George Sand
Die Grille oder die kleine Fadette
George Sand

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Zehntes Kapitel.

Wäre Landry nicht von Sylvinet durch den Fluß getrennt gewesen, der in seinem ganzen Laufe, wie man in der neueren Zeit zu sagen pflegt, nicht mehr als vier bis fünf Meter Breite hat, stellenweise aber ebenso tief wie breit ist – so würde er sicherlich ohne weiteres seinem Bruder an den Hals geflogen sein. Da er von Sylvinet nicht einmal gesehen wurde, hatte er Zeit bei sich zu überlegen, auf welche Art er den in seine Träumereien versunkenen Bruder erwecken, und durch Überredung mit sich nach Hause zurückführen könne. Sobald dies nicht mit den Absichten des armen Trotzkopfes übereinstimmte, konnte dieser leicht nach einer anderen Seite hin entschlüpfen, und für Landry war es dann nicht so leicht, früh genug eine seichte Stelle oder einen Brückensteg zu finden, um den Flüchtling wieder einholen zu können.

Nachdem Landry eine Weile mit sich selbst zu Rate gegangen war, fragte er sich, wie sein Vater, der an Klugheit und Bedachtsamkeit vier anderen erfahrenen Männern gewachsen war, in solch einem Falle handeln würde. Er sagte sich sehr richtig, daß Vater Barbeau, ohne viel Aufhebens zu machen, ganz sachte dabei zu Werke gehen würde, damit Sylvinet nur ja nicht merken könne, wie sehr man seinetwegen in Angst gewesen sei. So blieb es diesem auch erspart eine allzugroße Reue zu empfinden, und ebenso wurde er nicht ermutigt, wenn er eines Tages wieder von seinem Verdruß gepackt werden sollte, aufs neue ein ähnliches Stückchen aufzuführen.

Er begann deshalb zu pfeifen, als ob er die Amseln hätte locken wollen, um sie zum Singen zu veranlassen, wie dies die Hirten zu thun pflegen, wenn sie beim Einbruch der Nacht ihre Herden an den Gebüschen vorüber treiben. Das Pfeifen veranlaßte Sylvinet den Kopf zu erheben, und als er seinen Bruder erblickte, schämte er sich und stand rasch auf, sich mit dem Gedanken tröstend, daß er noch nicht gesehen worden sei. Landry that nun, als ob er ihn erst in diesem Augenblicke bemerke und rief ihn an, ohne die Stimme dabei besonders zu erheben, denn das Rauschen des Wassers war nicht mehr so stark, um es zu erschweren, sich verständlich zu machen.

»He! Sylvinet, bist du da drüben? Den ganzen Morgen habe ich auf dich gewartet, und als ich sah, daß du für so lange Zeit fort gegangen warst, habe ich mich aufgemacht, um hier einen Spaziergang zu machen bis zum Abendessen, wo ich dann sicher darauf rechnete dich wieder zu Hause zu finden; aber da bist du ja, und so wollen wir nun miteinander heim kehren. Wir wollen am Fluß entlang gehen, jeder auf der Uferseite, wo er sich jetzt befindet, und an der Strudelfurt treffen wir dann zusammen.« Dies war die Furt rechts von dem Häuschen der Mutter Fadette.

»Gehen wir also,« sagte Sylvinet, indem er das Lamm, dem er noch zu fremd war, als daß es ihm freiwillig gefolgt wäre, auf den Arm nahm. So gingen sie miteinander am Fluß hinunter, ohne daß sie es eigentlich gewagt hätten, sich anzublicken; so groß war ihre Furcht, etwas von dem Kummer merken zu lassen, den sie über das Bösesein empfunden hatten, oder die Freude zu verraten, die ihnen das Wiedersehen verursachte. Ohne sich im Gehen zu unterbrechen, richtete Landry, um den Schein zu vermeiden, als ob er an die Verstimmung seines Bruders glaube, von Zeit zu Zeit ein paar Worte an ihn. Zuerst fragte er, wo er das kleine gesprenkelte Lamm gefunden habe. Sylvinet wußte dies nicht recht zu sagen, denn er wollte nicht gestehen, wie weit er fortgegangen war, und daß er nicht einmal die Namen der Orte wußte, an denen er vorüber gekommen war. Als Landry seine Verlegenheit bemerkte, sprach er zu ihm:

»Du wirst mir das später erzählen; der Wind weht hier so heftig, und es ist nicht ratsam sich unter den Bäumen am Flusse aufzuhalten. Aber, da fallen glücklicherweise schon Tropfen vom Himmel herunter; so wird es gewiß nicht lange mehr dauern, daß der Wind sich wieder legt.«

Für sich selbst sagte er dabei: »Es ist gerade so eingetroffen, wie die Grille es mir vorher sagte, daß ich ihn noch vor dem Regen wiederfinden würde. Soviel ist gewiß, dieses Mädchen versteht mehr als unsereins.«

Er dachte dabei aber nicht daran, daß er eine gute Viertelstunde damit verbracht hatte, sich mit der Mutter Fadet zu verständigen, als er sich mit seinen Bitten an sie gewendet, und sie sich geweigert hatte ihn anzuhören. Während dieser Zeit war es recht gut möglich, daß die kleine Fadette, die er nicht eher sah, als nachdem er das Häuschen verlassen hatte, Sylvinet gesehen haben konnte. Dies wurde ihm endlich klar; aber, wie war es nur möglich, daß sie, als sie ihn anredete, schon so gut wußte, warum er so bekümmert war, da sie doch nicht dabei gewesen war, als er sich vor der Alten darüber ausgesprochen hatte. Jetzt aber dachte er nicht daran, daß er schon mehrere Personen nach seinem Bruder gefragt hatte, bevor er noch auf die Binsenwiese gekommen war, und daß irgend jemand vor der kleinen Fadette davon gesprochen haben konnte; oder auch, daß diese das Ende seiner Unterredung mit der Großmutter mit angehört haben konnte, indem sie sich in der Nähe versteckt hielt, wie sie oft zu thun pflegte, um alles zu erfahren, was ihre Neugierde reizte.

Der arme Sylvinet dachte für sich auch darüber nach, wie er seinem Bruder und seiner Mutter gegenüber das Seltsame seines Benehmens erklären sollte, denn er hatte gar keine Ahnung davon, daß Landry sich nur verstellte, und er wußte nicht, welche Geschichte er ihm erzählen sollte, er, der in seinem ganzen Leben noch nicht gelogen, und der vor seinem Zwillingsbruder noch nie etwas verheimlicht hatte.

Es war ihm auch recht schlecht zu Mute, als er die Furt durchschritt, denn bis hierher war er nun gekommen, ohne etwas zu ersinnen, wie er sich aus der Verlegenheit heraushelfen sollte.

Sobald er das andere Ufer erreicht hatte, schloß Landry ihn in seine Arme, mit noch viel größerer Herzlichkeit, als er dies sonst zu thun pflegte. Aber er enthielt sich jeder weiteren Frage an seinen Bruder, da er recht wohl bemerkte, daß dieser nicht wußte, was er sagen sollte. So führte er ihn mit sich nach Hause zurück, indem er ihm von allen möglichen Dingen vorsprach, nur nicht von dem, was ihnen beiden am meisten im Sinne lag. Als sie am Hause der Mutter Fadet vorüber kamen, spähte er eifrig umher, ob die kleine Fadette nicht zu erblicken sei, und er fühlte sogar das Verlangen ihr zu danken. Aber die Thür war verschlossen, und man hörte kein anderes Geräusch, als die heulende Stimme des Grashüpfers, der von seiner Großmutter durchgeprügelt wurde, was jeden Abend geschah, mochte er es verdient haben oder nicht.

Als Sylvinet diesen kleinen Burschen weinen hörte, fühlte er sich schmerzlich ergriffen, und er sagte zu seinem Bruder:

»Das ist ein abscheuliches Haus, wo man immer nur Schreien und Prügeln hört. Ich weiß wohl, daß es nicht leicht etwas schlechteres und ungezogeneres geben kann, als diesen Grashüpfer, und was die Grille betrifft, so wäre sie mir auch keine zwei Sous wert. Aber sie sind beide recht unglückliche Kinder, da sie weder Vater noch Mutter mehr haben und nur von dieser alten Hexe abhängen, die immer in Wut ist und ihnen nichts hingehen läßt.«

»Da ist's freilich nicht wie bei uns,« erwiderte Landry. »Noch nie haben wir den geringsten Schlag erhalten, vom Vater so wenig wie von der Mutter, und selbst, wenn man uns wegen unserer Kinderstreiche auszankte, geschah es in so sanfter und anständiger Weise, daß die Nachbarn nichts davon hörten. So giebt es Menschen, die in ihrem Glück garnicht zu würdigen wissen, was sie vor anderen voraus haben; und doch, die kleine Fadette, welche das unglücklichste Kind auf Erden ist, und die so beispiellos schlecht behandelt wird, lacht immer, ohne sich je über etwas zu beklagen.«

Sylvinet verstand den Vorwurf und bereute sein Vergehen; schon seit dem Morgen hatte er diese Reue empfunden, und mehr als zwanzig Mal hatte ihn die Lust angewandelt nach Hause zurückzukehren, aber die Scham hatte ihn davon abgehalten. In diesem Augenblick wurde ihm das Herz schwer, und ohne etwas zu sagen, begann er zu weinen; aber sein Bruder nahm ihn bei der Hand und sprach zu ihm: »Sieh, wie stark es regnet, Sylvinet; wir wollen laufen, daß wir rasch zu Hause kommen.« Sie begannen also zu laufen; Landry gab sich alle Mühe Sylvinet zum Lachen zu reizen, und dieser, seinem Bruder zu gefallen, zwang sich auch dazu.

Als sie aber in Begriff waren in das Haus einzutreten, hätte Sylvinet sich gern in der Scheune verbergen mögen, denn er fürchtete sein Vater werde ihm Vorwürfe machen. Vater Barbeau aber, der die Dinge nicht so ernsthaft nahm wie seine Frau, begnügte sich damit ihn zu necken. Die Mutter Barbeau, die von ihrem Manne wohlweislich eine Lektion erhalten hatte, that sich allen Zwang an vor ihrem Sohne die qualvolle Unruhe zu verbergen, die er ihr verursacht hatte. Indessen, während sie damit beschäftigt war dafür zu sorgen, daß ihre Zwillinge sich vor einem tüchtigen Feuer wieder trocknen konnten, und ihnen ein Abendessen vorzusetzen, erkannte Sylvinet deutlich, daß sie geweint hatte und sah wie sie ihn von Zeit zu Zeit mit besorgter, kummervoller Miene betrachtete. Wäre er mit ihr allein gewesen, dann hätte er sie um Verzeihung gebeten, und würde sie so lange geliebkost haben, bis sie sich getröstet hätte. Aber der Vater Barbeau war nicht grade ein Freund von allen solchen Hätscheleien, und so sah Sylvinet, den die Müdigkeit überwältigte, sich genötigt, ohne etwas zu sagen, gleich nach dem Abendessen zu Bette zu gehen. Den ganzen Tag über hatte er nichts gegessen; sobald er deshalb sein Abendbrot, dessen er sehr bedurfte, hastig verzehrt hatte, fühlte er sich wie berauscht, so daß er gezwungen war, sich von seinem Zwillingsbruder entkleiden und ins Bett legen zu lassen. Dieser blieb dann auch bei ihm, und eine von Sylvinets Händen in der seinigen haltend, setzte er sich auf den Rand des Bettes.

Als Landry sah, daß sein Bruder fest eingeschlafen war, verabschiedete er sich von seinen Eltern, ohne zu bemerken, daß seine Mutter ihn mit größerer Zärtlichkeit küßte, als sie es sonst zu thun pflegte. Er hatte immer geglaubt, daß sie ihn nicht so liebe wie seinen Bruder, aber er war deshalb durchaus nicht eifersüchtig, denn er sagte sich, daß er ja auch viel weniger liebenswürdig sei, und daß er an ihrer Liebe den Anteil habe, der ihm zukomme. Er fügte sich in diesen Stand der Dinge, ebensosehr aus Respekt vor seiner Mutter, wie aus Liebe zu seinem Zwillingsbruder, der ja ein viel größeres Bedürfnis nach Zärtlichkeiten und sanftem Zuspruch hatte, als er selbst.

Am folgenden Morgen eilte Sylvinet an das Bett seiner Mutter, noch bevor sie aufgestanden war, und sein Herz vor ihr ausschüttend, bekannte er ihr seine Reue und wie sehr er sich schäme. Er erzählte ihr, wie er sich seit einiger Zeit so unglücklich fühle, nicht so sehr, weil er von Landry getrennt sei, als vielmehr, weil er sich einbilde, Landry habe ihn gar nicht mehr lieb. Als seine Mutter ihn wegen dieser ungerechten Vermutung zur Rede stellte, war es ihm nicht möglich die Gründe anzugeben, wie er dazu gekommen sei. Sie hatte sich seiner bemächtigt, wie eine Krankheit, deren er sich nicht erwehren konnte. Die Mutter verstand ihn besser, als sie es sich merken lassen wollte, denn das Herz einer Frau ist derartigen Quälereien sehr leicht zugänglich, und sie selbst hatte es oft peinlich empfunden, wenn sie sah, wie Landry in seinem Mut und seiner Kraft so gelassen und fest war. Aber bei dieser Gelegenheit erkannte sie, daß die Eifersucht in jedem Verhältnis etwas Verkehrtes ist, selbst da, wo uns die Liebe von Gott am meisten geboten wird, und so hütete sie sich wohl Sylvinet darin zu bestärken. Sie machte ihn darauf aufmerksam, einen wie großen Schmerz er seinem Bruder verursacht habe und auf dessen außerordentliche Güte, daß er sich nicht einmal darüber beklagt oder beleidigt gezeigt habe. Sylvinet sah dies alles ein und gab auch zu, daß Landry eine viel christlichere Gesinnung habe, als er selbst. Er versprach und nahm sich auch vor, daß er sich ändern wolle, wozu er jedenfalls den aufrichtigen Willen hatte.

Indessen trotz seiner selbst, und obgleich er eine getröstete und zufriedene Miene zur Schau trug, und seine Mutter noch überdies alle seine Thränen getrocknet und alle seine Klagen mit den kräftigsten Trostgründen widerlegt hatte, und er selbst auch sein möglichstes that, sich seinem Bruder gegenüber einfach und natürlich zu benehmen, – so blieb in seinem Herzen doch ein Rest von Bitterkeit zurück. – »Mein Bruder,« sagte er sich unwillkürlich, »ist der bessere Christ und der Gerechtere von uns beiden; meine liebe Mutter hat es ja gesagt und es ist die Wahrheit; aber, wenn er mich ebenso lieb hätte, wie ich ihn, dann könnte er sich unmöglich so in die Verhältnisse hineinfügen, wie er es thut.« – Und hier gedachte er der ruhigen, beinah gleichgültigen Miene, welche Landry angenommen hatte, als er ihn am Ufer des Flusses aufgefunden hatte. Er erinnerte sich daran, wie Landry, als er nach ihm suchte, den Amseln gepfiffen hatte, und das grade in dem Augenblick, wo er selbst wirklich daran dachte, sich in den Fluß zu stürzen. Wenn er diesen Gedanken auch noch nicht gehabt hatte, als er das Haus verließ, so war er ihm gegen Abend doch wiederholt gekommen, als er sich mit der Einbildung quälte, sein Bruder werde es ihm niemals verzeihen, daß er ihm getrotzt habe und zum erstenmal in seinem Leben ausgewichen sei. »Wäre es Landry gewesen, der mir eine solche Beleidigung zugefügt hätte,« sagte er bei sich, »so würde ich mich nie wieder darüber beruhigt haben. Ich bin sehr glücklich, daß er mir verzeiht, aber ich hätte doch nicht geglaubt, daß er es thun würde.« Mit solchen Gedanken quälte das unglückliche Kind sich ab und konnte nicht fertig werden damit und hörte nicht auf zu seufzen.

Allein, wie Gott uns belohnt und seine Hilfe nicht versagt, sobald wir nur den ernsten Willen haben, ihm wohlgefällig zu sein, so geschah es auch, daß Sylvinet während der übrigen Zeit des Jahres vernünftiger wurde. Er vermied es mit seinem Bruder zu streiten und zu schmollen und liebte ihn schließlich in einer stilleren und friedlicheren Weise, so daß seine Gesundheit, welche durch alle diese Aufregungen gelitten hatte, wieder hergestellt und gekräftigt wurde. Sein Vater, welcher bemerkte, daß Sylvinet sich um so besser befand, je weniger er sich mit sich selbst beschäftigen konnte, sorgte dafür, ihn mehr zur Arbeit zu verwenden. Aber die Arbeit im elterlichen Hause ist nie so hart und schwer wie die, welche man bei Fremden auf Befehl zu verrichten hat. So kam es auch, daß Landry, der sich nicht eben schonte, an kräftiger Entwickelung in Wuchs und Gliederbau seinen Zwillingsbruder in diesem Jahre überholte. Die kleinen Verschiedenheiten, welche stets zwischen ihnen bemerkbar gewesen waren, traten immer deutlicher hervor, und übertrugen sich auch von ihrem Wesen auf die äußere Erscheinung. Nachdem sie das fünfzehnte Jahr überschritten hatten, gestaltete sich Landry immer mehr zu einem durchaus schönen Burschen. Sylvinet blieb ein hübscher junger Mensch, viel zierlicher in Gestalt und Wuchs und viel weniger männlich in der Färbung des Gesichtes als sein Bruder. Auch kam es nie mehr vor, daß man sie miteinander verwechselte, und trotzdem sie sich noch immer ähnlich waren, wie zwei Brüder, so wurden sie doch nicht mehr auf den ersten Blick als Zwillinge erkannt. Landry galt für den Jüngsten, weil er eine Stunde nach Sylvinet geboren war. Aber Personen, welche die beiden zum erstenmale sahen, hielten ihn stets für ein oder zwei Jahre älter als seinen Bruder. Dies trug dazu bei, den Vater Barbeau in seiner Vorliebe für ihn zu bestärken, denn nach Art der Landleute schätzte dieser vor allem die Kraft und einen stattlichen Wuchs als die Hauptsache.


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