George Sand
Die Grille oder die kleine Fadette
George Sand

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Neuntes Kapitel.

Als der arme Landry sich etwas verdrossen über den Schlag, den man ihm eben auf die Schulter versetzt hatte, umwandte, erblickte er die kleine Fadette, und gleich hinderdrein ihren Jeannet, den Grashüpfer, der ihr hinkend folgte, denn er war von Geburt an krüppelhaft und krummbeinig gewesen.

Anfangs wollte Landry, ohne auf die beiden zu achten, seines Weges gehen, denn er war gewiß nicht in der Stimmung auf andere Dinge einzugehen. Die Fadette aber rief, indem sie ihm noch einen zweiten Schlag auf die andere Schulter versetzte: »Seht! Seht! den garstigen Zwilling, diese Hälfte von einem Burschen, der seine andere Hälfte verloren hat!«

Landry, der ebensowenig in der Stimmung war sich beleidigen, wie sich necken zu lassen, drehte sich abermals um und versetzte der kleinen Fadette einen Schlag mit der Faust, den sie sicherlich gefühlt haben würde, wäre sie nicht rechtzeitig auf die Seite gesprungen, denn der Zwilling zählte seine fünfzehn Jahre, war kein Schwächling und wußte seine Hände zu gebrauchen. Die Fadette stand im vierzehnten Jahre und war so klein und zierlich gebaut, daß man sie für nicht älter als zwölf hätte halten können. Ihrem ganzen Aussehen nach hätte man denken sollen, sie müsse schon vom bloßen Anrühren zerbrechen.

Aber sie war zu gewitzigt und zu behende, um den Schlag zu erwarten, und was ihr beim Gebrauch ihrer Hände an Kraft gebrach, das ersetzte sie durch Gewandtheit, Schnelligkeit und List. Sie wußte so geschickt im richtigen Augenblick zur Seite zu springen, daß wenig daran fehlte und Landry wäre, durch die Wucht, mit der er zum Schlage ausgeholt hatte, mit der Nase auf einen großen Baum gestürzt.

»Du böse Grille,« rief der arme Zwilling, außer sich vor Zorn, »du mußt gar kein Herz haben, daß du mit jemandem, der einen so großen Schmerz hat, wie der meinige ist, noch deine Neckereien treiben kannst. Schon seit geraumer Zeit nennst du mich immer einen halben Burschen, nur um mich zu ärgern. Ich wäre heute grade dazu aufgelegt, dich in vier Stücke zu zerreißen, dich und deinen abscheulichen Grashüpfer, nur um einmal zu sehen, ob ihr beide zusammen wohl den vierten Teil von etwas Richtigem ausmachen würdet.«

»Da seht einmal den schönen Zwilling vom Zwillingshofe, den Herrn von der Schilfwiese an den Ufern des Flusses,« gab die kleine Fadette spöttelnd zurück. »Du bist wirklich recht dumm, so böse mit mir zu sein, da ich dir doch Nachricht von deinem Zwillingsbruder geben wollte und dir sagen, wo du ihn wieder finden kannst.

»Das ist freilich etwas anderes,« sagte Landry in rasch besänftigtem Tone, »wenn du das weißt, Fadette, dann sage es mir, und ich werde es dir sicherlich Dank wissen.«

»Jetzt giebt es weder eine Fadette noch eine Grille mehr, die Lust haben könnte, deinen Wunsch zu erfüllen,« gab die Kleine zur Antwort. »Du hast mich mit Schmähungen beleidigt, und wenn du nicht so schwerfällig und ungeschickt wärest, hättest du mich noch dazu geschlagen. Suche dir also deinen Tropf von Zwilling nur allein; wenn du klug genug bist, wirst du ihn schon finden.«

»Ich bin sehr dumm, dich noch weiter anzuhören, du boshaftes Ding!« sagte Landry, indem er ihr den Rücken kehrte und sich wieder auf den Weg machte. »Du weißt nicht mehr davon, wo mein Bruder ist, als ich selbst, und du bist in solchen Dingen auch nicht klüger, als deine Großmutter, die eine alte Lügnerin ist, und weiter nichts.«

Aber die kleine Fadette, den Grashüpfer, – dem es gelungen war sie wieder zu erreichen, und sich an ihren alten, ganz mit Asche beschmutzten Rock zu hängen – an der Hand mit sich fortziehend, schickte sich an, hinter Landry herzugehen. Dabei hörte sie nicht auf ihn zu necken, und rief ihm unaufhörlich zu, daß er ohne sie seinen Zwilling niemals wiederfinden würde. Sie war so eifrig bei diesen Neckereien, daß Landry sie gar nicht los werden konnte und sich einbildete, ihre Großmutter und vielleicht auch sie selbst würden durch irgend eine Zauberei, oder durch eine Verbindung mit dem Geist des Flusses, es ihm unmöglich machen, Sylvinet wieder aufzufinden. Er faßte deshalb kurzweg den Entschluß über die Schilfwiese nach Hause zurückzukehren.

Die kleine Fadette folgte ihm bis zu dem hölzernen Drehkreuz der Wiese, und als er hindurchgeschritten war, setzte sie sich wie eine Elster auf einen der Querbalken und spottete ihm nach: »Leb wohl! du schöner Zwilling ohne Herz, der seinen Bruder im Stiche läßt. Du kannst lange darauf warten bis er zum Abendessen kommt; du wirst ihn heute nicht mehr sehen, und morgen ebensowenig: denn wo er jetzt liegt, da rührt er sich so wenig wie ein Stein, und sieh nur! wie das Gewitter droht. Noch in dieser Nacht wird es die Bäume in den Fluß schleudern, und der Fluß wird Sylvinet mit davon tragen, so weit, ach! so weit, daß du ihn niemals wieder finden kannst.

Alle diese schrecklichen Reden, die Landry gleichsam trotz seiner selbst, anhören mußte, bewirkten, daß ihm am ganzen Körper der kalte Schweiß ausbrach. Er glaubte nicht unbedingt an das, was die Grille sagte, aber schließlich stand die Familie Fadet im Ruf, ein Bündnis mit dem Teufel zu haben, so daß man doch nicht recht sicher sein konnte, was man davon halten sollte.

»Höre Fränzchen,« sagte Landry, indem er stehen blieb, »willst du mich in Ruhe lassen, ja oder nein? oder willst du so gut sein, es mir zu sagen, wenn du wirklich etwas von meinem Bruder weißt?«

»Und was willst du mir dann geben, wenn ich dir helfe ihn wieder zu finden, noch ehe es anfängt zu regnen?« sagte die Fadette und richtete sich auf dem Querbalken des Drehkreuzes gerade in die Höhe, die Arme hin- und herbewegend, als ob sie im Begriff wäre, davon zu fliegen.

Landry wußte nicht, was er ihr dann nur versprechen könne, und es kam ihm der Gedanke, daß sie es darauf abgesehen habe, Geld von ihm zu erpressen. Aber der Wind, der in den Bäumen rauschte, und der Donner, der zu rollen begann, regten ihm das Blut auf, daß er wie von Fieberangst ergriffen war. Nicht, als ob er das Gewitter gefürchtet hätte, aber wirklich der Sturm war so plötzlich und in einer so sonderbaren Weise losgebrochen, daß es ihm nicht mehr mit rechten Dingen zuzugehen schien. Vielleicht aber auch hatte Landry in seiner Herzensangst nicht bemerkt, wie es hinter den Bäumen am Ufer des Flusses heraufgezogen war. Seit zwei Stunden war er nicht aus der Tiefe des Thalgrundes herausgekommen, und so hatte er den Himmel nicht mehr überblicken können, als in dem Augenblick, da er die Höhe erreichte. Wirklich, er hatte keine Ahnung von der Nähe des Gewitters gehabt, als bis die kleine Fadette ihn darauf aufmerksam machte. In demselben Augenblicke blies auch der Wind ihren Rock in die Höhe; unter ihrer stets schlecht befestigten, schief auf einem Ohr sitzenden Haube, glitten ihre häßlichen schwarzen Haare hervor, und flatterten wie eine gesträubte Mähne empor. Ein heftiger Windstoß hatte dem Grashüpfer die Kappe entführt, und nur mit großer Mühe hatte es Landry verhindern können, daß nicht auch ihm der Hut vom Kopfe gerissen wurde.

Jetzt hatte sich der Himmel in zwei Minuten ganz schwarz überzogen, und die kleine Fadette, welche auf der hölzernen Planke aufrecht dastand, erschien Landry zweimal so groß als sonst. Endlich ergriff ihn, es läßt sich nicht leugnen, wirklich die Angst.

»Fränzchen,« rief er ihr zu, »wenn du mir meinen Bruder wieder giebst, verspreche ich dir, was du willst. Vielleicht hast du ihn gesehen. Du weißt vielleicht, wo er ist. Sei ein gutes Mädchen, Fränzchen. Ich begreife nicht, wie du ein Vergnügen daran finden kannst, meinen Schmerz zu sehen. Zeige mir, daß du ein gutes Herz hast, und ich glaube dann auch, daß du besser bist, als deine Reden und als du aussiehst.«

»Und warum sollte ich für dich ein gutes Mädchen sein?« gab sie zur Antwort, »wenn du mich so schlecht behandelst, ohne daß ich dir je etwas zu leide that! Warum sollte ich ein gutes Herz haben für die beiden Zwillinge, die so aufgeblasen sind, wie ein paar Hähne, und die mir noch nie die geringste Freundschaft erzeigt haben?«

»So komm doch, Fadette,« sagte Landry, »du willst ja, daß ich dir etwas verspreche; sage mir rasch, was du haben möchtest, und ich werde es dir geben. Willst du mein neues Messer haben?«

»Zeig es mir einmal,« sagte die Fadette, und hüpfte wie ein Frosch an seine Seite.

Und als sie das Messer gesehen hatte, welches Landrys Pate auf der letzten Messe für zehn Sous gekauft hatte, gelüstete es sie einen Augenblick nach dessen Besitz. Gleich darauf aber fand sie, daß es zu wenig sei und fragte, ob er ihr nicht lieber seine kleine weiße Henne geben möchte, die nicht größer als eine Taube war, und befiedert bis auf die Spitzen der Zehen.

»Ich kann dir das weiße Huhn nicht versprechen, weil es meiner Mutter gehört,« antwortete Landry; »aber ich verspreche dir, daß ich sie darum bitten werde, es dir zu schenken, und ich stehe dafür, daß meine Mutter sich nicht weigern wird; denn es wird sie so glücklich machen, Sylvinet wieder zu sehen, daß es nichts geben kann, was ihr zu gut wäre, um dich zu belohnen.«

»Ho! ho!« rief die kleine Fadette, »und wenn ich nun Lust hätte, eure Ziege mit der schwarzen Nase zu verlangen, würde die Mutter Barbeau mir wohl auch diese geben?«

»Gott! mein Gott! Fränzchen, wie lange du brauchst, um dich zu entschließen! Höre nur, das alles ist mit einem Worte abgethan: wenn mein Bruder in Gefahr ist und du mich augenblicklich zu ihm führst, dann giebt es auf unserem ganzen Hofe keine Henne, kein Hühnchen, keine Ziege noch ein Böckchen, das mein Vater und meine Mutter dir aus Dankbarkeit nicht gern geben würden.«

»Nun gut! Landry, das werden wir ja sehen,« sagte die kleine Fadette, ihre kleine magere Hand dem Zwilling darreichend, damit er, zum Zeichen, daß die Sache abgemacht sei, die seinige hineinlegen solle. Er that dies, aber nicht, ohne ein wenig dabei zu zittern, denn in diesem Augenblicke wurden ihre Augen so feurig, daß man hätte sagen sollen, sie sei der leibhaftige Kobold. »Ich werde dir jetzt nicht sagen, was ich von dir will; vielleicht weiß ich es selbst noch nicht. Aber, daß du es nur ja im Sinn behältst, was du mir in diesem Augenblicke versprichst; und wenn du dein Versprechen nicht hältst, dann werde ich es allen Leuten sagen, daß man sich auf das Wort des Zwillings Landry nicht verlassen kann. Jetzt sage ich dir hier Adieu und vergiß ja nicht, daß ich nichts von dir verlangen werde, bis zu dem Tage, an dem ich zu dir komme, um das von dir zu verlangen, wofür ich mich entschieden habe, und du mußt es dann ohne Zögern und ohne Widerstreben gewähren.«

»Einverstanden! Fadette, das ist abgemacht und so gut wie unterschrieben,« sagte Landry, indem er seine Hand in die ihrige legte.

»So ist's recht!« sagte sie mit stolzer und befriedigter Miene; »kehre jetzt gleich an das Ufer des Flusses zurück und gehe daran entlang, bis du ein Blöken hörst; und wo du dann ein wollreiches Lamm erblickst, da wirst du auch deinen Bruder finden. Wenn nicht alles so eintrifft, wie ich es dir jetzt gesagt habe, dann ist dir dein Wort zurückgegeben.«

Darauf nahm die kleine Fadette den Grashüpfer beim Arm, ohne darauf zu achten, daß es ihm nicht sonderlich zu behagen schien, und wie sehr er sich auch sträubte und zappelte, sprang sie mit ihm in das dichte Gebüsch hinein. Landry sah und hörte nichts mehr von ihnen, als ob er alles nur geträumt habe. Er verlor keine Zeit weiter darüber nachzudenken, ob die kleine Fadette vielleicht auch nur ihren Spott mit ihm getrieben habe. In atemloser Hast lief er zur Binsenwiese bis an den Ausschnitt; ohne hinunter zu steigen, ging er nur weiter daran entlang, denn er hatte diese Stelle schon hinlänglich untersucht, um sicher sein zu können, daß Sylvinet hier nicht war, aber, indem er sich davon entfernte, vernahm er das Blöken eines Lammes.

»Allbarmherziger Gott! Das Mädchen sagte es mir ja vorher: ich höre das Blöken des Lammes, mein Bruder muß da sein. Aber der Himmel mags wissen, ob er nun tot oder noch lebend ist.

Und er sprang auf den Grund des Einschnittes und drang in das Gesträuch ein. Von seinem Bruder war nichts zu entdecken; aber, indem er am Wasser entlang ging, etwa zehn Schritte weit, immer das Blöken des Lammes vernehmend, erblickte er auf der anderen Seite des Ufers seinen Bruder in sitzender Stellung. Auf dem Schoße hielt er in seiner Bluse wirklich ein Lamm, das schwarz und weiß gesprenkelt war von der Schnauze bis zur Spitze des Schwanzes.

Als Landry sah, daß sein Bruder lebte, und daß er weder im Gesicht, noch an seinen Kleidern irgend eine Spur von Verletzung trug, fühlte er sich unsäglich erleichtert und begann aus vollem Herzen Gott zu danken, ohne ihn zugleich um Verzeihung zu bitten, daß er, um dieses Glückes teilhaftig zu werden, seine Zuflucht zu den Künsten des Teufels genommen hatte. Grade, als er im Begriff war Sylvinet anzurufen, der ihn noch nicht sah und wahrscheinlich auch nicht hören konnte, wegen des rauschenden Wassers, das an dieser Stelle über die Kiesel lärmend dahinschoß, – blieb er stehen, um ihn zu betrachten. Er war erstaunt ihn gerade so zu finden, wie die kleine Fadette es ihm vorher gesagt hatte: unter den vom Winde heftig hin und hergeschleuderten Wipfeln der Bäume, saß er so regungslos da, als ob er selbst von Stein gewesen wäre.

Es ist allgemein bekannt, daß es gefährlich ist, an den Ufern unseres Flusses zu verweilen, wenn ein Sturm im Anzuge ist. Die Ufer sind ganz unterhöhlt, und es bricht kein Gewitter aus, ohne daß nicht einige von den Erlen ausgerissen werden, die meistens, wenn sie nicht etwa sehr dick und alt sind, nicht tief im Boden wurzeln. Sie stürzen plötzlich nieder, ohne, daß man sich dessen versehen könnte. Sylvinet aber, der sonst nicht einfältiger oder unvorsichtiger war, als jeder andere, schien gar nicht an die Gefahr zu denken. Er achtete so wenig darauf, als ob er sich unter dem Schutz einer gut gebauten Scheune befunden hätte. Er war ganz erschöpft davon, daß er den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und aufs Geratewohl umhergeschweift war. Wenn er sich auch glücklicherweise nicht in den Fluß gestürzt hatte, so saß er doch nun da, versunken in seinem Kummer und Verdruß, wie ein vom Wasser ausgeworfener Baumstamm, der hier zurückgeblieben war. Seine Augen waren starr auf den Fluß gerichtet, sein Gesicht so bleich wie eine Wasserlilie, den Mund hatte er halb geöffnet, wie man dies bei einem nach der Sonne aufschnappenden Fischlein sieht; und das Haar war vom Winde ganz zerzaust. Er achtete nicht einmal auf das kleine Lamm, dessen er sich erbarmte, als er es verirrt in den Wiesen aufgefunden hatte. In seiner Bluse hatte er es mitgenommen, um es an den Ort zurückzubringen, wohin es gehörte, aber unterwegs hatte er vergessen, sich darnach zu erkundigen. Er hielt es jetzt auf seinen Knien, ohne auf das klägliche Blöken des armen kleinen Tieres auch nur zu achten. Es blickte mit seinen großen klaren Augen umher, als ob es ganz erstaunt sei, von keinem anderen Tiere seiner Art gehört zu werden. Dieses große Wasser und dieser düstere, schattige Ort, der ganz mit hohem Grase bewachsen war, wo es weder seine Wiese, noch seine Mutter, noch seinen Stall entdecken konnte, mochten es wohl mit Furcht und Schrecken erfüllen.


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