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So verging die ganze Woche. Sylvinet ging täglich hinaus, um seinen Bruder zu besuchen, und wenn er dann vom Zwillingshofe herübergekommen war, blieb dieser für ein paar Augenblicke bei ihm stehen. Landry fügte sich immer besser in seine Lage; Sylvinet aber wußte sich in die seinige gar nicht zu finden, und wie eine im Fegefeuer auf Erlösung harrende Seele begann er die Tage und Stunden der Trennung zu zählen.
Auf der ganzen Welt gab es niemanden als Landry, der ihn hätte zur Vernunft bringen können. Auch die Mutter wandte sich an diesen, daß er ihr helfen möchte, den Bruder zu beruhigen, denn mit der Betrübnis des armen Knaben wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Er mochte sich an keinem Spiele mehr beteiligen, und arbeitete nur noch, wenn es ihm gradezu befohlen wurde. Seine kleine Schwester führte er wohl noch spazieren, aber fast ohne ein Wort dabei zu reden, oder ihr auf irgend eine andere Art die Zeit zu vertreiben; er gab nur darauf acht, daß sie nicht fallen oder auf eine andere Art zu Schaden kommen könne. Sobald man ihn nicht immer im Auge behielt, machte er sich davon und wußte sich so gut zu verbergen, daß man gar nicht wußte, wo man ihn suchen sollte. Alle Gräben, alle Furchen, alle Schluchten, wo er gewohnt gewesen war mit Landry zu spielen und zu plaudern, suchte er wieder auf. Er setzte sich auf die Baumwurzeln, auf denen sie miteinander gesessen hatten, und netzte sich die Füße in allen kleinen Bächen, in denen sie wie ein paar junge Enten miteinander herumgepascht waren; er freute sich, wenn er nur ein Stück Holz wieder auffand, welches Landry mit seinem Gartenmesser zugeschnitten hatte; oder irgend einen Kieselstein, den dieser als Schleuder oder zum Feuerschlagen benutzt hatte. Er sammelte sie alle, diese Kleinigkeiten und versteckte sie in einem hohlen Baume oder unter einer Holzschicht; von Zeit zu Zeit holte er sie dann wieder hervor, um sich an ihrem Anblick zu erlaben, als ob sie Gegenstände von großer Wichtigkeit gewesen wären. In Gedanken ging er alles wieder durch und zerbrach sich den Kopf, auch nur die geringsten Nebenumstände des vergangenen Glückes in seiner Erinnerung wieder heraufzubeschwören. Was für jeden anderen gar keinen Wert gehabt hätte, galt ihm noch über alles. Wie es in der Zukunft werden sollte, das kümmerte ihn gar nicht, denn er hatte nicht einmal den Mut an eine Reihenfolge solcher Tage zu denken, wie sie ihm jetzt auferlegt waren. Er lebte mit seinen Gedanken nur in der Vergangenheit und verzehrte sich in den endlosen Träumereien seiner Sehnsucht.
Es gab Zeiten, wo er sich einbildete seinen Zwillingsbruder leibhaftig vor sich zu sehen und zu hören. Dann plauderte er ganz allein vor sich hin, in der Meinung diesem zu antworten. Manchmal überraschte ihn auch der Schlaf, wo er sich gerade befand, und er träumte von ihm; wenn er dann aber erwachte und sich wieder allein fand, begann er bitterlich zu weinen, und er ließ seinen Thränen um so freieren Lauf, weil er hoffte durch die Ermüdung seinen Schmerz endlich gelindert zu fühlen.
Eines Tages, da er auf seinen Streifereien bis zu der Stelle gelangt war, wo das Schlagholz von Champeaux steht, fand er auf dem Bach, der zur Regenzeit aus dem Gehölz herausfließt, jetzt aber ganz ausgetrocknet war, eine jener kleinen Mühlen wieder auf, wie die Kinder sie in unserer Gegend so geschickt aus Hobelspänen zu machen verstehen, daß sie sich bei der Strömung drehen und sich manchmal lange auf der Oberfläche des Wassers erhalten, bis andere Kinder sie zerbrechen, oder der höhere Wasserstand sie mit fortreißt. Diese, welche Sylvinet wieder aufgefunden hatte, lag hier schon seit mehr als zwei Monaten, und da es eine einsame Stelle war, hatte niemand sie gesehen, noch etwas daran verderben können. Sylvinet erkannte sie sogleich als das Werk seines Zwillingsbruders; beim Anfertigen derselben hatten sie sich vorgenommen wieder hierher zu kommen, um darnach zu sehen. Sie hatten aber nicht weiter daran gedacht, und seitdem an anderen Orten viele andere Mühlen gemacht.
Sylvinet war also sehr erfreut sie wieder zu finden, und trug sie etwas weiter hinauf, wohin das Wasser des Baches sich zurückgezogen hatte. Dort wollte er sehen, wie sie sich drehte und dabei an das Vergnügen denken, welches Landry gehabt hatte, als er ihr den ersten Anstoß gab. Dann ließ er sie an der Stelle, wohin er sie getragen und freute sich schon darauf, wenn er am nächsten Sonntag mit Landry wiederkommen würde, um ihm zu zeigen, wie ihre so fest und gut gefügte Mühle sich erhalten habe.
Aber er konnte es sich nicht versagen, schon am folgenden Tage allein dahin zurückzukehren. Das Wasser des Baches war ganz getrübt, und die Ufer desselben zerstampft durch die Füße der Ochsen, welche dort zur Tränke geführt waren, und die man am Morgen zwischen das Schlagholz auf die Weide getrieben hatte. Er trat etwas näher hinzu und sah, daß die Tiere auf seine Mühle getreten und sie so zerstampft hatten, daß nur noch wenig davon zu sehen war. Das Herz wurde ihm schwer darüber, und er bildete sich ein, daß an diesem Tage seinem Bruder irgend ein Unglück zustoßen müsse, und er lief bis nach la Priche, um sich zu überzeugen, daß ihm nichts Schlimmes widerfahren sei. Hier aber begnügte er sich damit, seinen Bruder von weitem zu betrachten, und zwar so, daß er selbst nicht gesehen werden konnte. Er hatte nämlich bemerkt, das es Landry nicht angenehm war, wenn er unter tags kam, weil dieser fürchtete, daß solch eine Störung bei der Arbeit seinen Herrn verdrießen könne. Da er sich geschämt haben würde zu gestehen, von welchen Gedanken gedrängt er herbei geeilt war, kehrte er ohne ein Wort zu verlieren, wieder um; er sprach überhaupt mit niemanden darüber; erst sehr lange Zeit nachher that er dies.
Da seine Gesichtsfarbe blaß wurde, weil er wenig schlief und so zu sagen fast gar nichts aß, wurde seine Mutter sehr betrübt, und sie wußte nicht mehr, was sie thun sollte, um ihn zu trösten. Sie versuchte es, ihn mit sich zu nehmen, wenn sie in den Marktflecken ging, oder sie redete ihm zu, seinen Vater oder seinen Onkel zu begleiten, wenn diese zu den Viehmärkten gingen. Aber er nahm an nichts einen Anteil, und nichts konnte ihn mehr erfreuen. Ohne ihn etwas merken zu lassen, machte sich deshalb Vater Barbeau auf den Weg und versuchte es, den Vater Caillaud zu bereden die Zwillinge beide in seinen Dienst zu nehmen. Dieser aber gab ihm eine Antwort, die er selbst als begründet anerkennen mußte.
»Vorausgesetzt,« so ungefähr sprach der alte Caillaud, »ich würde sie eine Zeitlang alle beide in meinen Dienst nehmen, so könnte dies doch nicht von Dauer sein, denn wo man mit einem Diener genug hat, würde es für Leute unseres Schlages nicht gut thun, deren zwei in den Dienst zu nehmen. Wenn das Jahr herum wäre, würdet ihr immerhin wieder genötigt sein, für den einen eurer Zwillinge irgend einen anderen Dienst zu suchen. Und seht ihr denn nicht ein, daß Sylvinet nicht mehr so viel träumen würde, wenn er in einem Dienst wäre, wo er zur Arbeit gezwungen wäre? Dann würde er es machen wie der andere, der sich tapfer in sein Schicksal gefunden hat. Früher oder später muß es doch so kommen. Ihr werdet ihn vielleicht nicht grade an den Ort hin verdingen können, wie ihr wohl möchtet, und wenn diese beiden Buben noch weiter voneinander entfernt werden, so daß sie sich nur noch jede Woche, oder jeden Monat einmal sehen können, so ist es immer besser sie schon beizeiten daran zu gewöhnen, daß sie nicht immer zusammenhocken können. Seid also vernünftig, lieber Nachbar, und macht nicht so viele Umstände mit den Einbildungen eines Kindes, das von eurer Frau und von euren anderen Kindern etwas zu viel verhätschelt und verzogen wurde. Das Schlimmste ist überwunden, und glaubt nur, daß er sich in das Übrige schon finden wird, sobald ihr nur nicht nachgebt.«
Vater Barbeau ließ sich belehren, und er sah ein, das Sylvinets Sehnsucht nach seinem Zwillingsbruder nur immer mehr zunehmen werde, je häufiger er ihn sehen würde. Er nahm sich deshalb vor am nächsten Johannistag für Sylvinet einen Dienst zu suchen. Er hoffte, daß dieser, wenn er Landry immer weniger sehen würde, sich schließlich daran gewöhnen werde, wie alle anderen zu leben, und sich nicht mehr von einem Gefühl bewältigen zu lassen, das in ein krankhaftes Verlangen zu entarten drohte.
Aber vor der Mutter Barbeau durfte noch nicht von diesem Plane geredet werden, denn schon bei der ersten Andeutung davon, weinte sie sich halbtot. Sie meinte, Sylvinet könne daran zu Grunde gehen, und der Vater Barbeau wußte sich wirklich nicht mehr zu helfen.
Landry, der von seinem Vater, seinem Herrn und auch von seiner Mutter zu Rate gezogen wurde, unterließ nicht, seinem armen Bruder zuzureden. Sylvinet wußte gegen seine Vorstellungen durchaus nichts einzuwenden, versprach auch alles, konnte sich aber nicht überwinden. Es kam bei seinem Schmerz noch etwas anderes in Betracht, wovon er aber nichts verlauten ließ, weil er auch gar nicht gewußt hätte, wie er es vorbringen sollte. Dies war nämlich, daß im Innersten seines Herzens in Bezug auf Landry eine ebenso heftige wie sonderbare Eifersucht zu keimen begann. Er fühlte sich befriedigt, ja mehr als je zuvor, wenn er sah, wie Landry bei jedermann in Ansehen stand, wie er von seiner Dienstherrschaft so freundschaftlich behandelt wurde, als ob er ein Kind des Hauses sei. Wenn ihn dies nun auf der einen Seite erfreute, so betrübte und kränkte es ihn auf der anderen, sobald er zu bemerken glaubte, daß Landry diese freundschaftlichen Beziehungen zu sehr erwidere. Er konnte es nicht leiden, wenn Landry auf ein Wort des Vaters Caillaud, wie unbestimmt und gelassen es geäußert sein mochte, dem Wunsch desselben zu willfahren, rasch davoneilte, Vater, Mutter und Bruder in solchen Augenblicken bei Seite lassend. Landry war also viel besorgter seiner Dienstpflicht etwas zu vergeben, als er die Anhänglichkeit der Seinigen zu schätzen wußte, und viel pünktlicher im Gehorsam, als Sylvinet dazu im Stande gewesen sein würde, wenn es sich darum gehandelt hätte, einige Augenblicke länger mit jemandem zu verweilen, der ihm mit so treuer Liebe ergeben war.
Der arme Bursche setzte sich jetzt eine neue Grille in den Kopf, an die er zuvor nicht gedacht hatte, nämlich die: daß die Liebe und Freundschaft, die er für seinen Bruder empfand, nicht erwidert würden, und daß dies auch immer so gewesen sein müsse, nur er selbst habe es nicht eingesehen. Freilich war es auch möglich, daß die Liebe seines Zwillingsbruders erst seit einiger Zeit für ihn erkaltet war, weil er am fremden Ort Personen gefunden hatte, die ihm besser gefielen und passender erschienen.