Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Ja, das Moor ist ein Märchenland – aber das Fährhaus ist ein regelrechtes Wunder! Sogar eine Tanzdiele wird jetzt im Garten gebaut! Behrens ist ganz stolz auf seine neue Idee. Sollen die Sonntagsgäste etwa noch länger auf der staubigen Lehmdiele drinnen im Hause herumspringen, jetzt wo man in Lokalen, die auf sich halten, gewohnt ist im Freien tanzen zu können? Dabei ist die Sache gar nicht so sehr teuer und macht doch einen Eindruck, der in Zahlen gar nicht auszudrücken ist! Acht zu fünf Meter wird die Tanzfläche groß, jawohl, und wird mit einem 238 Linoleumbelag und einer kleinen Galerie versehen. Wenn dann an den Sonntagnachmittagen der Automat in der Gaststube aufgezogen und die Fenster geöffnet werden, werden sich die Paare draußen unter den Bäumen drehen, daß es schon ein Vergnügen sein wird, ihnen zuzusehen.

Am kommenden Sonntag, beim Erntefest, soll sie bereits eingeweiht werden, und die Zimmerleute hämmern draußen, daß einem die Ohren schmerzen. Auch der Maler ist schon da, um die kleine hölzerne Galerie anzustreichen. Hoffentlich wird sie noch bis zum Sonntag trocken. Frau Behrens ist ein wenig besorgt deswegen und schüttelt überhaupt den Kopf zu alledem. Sie ist ja einverstanden gewesen, gewiß, aber unvernünftig ist es doch, daß ihr Mann sich in immer neue Unkosten stürzt. Es ist wahr, die Fähre bringt wenig ein, und die Gartenwirtschaft hat sich in diesem Jahre wirklich ausgezeichnet gemacht – wenn sie nur nicht von alledem die Arbeit hätte! Sonntags kann sie mit der Magd in der Küche schon nicht mehr dagegen, und wenn es so weiter geht, muß eine zweite Hilfe ins Haus, das ist ganz sicher. Schließlich hat sie doch auch nur zwei Arme.

Wahrend sie mir ihre Haussorgen klagt, ist Elsbe über einen der Malertöpfe geraten und eben dabei, ihre Schuhe schön mit Ölfarbe anzustreichen.

Behrens schüttelt sich vor Lachen, die Zimmerleute hören in der Arbeit auf und lachen mit, und selbst der Maler, der für einen Augenblick hinters Haus gegangen war und nun zurückkommt, kriegt gleichfalls das Lachen. Aber Frau Behrens schlägt vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen und eilt hin, um von der Kleidung der Kleinen zu retten, was noch zu retten ist.

Ja, es geht lustig her im Fährhause in diesen Tagen, und Behrens ist noch lange nicht zu Ende mit seinen 239 »Ideen«. Im Frühjahr soll auch das Bootshaus einen Ölfarbenanstrich erhalten, und vielleicht langt es dazu, daß auch die Gaststube neu in Farbe gesetzt wird, nun an den Sonntagen so viele Fremde ins Haus kommen, nicht wahr? Im kommenden Sommer soll sogar ein Wettsegeln auf dem Flusse stattfinden. O, er hat schon mit den Herren vom Vorstand des Segelvereins gesprochen. Beim Fährhaus soll der Start sein, jawohl, und wir alle sollen einmal sehen, was er sonst noch alles plant, hahaha! Es ist ja richtig, daß er Geld auf das Haus hat aufnehmen müssen. Schließlich kann man nicht in wenigen Jahren hier draußen so reich werden, daß man alle die neuen Einrichtungen aus der Westentasche bezahlen kann. Aber was macht das? Er schmeißt ja das Geld nicht zum Fenster hinaus, nicht wahr? Nur Geduld, das bringt sich alles wieder ein, und wenn er auch mehr Zinsen zahlen muß, als er zuerst gerechnet hat – man muß nun mal mit der Zeit gehen, da hilft alles nichts, und wer nichts wagt, gewinn auch nichts!

Dabei hat er auch noch in der Landwirtschaft alle Hände voll zu tun. Der zweite Heuschnitt liegt noch draußen, und auf einigen Wiesen steht das Gras sogar noch auf dem Halm. Immer hat er sich schon eine Mähmaschine anschaffen wollen, aber der Moorgrund will so ein Ding nicht recht tragen, und für die wenigen höher gelegenen Wiesen lohnt es sich nicht. Da muß er nun morgens in aller Frühe bereits mit der Sense hinaus. Er könnte sich ja jemand nehmen, der ihm dabei hilft. Aber das ist leichter gesagt als getan. Die Bauern im Dorfe geben ihre Knechte nicht her, und er muß schon warten, bis einmal ein armer Reisender im Fährhaus vorspricht, der für einige Zeit bei ihm in Tagelohn geht. So hat er sich in früheren Sommern 240 meistens geholfen, denn um dauernd einen Knecht zu halten, ist seine Landwirtschaft zu klein. Da sitzt denn so einer den langen Winter hindurch im Hause herum und hat nichts zu tun, als die paar Kühe zu füttern und den Dünger aus dem Stall zu schaffen, und dafür hat Behrens im Winter selbst Zeit genug. Aber in diesem Sommer läßt sich kein Landstreicher sehen, so merkwürdig es ist.

Hatte Behrens damit den Teufel beschworen? Am nächsten Abend war eine Hilfe für ihn da. Ein alter, etwas gebrechlicher Mann, gewiß. Aber da man keine Auswahl hatte, mußte es nun mal mit ihm gehen.

Als ich abends in die Küche hinunterkam, sah ich ihn dort hinter einem Eßnapf sitzen, wie er mit zitternden Händen seine Milchsuppe löffelte.

Ich sah nicht weiter nach ihm hin, auch war es schon so dunkel, daß ich ihn nicht erkannte, und die Petroleumlampe unter der Decke reichte mit ihrem Schein nicht bis zu seiner Ecke.

Aber dann legte er plötzlich seinen Löffel hin, stand hinter dem Tische auf und trat auf mich zu.

»Guten Abend,« sagte er leise und bescheiden. »Kennen Sie mich noch?«

Verdutzt blickte ich ihm ins Gesicht.

»Mein Gott, Spindler!« antwortete ich überrascht. »Sind Sie es?«

Ja, er war es, der alte Schneidergesell, der im vorigen Winter eine Nacht bei mir drüben in der Hütte kampiert hatte und am nächsten Tage über die eisbedeckten Wiesen weitergewandert war.

»Woher weht Sie denn der Wind?«

»Ja, das ist eine lange Geschichte,« sagte er und lächelte froh über das unvermutete Wiedersehen. »Ich hätte selber 241 nicht gedacht, daß ich noch einmal wieder in diese Gegend kommen würde. Aber es geht wunderlich zu im Leben. Heute nachmittag stand ich plötzlich auf der anderen Seite des Flusses und schaute hinüber, wo damals Ihr Häuschen stand. Aber da war nur Schutt und Asche.«

»Ganz richtig,« sagte ich. »Und nun sind Sie hier in Taglohn gegangen? Wenn Sie das nur aushalten, Mann.«

»O,« meinte er, »es langt wohl noch dazu. Ich hab's nur ein wenig auf der Brust. Aber das ist schon lange so. Na, gelegentlich erzähle ich Ihnen mal, wie es mir gegangen ist seitdem. Ich habe oft wieder daran denken müssen, wie Sie mir damals Quartier gegeben haben.«

Die Wirtin wunderte sich nicht wenig, daß ich den Alten kannte. »Ich glaube, wir haben uns mit ihm bloß eine Last aufgeladen,« seufzte sie, als er hinausgegangen war und seine Schlafstelle aufsuchte, die sie ihm drüben in der Scheune zurechtgemacht hatte. »Mein Mann war gar nicht einverstanden. Was soll uns so einer viel nützen? meinte er. Der fällt ja beinahe über seine eigenen Beine. Aber der alte Mann bat so, daß wir ihn zuletzt doch dabehielten. Wenn es wirklich nicht geht mit ihm, kann man ihn ja immer noch wieder wegschicken.«

Am anderen Tage ging ich zu ihm auf die Wiese hinaus, wo er stand und mähte. Er hatte seine Jacke ausgezogen und gab sich alle Mühe mit seiner Sense. Aber man merkte ihm doch an, wie sauer es ihm damit wurde, und der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht.

»Spindler,« sagte ich, »das ist doch keine Arbeit für Sie.«

»Weiß ich,« nickte er. »Aber was soll man machen? Sagen Sie nur drinnen im Hause nicht, daß ich noch 242 nicht dreimal am Stück heruntergekommen bin. Sonst schicken sie mich am Ende noch zu Mittag wieder weg.«

»Ach was, machen Sie sich nur keine Sorge. Aber ich verstehe nicht, warum Sie nicht längst wieder auf dem Schneidertisch sitzen, statt hier solche Knochenarbeit zu tun. Haben Sie denn auch über Winter keine Arbeit gehabt?«

»Doch,« sagte er. »Aber es ist immer alles nicht auf die Dauer, sehen Sie. Man nimmt mich immer nur, wenn es gar nicht anders zu machen ist, und jagt mich wieder weg, sobald es nur irgend geht.«

Er hustete stark, und ich sah, daß Blut in seinem Auswurf war.

»Legen Sie die Sense hin, Sie sind krank, Spindler,« sagte ich. »Sie dürfen solche Arbeit nicht mehr machen.«

»Ach,« meinte er, »krank? Was ist das? Es ist nur das Alter, sehen Sie. Die Lunge hat mir schon lange zu schaffen gemacht. Nein, bei dieser Arbeit im Freien und der guten Kost drüben im Fährhause erhole ich mich, Sie sollen sehen! Wenn man mich nur nicht allzu sehr treibt, wird alles ganz gut gehen. Nur so schnell, wie ich wohl soll, kann ich nicht mehr.«

Sobald ich Behrens traf, sprach ich mit ihm darüber.

»Der Alte da auf Ihrer Wiese,« sagte ich, »spuckt Blut. Sie sollten ihn nicht die schwere Arbeit tun lassen. Es wird sich doch auch eine leichtere Beschäftigung für ihn finden.«

Aber da kam ich schön an. Nein, für so etwas hatte Behrens kein Verständnis. War der Alte nicht zum arbeiten da, und sollte er sich etwa noch die Arbeit aussuchen dürfen? Nein, das gab es nicht, und wenn er das Mähen nicht aushielt, sollte er die Sense hinwerfen und 243 weitergehen. Teufel noch mal, er könne doch nicht einen Kostgänger aufnehmen und noch Geld dazubezahlen, wenn er nicht arbeiten könne!

Hinterher hatte er aber doch ein Einsehen und schickte den Alten auf das Kartoffelfeld. Dort konnte er in Ruhe auf den Knien liegen und Frühkartoffeln ausnehmen. Das war eine Arbeit, die schließlich auch getan werden wollte, und das Gras konnte er ebensogut morgen früh selber noch schneiden, besonders, wenn er den langen Kamp für die Kühe liegen ließ, die mit der Weide beim Hause in längstens acht Tagen fertig sein würden. Wenn er nur nicht gerade die Handwerker im Hause hätte und bis zum nächsten Sonntag sowieso in der Wirtschaft alles drüber und drunter ginge, hätte er überhaupt keine Hilfe mehr gebraucht und den Alten gleich abgewiesen. Aber nun war er einmal da, und wenn er nicht viel tat, tat er doch etwas.

Das sah nicht allzu gut für Spindler aus. Aber er schien an Kummer gewöhnt zu sein und sich nicht viel daraus zu machen, daß man ihn nicht mit offenen Armen aufgenommen hatte und jetzt nur widerwillig dabehielt. Bescheiden und still bemühte er sich, wenigstens niemand im Wege zu sein und die Arbeit, die man ihm anwies, so gut es seine Kräfte zuließen, zu tun. So sah man ihn wenig, und nur des Nachts, wenn alles still geworden war, hörte ich zuweilen seinen keuchenden Husten aus der Scheune herüber, wo er schlief. –

Richtig wurde am folgenden Sonntag die Tanzdiele eingeweiht.

Behrens hatte durch eine Anzeige in der Zeitung dazu eingeladen, und so waren denn am Festtage nachmittags alle Tische im Garten besetzt. Ja, Behrens hatte es sich etwas kosten lassen und sogar die Dorfkapelle kommen 244 lassen, die nun mit schmetternder Musik den Garten erfüllte. Selbst der Justizrat war mit seiner Tochter herausgekommen, und beide waren nicht wenig verwundert über die Veränderung, die im Garten vor sich gegangen war.

Die Galerie, die sich um die Tanzdiele herumzog, war mit bunten Papiergirlanden geschmückt, und am Landungssteg und über der Eingangstür des Hauses prangten rote Papierschilder mit »Herzlich willkommen, liebe Gäste«.

Mit einem Wort, es war scheußlich, aber Behrens und seine Frau fanden es unübertrefflich schön so und hätten es ihren Logiergästen sehr übel genommen, wenn sie nicht an der Feier teilgenommen hätten. So blieb uns nichts anderes, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Gegen Abend, als wir in dem Durcheinander der Gäste an unserem gewohnten Tisch am Wasser saßen, forderte Lintrup Anka zum Tanz auf. Er war so ausgelassen und fröhlich.

»Ach, bitte nicht,« sagte sie.

»Aber, Anka,« drängte er. »Du tanzt doch sonst so gern.«

»Nein, laß mich bitte,« antwortete sie und sah mit einer Falte auf der Stirn von ihm weg auf den Fluß hinaus. »Tanz nur mit Fräulein Milla. Du unterhältst Dich doch so gern mit ihr.«

Es war gut, daß es weder der Justizrat noch Fräulein Milla hörten, die soeben aufgestanden waren und einen Rundgang durch den Garten machten, und ich selber hatte mich umgewendet und blickte über die Tische und sah den Tanzenden zu. Aber ich hörte jedes Wort, das sie miteinander wechselten.

»Was ist Dir denn nur heute?« fragte Lintrup verwundert und ein wenig niedergeschlagen. »Ich habe Dich doch nicht etwa auf Milla eifersüchtig gemacht, Liebe?« 245

»Wie Du das nur annehmen kannst!« entgegnete Anka. »Ich bitte Dich!«

»Dann ist es ja gut,« versuchte Lintrup einzulenken. »Aber ich hatte mich so auf einen Tanz mit Dir gefreut.«

»So, hattest Du das?« fragte Anka gereizt. »Da tut es mir leid, daß ich Dich enttäuschen muß.«

»Aber warum denn nur, Anka. Es soll Dich gewiß nicht anstrengen.«

»Nein, tanze mit Milla, hörst Du?« antwortete Anka. »Wirklich, Du tust mir einen Gefallen damit.«

»Ich verstehe Dich einfach nicht,« entgegnete Lintrup gekränkt. »Milla – gewiß, sie ist ein liebes Geschöpf, und wahrscheinlich hat sie längst darauf gewartet, daß ich wenigstens einmal mit ihr tanze, wo niemand an unserem Tische Miene macht, sie aufzufordern. Aber vorher möchte ich mit Dir tanzen, Anka. Was wird der Justizrat denken, wenn ich jetzt –«

»Ach, darum!« unterbrach Anka ihn höhnisch, und was sie ihm bisher in keiner Stunde ihres Beieinanderseins hatte gestehen mögen, sagte sie ihm jetzt in plötzlicher Aufwallung mit rücksichtsloser Offenheit ins Gesicht. »Ja, siehst Du denn nicht, warum ich nicht tanze – nicht tanzen darf?« fragte sie. »Bist Du denn völlig blind und ahnungslos?«

Beunruhigt stand ich auf und entfernte mich ein paar Schritte vom Tische, als hätte ich unter den Gästen einen Bekannten erblickt und wolle mich vergewissern, ob er es sei.

Als ich mich umwandte und zu den beiden an den Tisch zurückkehren wollte, war Anka aufgestanden, zog ihren Schal ein wenig fester um die Schultern und schritt mit zurückgeworfenem Kopfe und zusammengepreßten Lippen 246 zwischen den Tischreihen auf die Veranda zu und verschwand im Hause.

Lintrup war sitzen geblieben. Er war so bleich wie der Tod, und seine Hand zitterte, als er geistesabwesend die Zigarette zum Munde führte.

»Ich meinte wirklich, daß es Erkner wäre, der Herr dort drüben,« sagte ich. »Wie man sich täuschen kann.«

»So, Erkner,« antwortete er und starrte mich an.

Ja, nun wußte er es.

Er zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher, und ein Zucken ging über sein Gesicht. Aber er hielt sich tapfer. »Nein, ich hätte Ihnen vorher sagen können, daß es Erkner nicht sei!« meinte er und lächelte leer in den Lärm der Musik, der sich soeben von neuem in den Garten ergoß.

»Ist Anka ins Haus gegangen?« fragte ich, als hätte ich es nicht gesehen.

»Ich glaube . . . Sie fühlt sich nicht gut . . . es ist sehr schade. Vielleicht verträgt sie die vielen Menschen nicht, oder die Musik macht ihr Kopfschmerzen. Ich weiß nicht.«

Dann stand er mit einem Ruck auf.

»Wohin wollen Sie?« fragte ich und erhob mich gleichfalls.

»Ich muß wohl einmal nach ihr sehen,« antwortete er.

»Nein, warten Sie noch . . . es ist besser,« bat ich ihn.

Überrascht sah er mich an. »Sie wissen –?«

»Was meinen Sie?« fragte ich, so unbefangen und beiläufig, wie es mir gelingen wollte.

»Ah, nichts. Mir kam nur eben der Gedanke, daß Sie – – Sie glauben, daß ich Anka jetzt besser nicht –?«

»Nein,« sagte ich ruhig. »Sie fühlt sich schon seit einigen Tagen nicht gut. Es ist nichts Ernstliches, wie ich meine, und Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, aber –« 247

»So. Nichts Ernstliches, meinen Sie?« Er lächelte bitter und biß die Zähne aufeinander.

Da kam Fräulein Milla mit ihrem Vater zurück, und Lintrup mußte Anka von neuem entschuldigen. Nein, wie Milla das leid tat, zumal sie jetzt bald an die Rückfahrt denken müßten.

»Hallo!« sagte Lintrup und riß sich zusammen. »Nein, so früh lassen wir Sie heute nicht davon. Gerade jetzt, wo es anfängt gemütlich zu werden. Und Sie haben mir noch nicht einmal einen Tanz zugesagt!«

War er denn toll geworden?

Wirklich, er führte Milla durch den Garten, erstieg die Tanzdiele und begann so hingegeben zu tanzen, wie ich ihn noch nie tanzen gesehen hatte, und als die Musik schwieg und die Paare in die Hände klatschten und gleich eine neue Nummer verlangten, war er der Lauteste und Ausgelassenste von allen.

»Wenn Du noch ein wenig bleiben willst, mein Kind,« sagte der Justizrat, als die beiden wieder an den Tisch zurückkehrten, »ich habe nichts dagegen. Für die Rückfahrt mit dem Boote ist es jetzt doch schon reichlich spät geworden. Da ist es vielleicht besser, daß wir das Boot heute hier zurücklassen und nachher mit dem Zuge in die Stadt zurückfahren.«

Milla war entzückt von dem Vorschlag. Es gefiel ihr so ausgezeichnet hier draußen, und sie tanzte so gern . . .

Über der Tanzdiele wurden jetzt Lampions aufgehängt. Sie schaukelten rot und gelb wie riesige Apfelsinen unter den dunklen Zweigen der Bäume. Ja, Behrens verstand es, das mußte man sagen!

Der Justizrat hatte Wein bestellt und das Haus dadurch in einige Aufregung versetzt. Auf so vornehme Gäste war 248 man eigentlich nicht eingerichtet, aber zuletzt fand sich eine Sorte, die den Justizrat befriedigte.

Lintrup tanzte und trank, und eine lärmende Lustigkeit überkam ihn. Er ließ kein Musikstück vorübergehen, und der Justizrat lächelte, wenn er, kaum an den Tisch zurückgekehrt, Milla von neuem zum Tanz führte.

Da kam Fräulein Berg vom Hause in den Garten herab, und der Justizrat ging ihr entgegen und bat sie zu uns an den Tisch.

»Danke,« sagte sie auf seine Frage. »Fräulein Anka ist nicht recht wohl. Sie bittet um Entschuldigung, es ist ihr wirklich nicht möglich heute abend noch wieder herunterzukommen.«

»So,« rief Lintrup. »Ich finde das ausgezeichnet!« hob sein Glas und trank Milla zu.

Befremdet sahen alle ihn an, aber dann glitt das Gespräch weiter, und jeder tat, als hätte er die Worte nicht gehört.

»Sind Sie verrückt geworden?« flüsterte ich ihm zu und stieß ihn an.

»Jawohl,« antwortete er laut, »oder meinen Sie, daß Anka allein das Recht dazu hat?«

Nein, es war kein Umgehen mit ihm heute abend.

Zum Überfluß bestand er plötzlich darauf, mit Fräulein Berg tanzen zu wollen.

»Nein,« sagte sie, »nehmen Sie Vernunft an, bitte. Ich habe nie tanzen gelernt.«

»Sehen Sie,« lachte er, »dann wird es wirklich Zeit, daß Sie beginnen, das Versäumte nachzuholen.«

Ja, wenn es keinen Auftritt geben sollte, mußte sie ihm schon den Willen tun . . .

»Was ist denn mit Lintrup los?« fragte der Justizrat, 249 während Milla sich umwandte und den Tanzenden zusah. »Man kennt ihn ja gar nicht so. Hoffentlich hat ihn das bißchen Wein nicht so übermütig gemacht? Was ich übrigens sagen wollte, hätten Sie nicht einmal Lust, mit mir auf die Entenjagd zu gehen? Behrens will mir ein paar Poolenten zur Verfügung stellen. Das wäre doch herrlich. Ich komme in den nächsten Tagen einmal heraus, nicht wahr? Eigentlich bin ich ja kein Jäger und werde herzlich schlecht schießen, aber vielleicht, daß wir mehr Glück als Verstand haben, denn so weit ich weiß, sind Sie ebenfalls kein Schütze? Da werden wir uns denn nichts vorzuwerfen haben,« lachte er.

Aber dann wurde es allmählich Zeit, an den Aufbruch zu denken, und der Garten hatte sich bereits geleert, als der Justizrat und Milla sich verabschiedeten und Lintrup bat, sich ihnen anschließen zu dürfen.

Ging er etwa hinauf, Anka durch die Tür ein Lebewohl zuzurufen? Nein, er machte keine Miene dazu, und seine Lustigkeit schien noch zugenommen zu haben, als wir das Fährhaus hinter uns hatten und auf dem Wege zum Bahnhof waren.

»Sie sollten wieder umkehren,« mahnte mich der Justizrat, »es wird in den Nächten jetzt schon verteufelt dunkel, und Sie könnten hinterher Mühe haben, den Weg zu wahren.«

»O, keine Sorge,« lachte ich, »ich habe diesen Weg so oft gemacht, daß es wirklich keine Not damit hat,« und zupfte Lintrup am Ärmel, damit er ein wenig zurückblieb.

»Sind Sie denn von allen guten Göttern verlassen heute abend?« flüsterte ich. »Soll ich Anka nicht wenigstens einen Gruß ausrichten morgen früh?«

»Ja, wenn ich bitten darf,« sagte er. »Einen 250 ergebungsvollen Gruß, nicht wahr, einen Gruß, mit dem ich ihr meine ganze Hochachtung zu Füßen lege, verstehen Sie? Einen Gruß, bei dem man seinen Hut bis auf die Erde herabzieht, sehen Sie, so –!«

Nein, es war nicht zu reden mit ihm.

»Da hast Du Dir nun wochenlang Sorge um ihn gemacht,« sagte ich mir, als ich mich verabschiedet hatte und heimging, »und nun braucht er weder Rat noch Zuspruch. Nein, was für ein Seelenkenner Du wieder einmal gewesen bist! Hahaha!«

Als ich heimgekommen war, lauschte ich auf einen Laut aus Ankas Zimmer, vernahm aber nichts als das Rauschen des Nachtwindes draußen in den Bäumen des Gartens.

Da kamen eilige Schritte die Treppe herauf, und hastig klopfte jemand an meine Tür.

Es war Behrens.

»Ach, ist das wieder eine ärgerliche Geschichte,« sagte er verdrossen. »Man hat doch immer nur Umstände von solchen Leuten. Ich sah ja gleich, daß es nicht gut gehen würde . . .«

»Was ist denn?« unterbrach ich ihn.

»Spindler liegt im Sterben. Er hat einen Blutsturz gehabt vorhin, und ich glaube nicht, daß er noch viel länger als eine Stunde lebt. Wollen Sie nicht einmal nach ihm sehen? Er bat mich, Sie zu rufen. Ich ging vorhin an der Scheune vorbei, um auf dem Hofe noch einmal nach dem Rechten zu sehen, da hörte ich ihn drinnen stöhnen.«

»Haben Sie zum Arzt geschickt?« fragte ich.

»Nein,« antwortete er verlegen. »Bis der kommt, ist er wahrscheinlich schon tot. Besser wäre es, den Pastor zu holen.« 251

Als wir hinunterkamen und Behrens drinnen in der kleinen Bretterkammer die Laterne in die Höhe hob und dem Kranken ins Gesicht leuchtete, schlug Spindler mit einem Ausdruck der Angst in den eingefallenen blassen Zügen die Augen auf.

»So, Sie sind es,« flüsterte er. »Mir hat wohl geträumt . . .«

»Geht es nicht gut, Spindler?« fragte ich und nahm seine Hand.

Er antwortet nicht, atmete nur schwer, und ich fürchtete, daß er einen Rückfall bekommen könnte, wenn er sich zum Sprechen zwinge.

»Nein, sprechen Sie nicht,« bat ich ihn. »Sie müssen ganz still liegen jetzt . . . Ich werde bei Ihnen bleiben diese Nacht. Seien Sie ganz unbesorgt, hören Sie?«

Behrens war auf meinen Wink leise wieder hinausgegangen. Die Stallaterne hatte er neben das Bett auf den Boden gestellt.«

»Warten Sie noch einen Augenblick,« rief ich ihm nach und flüsterte ihm draußen zu, daß er auf alle Fälle dem Arzt und dem Pastor Bescheid geben sollte. Vielleicht könne ja Christine noch eben mit dem Rade ins Dorf hinüberfahren.

»Nein, da fahre ich lieber selber,« meinte er. »Die Magd hat auch keinen leichten Tag gehabt heute und liegt lange und schläft. Mit dem Arzt ist das aber so eine Sache,« meinte er. »Der Alte ist sicher in keiner Kasse, und ich habe hinterher noch die Kosten dazu! Was meinen Sie, was so ein Nachtbesuch kostet!« Aber dann schämte er sich doch ein wenig, zog schweigend das Rad aus der Scheune, stieg auf und fuhr davon.

Es war eine armselige Kammer, in der Spindler lag, 252 nur durch eine roh zusammengeschlagene Bretterwand von der Scheune abgetrennt. In seiner ersten Zeit, als Behrens noch im Hause als Knecht gedient hatte, hatte er selber dort geschlafen, aber nun war sie seit langen Jahren nicht mehr benutzt. Spinngewebe hingen in den Ecken, und das kleine Fenster, kaum so groß wie ein Hühnerloch, war so in seinem Rahmen festgeklemmt, daß es sich nicht öffnen lassen wollte. Dabei war die Luft so trocken und dunstig, daß sie auch einen Gesunden zum husten reizen konnte.

»Erschrecken Sie nicht,« sagte ich zu Spindler, »ich stoße das Fenster ein. In einer solchen Luft können Sie nicht liegen.«

Klirrend flog die Scheibe nach draußen, und ein kühler Lufthauch drang ins Zimmer.

»So,« sagte ich, nahm die Laterne vom Boden, hing sie an einen Nagel über dem Kopfe des Kranken auf und rückte den kleinen Schemel ans Bett, der neben dem wackeligen, alten Waschtisch das einzige Möbelstück in der Kammer war. »Behrens ist zum Arzt gefahren und will auch dem Pastor Bescheid geben. Das ist nötig wegen der Krankenkasse und solchen Dingen, wissen Sie. In so kleinen Gemeinden liegt so manches in der Hand des Pastors, und es gibt da gar keine bessere Hilfe. Liegen Sie gut so, Spindler?« fragte ich. »Soll ich Ihnen den Kopf ein wenig höher legen, ja? Ihre Stirn ist ein wenig heiß. Vielleicht tut es Ihnen gut, wenn ich Ihnen einen kalten Aufschlag mache? Da muß ich nur eben die Laterne mitnehmen.«

Ich ergriff die kleine Waschschüssel, tappte zum Hause in die Küche hinüber, holte frisches Wasser, feuchtete das Handtuch an und legte es ihm auf die Stirn. 253

»Tut Ihnen das gut, Spindler? Ja, Sie müssen selber sagen, ob es Ihnen angenehm ist so.«

Statt einer Antwort, tastete er mit seiner verarbeiteten braunen Hand nach dem Halsschluß seines Wollhemdes und zog den Aufschlag auf die Brust herab.

»Warten Sie,« sagte ich, »ich helfe Ihnen. Ja, auf der Brust liegt er vielleicht besser. Nun müssen Sie gar keine Sorge haben,« redete ich ihm zu, »hören Sie? Ganz ruhig bleiben und still liegen. Das geht alles wieder vorüber, sehen Sie.«

Er lächelte nur. »Nein, das geht nicht wieder vorüber, diesmal nicht,« sagte er leise, »braucht es auch gar nicht. Ich wäre froh, wenn es nun wirklich zu Ende wäre, kann ich Ihnen sagen.«

»Nein,« widersprach ich, »lange Reden dürfen Sie nun heute abend nicht halten.«

»Lassen Sie mich doch,« bat er, »es ist nicht lange mehr, daß ich etwas sagen kann. Mir war vorhin nur so dumpf im Kopf. Aber nun ist mir wieder ganz klar. Der Arzt, haben Sie gesagt? Das hat keinen Zweck, und er soll in Gottes Namen im Hause bleiben. Der Pastor – ja, das müssen Sie wissen. Das einzige, was mich ärgert, ist ja bloß, daß ich nun doch noch mal wieder ins Dorf zurück muß und wollte das doch nicht. Sie wissen wohl noch?«

»Ins Dorf? Nein, wenn der Arzt nicht meint, daß wir Sie besser in ein Krankenhaus bringen, können Sie ruhig hier bleiben, dafür will ich schon sorgen.«

»So meine ich es nicht,« sagte er ungeduldig. »Selbst begraben sein wollte ich da nicht. Aber das ist zuletzt auch einerlei. Sie erinnern sich doch an die Geschichte mit dem Stück Zeug für die Weste? Ich erzählte Ihnen damals davon. Ich schwöre Ihnen noch einmal, daß ich es nicht genommen habe.« 254

»Das habe ich auch niemals geglaubt, Spindler,« sagte ich nachdrücklich und merkte, wie wohl ich ihm damit tat.

»Es war auch nur die Frau,« fuhr er fort. »Ich glaube nicht einmal, daß der Meister von sich aus auf den Verdacht gekommen wäre.«

»Sicher nicht,« sagte ich. »Ich habe im Winter mit dem Meister mal darüber gesprochen. Es tat ihm leid genug, kann ich Ihnen sagen. Das Zeug hatte sich nämlich wiedergefunden.«

»Ist das wahr?« sagte Spindler, und ein Leuchten trat in seine Augen. »Wiedergefunden? Und wir haben damals im Hause alles um und um gekehrt! Aber am Ende hat die Meisterin es versteckt gehabt und mich auf die Weise nur aus dem Hause haben wollen. Überhaupt die Frauen, kann ich Ihnen sagen. Ich habe in meinem ganzen Leben immer nur Unglück durch sie gehabt. Aber wenn ich nun sterbe, – mein Gewissen beißt mich nicht, das können Sie mir glauben!«

Seine Brust ging heftiger, und ich mußte ihm die Hand auf den Mund legen. »Sie dürfen nicht mehr sprechen, Spindler. Seien Sie mal vernünftig, hören Sie?«

»Mir wird so heiß,« klagte er. »Nein, machen Sie sich nicht mehr so viel Mühe,« bat er, als ich ihm den Aufschlag abnahm und von neuem anfeuchtete.

»Mit der Marie ging es los,« begann er wieder. »Ich wollte sie heiraten, aber es ist nicht dazu gekommen. Es war nicht meine Schuld. Sie erwartete ein Kind von mir und nahm doch einen anderen. Vielleicht ist es mein Kind nicht gewesen. Ich bin nie klug daraus geworden. Du mich heiraten? lachte sie. Damit wir mit zweien Hungerpfoten saugen, was? Aber es war mal eine Zeit, da hat sie anders gesprochen. Aber dann konnte sie den 255 anderen kriegen und ließ mich laufen. Na ja, vielleicht hat sie ganz recht daran getan . . . Ich habe sie nie wiedergesehen . . . Aber nun müssen Sie nicht meinen, daß ich so ein Haus Leichtfuß gewesen bin. Ich habe mir Mühe genug gegeben. Aber das Unglück hat mich einfach nicht losgelassen. Es war wie verhext. O, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen . . . Nein, ich habe es nicht leicht gehabt, das glauben Sie nur. Oft genug, daß ich gedacht habe, mach ein Ende, Spindler. Ein Strick, und dann ist es gut. Aber dann habe ich doch immer den Mut nicht dazu gehabt . . . Übrigens das Fräulein da drüben im Hause . . . Ich habe oft an die Marie denken müssen, wenn ich sie ansah, soviel Ähnliches wie sie mit dem Fräulein hatte . . . Ebenso schönes, dunkles Haar hat sie gehabt und auch ganz ähnlich aus den Augen gesehen, nur daß sie ein wenig kleiner war und nicht ganz so schlank in der Figur. Ja, es war ein schönes Mädchen, die Marie, und noch als sie das Kind erwartete, rissen die Burschen auf der Straße den Kopf nach ihr herum, wenn sie vorüberging. Aber sie hatte es in sich, kann ich Ihnen sagen. Wehe, wenn sie gereizt war und die Wut in ihr hochkam. Und darum ist es vielleicht gut gewesen, daß es nicht dazu gekommen ist, daß wir geheiratet haben. Nickel hieß der andere. Ein hübscher Kerl. Er war Schlosser, jawohl, und ein Schlosser hatte in ihren Augen wohl mehr Ansehen. Dazu hatte er sich schon etwas erspart. Alle wunderten sich, daß er die Marie nehmen wollte. Wenn sie doch ein Kind erwartete, nicht wahr? Aber er kam nicht wieder von ihr los, sehen Sie, und er hätte wohl auch nie geglaubt, daß das Kind von einem anderen sei als von ihm. Na ja, ich glaub ja nun doch, daß es das meine war, und da hat es mir immer im Stillen weh getan, daß ich niemals dafür hab sorgen können, ja, 256 ich weiß heute nicht einmal, ob es noch lebt. Wenn ich es in meinem Leben zu etwas gebracht hätte, würde ich jetzt ein Testament machen. Alles sollte das Kind haben. Aber es lohnt sich wohl nicht. In mein Jackenfutter da habe ich mir ein paar Scheine eingenäht. Die kann Behrens kriegen für die kleine Elsbe. Sie hat mich gestern noch so lieb an die Hand genommen und hat bei mir im Garten gespielt. Einen Sarg brauche ich nicht. Werfen Sie mich nur vom Stege aus in den Fluß, wenn es vorbei ist mit mir, hören Sie?«

Er fing an im Fieber zu reden, und ich saß in dem tiefen Schweigen der Nacht in der alten Kammer, hörte die Kerze in der Laterne knistern und sah zu, wie in diesem verlorenen Winkel ein Mensch starb, der ein Leben gelebt hatte ohne Liebe und ohne Freude.

»Wenn nur der Durst nicht wäre,« sagte er einmal, als er aus dem Halbschlummer, in den er versunken war, wieder emporschreckte.

Ich reichte ihm ein Glas Wasser, und er begann gierig und in großen Schlucken zu trinken. Das ermunterte ihn ein wenig, und er fing von neuem an, mir aus seinem Leben zu erzählen.

Ich widersprach ihm nicht mehr. Vielleicht war es ihm eine Erleichterung, sich den letzten Gram von der Seele reden zu können. Dann begann er von neuem zu fantasieren, und als Behrens endlich mit dem Pastor kam – er hatte das Rad geschoben und dem Pastor mit der Radlaterne den Weg erleuchtet – röchelte er bereits.

Der Pastor, der die Laterne von der Wand genommen und dem Kranken ins Gesicht geleuchtet hatte, schüttelte unmerklich mit dem Kopfe und machte uns ein Zeichen mit den Augen. 257

»Ich glaube, ich komme schon zu spät,« sagte er, als wir schweigend ins Freie getreten waren. »Es wird nicht lange mehr mit ihm dauern. Der Todeskampf hat bereits eingesetzt, und es ist wohl kaum eine Aussicht, daß er noch einmal wieder zur Besinnung kommt. Ich habe die Abendmahlsgeräte mitgebracht, aber ohne seinen ausdrücklichen Wunsch möchte ich ihm die letzte Spende nicht reichen.«

Langsam gingen wir durch den Garten zum Hause hinauf. Der Morgen graute bereits, und über Fluß und Wiesen lag eine tiefe Stille.

Mit einem schnellen Blick sah ich zu Ankas Fenster hinauf. Es stand offen, und die Vorhänge wehten leise im Morgenwinde.

Als ich oben über den Flur schritt, öffnete sie ihre Tür und trat zu mir heraus. Sie war noch in demselben Kleide wie gestern und sah blaß und übernächtig aus.

»Ist etwas geschehen, Ohl?« fragte sie.

»Der alte Spindler liegt im Sterben,« antwortete ich leise. »Ich habe ein paar Stunden bei ihm gewacht. Aber jetzt haben wir ihn allein gelassen. Es wird nicht lange mehr mit ihm dauern, und helfen kann ihm niemand mehr.«

»Der Glückliche!« sagte Anka und seufzte.

»Meinen Sie das wirklich?« fragte ich. »Ich bin selten einem Menschen begegnet, der so ohne Liebe geblieben wäre, verachtet und von allen gemieden.«

Anka antwortete nicht, sah mich nur aus großen Augen an.

»Ohne Liebe, sagten Sie? Dann gehört er zu mir. Wo ist er? Führen Sie mich hin!«

Spindler lag noch, wie wir ihn verlassen hatten . . . Die Morgendämmerung ließ sein todblasses Gesicht noch bleicher und verfallener erscheinen als das Licht der Kerze vorhin. 258

»Ohl,« flüsterte Anka erschüttert und umklammerte erbebend meinen Arm. »Ohl!«

Aber es war nur ein Augenblick, dann hatte sie sich wieder, zog den Schemel ans Bett, und leise legte sie ihren Arm um das Kissen, auf dem der Kopf des Sterbenden lag.

Liebevoll sah sie ihm ins Gesicht.

»Ganz still sein, Spindler,« flüsterte sie. »Es ist so schön, was Ihnen geschieht!« Und so leise, daß sich kaum ihre Lippen dabei bewegten, setzte sie hinzu: »Es gibt nichts, das so schön und erhaben wäre als zu sterben, Spindler, nichts, in dem so viel Liebe wäre . . .«

Aber Spindler hörte nicht mehr, und kein Schimmer der Freude glitt über sein Gesicht, daß die Frau, die seiner Marie so ähnlich war, wie er mir vorhin erzählt hatte, sich zu ihm neigte und sein Haupt mit ihren Armen umfing. Oder empfand seine Seele, ohne es noch bekunden zu können, doch so etwas wie einen ersten Atemzug der ausgleichenden Gerechtigkeit, die hinter den Dingen dieser Welt unserer wartet?

Drei Tage später begruben wir ihn auf dem Friedhofe im Dorfe. Anka und Fräulein Berg hatten einen Kranz für seinen Sarg gebunden, so überflüssig Behrens das auch gefunden hatte.

Spindler hatte nie wieder ins Dorf zurück wollen – aber wie sein Sarg jetzt auf den Schultern der Träger durch die Dorfstraße schwankte, sah es aus, als zöge er im Triumphe wieder ein, wo er im vorigen Winter schimpflich davongejagt worden war.

Er liegt zu Füßen von Lütt Tienken, an dem Wege, der bei der windverwehten alten Zypresse hinter dem Kirchturm herumführt. 259

 


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