich bin nicht schwerhörig und verstehe auch ohne Deinen Stimmaufwand ganz gut, was Du sagst. Aber ich merke ja, wie die Dinge sich hier gewandelt haben, seitdem ich fortging. An allem ist nur Lintrup schuld!«

»Was heißt das?« rief Anka. »Kann hier von einer Schuld die Rede sein? Wenn es eine Schuld dabei gäbe, trüge ich sie allein!«

»Du wirst doch nicht leugnen, daß Lintrup –«

»Nichts leugne ich. Aber ich bestreite Dir das Recht, mich nach Dingen zu fragen, die mich allein angehen. Es ist wahr, ich habe Lintrup früher nicht ernst genommen, ich hätte es nicht tun sollen.«

»Aha! Wußte ich doch, daß ich recht hatte!«

»Ich sage, ich hätte es nicht tun sollen,« wiederholte Anka mit Nachdruck. »Erst jetzt sind mir die Augen 216 darüber aufgegangen, wie sehr ich ihn verkannt habe, und heute weiß ich –«

»Nun?« fragte Schulna spöttisch.

»Was für ein wertvoller Mensch er ist, jawohl. Und darum – habe ich mich mit ihm verlobt.«

»Wie?« rief Schulna fassungslos. »Verlobt? In dem Zustand, in dem Du Dich befindest?«

Ah, schlug sie ihn nicht ins Gesicht und wies ihm die Tür, flammend vor Zorn? Nein, vielleicht wurde ihre Stimme noch um einen Schatten ruhiger.

»Du hörst ja, was ich Dir sage, und ich hoffe, daß er groß genug denkt, um über das, was zwischen mir und Dir war, hinwegzusehen.«

»Hahaha!« lachte Schulna auf, von Eifersucht und Wut geschüttelt. »Ausgezeichnet! Wirklich, das sieht Dir ganz ähnlich, Anka!«

»Verlaß mein Zimmer!«

»Gemach, meine Liebe. Wenn ich auch nicht recht weiß, warum ich mich noch mit Dir unterhalte, muß ich doch sagen, daß Du voreiliger sprichst, als ich Dir zugetraut hätte. Wenigstens vergißt Du völlig, daß ich Rechte besitze, die ich, wenn ich wollte, geltend machen könnte . . .«

»Rechte?« fragte Anka verwundert.

»Jawohl. An dem Kinde, das Du erwartest. Es ist das meinige.«

»Niemals!« flammte Anka auf. »Das Kind gehört mir, ganz allein mir! Ich allein entscheide, ob es leben oder sterben wird, wie ich entscheide, ob ich selber leben oder sterben werde!«

»Anka!«

»Ja, was siehst Du mich denn so an? Begreifst Du endlich, daß Du Deinen Einfluß auf mich verloren hast? 217 Es war mein Schicksal, das mich in Deine Arme führte. Ich kam zur rechten Zeit darüber zur Besinnung. Du bist entlassen. Ich hasse Dich. Zwinge mich nicht, Dich auch noch zu verachten!«

»Wie? Verachten? Du mich?«

»Hinaus, sage ich!«

»Nicht so stürmisch, meine Gnädige, ja? Ich gehe auch ohne Theater. Wenn es Ihnen freilich Vergnügen macht, Ihre Schande durch das ganze Haus zu schreien –«

»Schande?« wiederholte Anka und ihre Stimme bebte. »Wo ist hier Schande? Ich sehe keine. Ich habe geirrt, das ist wahr. Vielleicht war es auch nur das Verlangen, mich zu betäuben, das mich in Ihre Arme trieb. Aber machen Sie sich keine Gedanken mehr darüber, bitte. Das alles sind allein meine Angelegenheiten, mögen Sie immer darüber urteilen, wie Sie wollen und Lust haben.«

Er machte ihr wohl eine stumme und spöttische Verbeugung? Jedenfalls hörte ich kein Wort der Erwiderung mehr von ihm. Leise öffnete er die Tür, die hinter ihm mit einem Ruck wieder geschlossen wurde. Knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloß.

Im offenen Fenster meines Zimmers stand die Nacht und hielt den Atem an. Der Regen hatte aufgehört. Nur die Tropfen, die noch vom Dache rannen, fielen mit leisem Klatschen auf den feuchten Gartengrund.

 


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