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Sylvinet wollte von diesen Vorstellungen nichts wissen. Wenn er auch mit größerer Zärtlichkeit als Landry an seinem Vater, seiner Mutter und an seiner kleinen Nanette hing, so schrak er doch davor zurück seinen lieben Zwilling den schwersten Teil ihres Geschicks auf sich nehmen zu lassen.
Nachdem sie genug herumgestritten hatten, beschlossen sie, das Los, durch Strohhalm ziehen, entscheiden zu lassen, und Landry war es, der den kürzesten Halm zog. Sylvinet war mit dieser Probe nicht zufrieden; er wollte es noch einmal mit dem Werfen eines dicken Sousstückes versuchen. Dreimal fiel für ihn die Hauptseite des Gepräges nach oben. Es war also immer für Landry, den das Los zu gehen traf.
»Du siehst nun wohl, wie das Schicksal es beschlossen hat,« sagte Landry, »und du weißt, daß man dem Willen des Schicksals nicht zuwiderhandeln darf.«
Sylvinet weinte am dritten Tage noch sehr, Landry aber vergoß kaum noch eine Thräne. Der erste Gedanke an das Verlassen des väterlichen Hauses, hatte ihm vielleicht noch größeren Schmerz verursacht, als seinem Bruder. Er war sich seines Mutes bewußt, und hatte sich nicht einen Augenblick über die Unmöglichkeit getäuscht, dem Willen seiner Eltern zu widerstehen. Aber grade, weil er viel über seinen Schmerz nachdachte, hatte er diesem den Stachel genommen; auch hatte er viele Gründe aufgefunden, die ihm sein Schicksal als eine unabwendbare Notwendigkeit erscheinen ließen. Sylvinet dagegen, der immer nur trostlos war, hatte nicht den Mut gehabt über die Angelegenheit nachzudenken. So war es also gekommen, daß Landry ganz entschlossen war zu gehen, während Sylvinet sich noch nicht einmal in die Notwendigkeit der Trennung gefunden hatte.
Auch hatte Landry überhaupt etwas mehr Selbstgefühl als sein Bruder. Es war ihnen so oft vorgesagt worden, daß sie nie ein ganzer Mann sein würden, wenn sie sich nicht darein finden könnten, voneinander getrennt zu sein. Landry nun, der den Stolz seiner vierzehn Jahre in sich keimen fühlte, wandelte die Lust an zu zeigen, daß er kein Kind mehr sei. Seitdem sie zum erstenmale ausgezogen waren, auf dem Wipfel eines Baumes ein Vogelnest zu suchen, bis auf den gegenwärtigen Tag, war er es stets gewesen, der bei jeder Unternehmung seinen Bruder überredete und mit sich fort zog. So gelang es ihm denn auch diesesmal ihn zu beruhigen, und als sie am Abend in das Haus der Eltern zurückkehrten, erklärte er seinem Vater: daß er und sein Bruder bereit seien, sich in das Unvermeidliche zu fügen, daß sie das Los gezogen hätten, und daß er hinaus gehen werde, die großen Ochsen von la Priche zu führen.
Vater Barbeau nahm seine Zwillinge und setzte jeden, obgleich sie schon groß und stark waren, auf eins seiner Kniee und sprach zu ihnen:
»Meine Kinder, ihr steht jetzt im Alter der Vernunft, das erkenne ich an eurer Unterwerfung, und ich bin mit euch zufrieden. Merkt es euch: Wenn die Kinder ihren Eltern Freude machen, sind sie Gott im Himmel wohlgefällig, der sie früher oder später dafür belohnen wird. Ich weiß nicht, wer von euch beiden der erste war, der sich zu unterwerfen bereit war. Aber Gott weiß es und wird ihn dafür segnen, daß er zum Guten gesprochen hat, wie er den anderen dafür segnen wird, daß er sich darnach gerichtet hat.«
Darauf führte der Vater seine Zwillinge zur Mutter, damit auch sie ihnen ihr Lob spende. Aber Mutter Barbeau wurde es so schwer ihre Thränen zu unterdrücken, daß sie keines Wortes fähig war, und sich damit begnügen mußte, ihre Lieblinge zu umarmen und zu küssen.
Vater Barbeau, der einen guten Verstand hatte, wußte recht gut, welcher von den beiden der mutigste war, und welcher am meisten Anhänglichkeit besaß. Er wollte den guten Willen Sylvinets nicht wieder erkalten lassen, denn er sah wohl, daß Landry für sich selbst ganz entschlossen war, und daß nur eins: der Kummer seines Bruders, ihn wieder zum Wanken bringen konnte. Er ging deshalb vor Tagesanbruch an das Bett der Zwillinge und weckte Landry auf, nahm sich dabei aber wohl in acht den älteren Bruder, der an dessen Seite schlief, ja nicht anzurühren.
»Auf, mein Junge,« flüsterte er Landry leise zu, »wir müssen uns aufmachen nach la Priche, ehe deine Mutter es sieht, du weißt, sie ist voller Kümmernis, und man muß ihr den Abschied ersparen. Ich selbst will dich zu deinem neuen Herrn führen und dir deine Sachen tragen.«
»Soll ich denn ohne Abschied von meinem Bruder gehen?« fragte Landry. »Er wird mir böse werden, wenn ich ihn so ohne weiteres verlasse.«
»Wenn dein Bruder aufwacht und dich fortgehen sieht, dann fängt er an zu weinen und weckt auch deine Mutter auf, und die Mutter wird noch heftiger weinen, wenn sie euch so betrübt sieht. Komm, Landry, du bist ein mutiger Bursche, du kannst es nicht wollen, daß deine Mutter krank wird. Erfülle deine Pflicht ganz, mein Kind, und gehe still hinaus. Schon heute Abend werde ich deinen Bruder zu dir führen, und da morgen Sonntag ist, kommst du den ganzen Tag zu deiner Mutter auf Besuch.«
Landry gehorchte mit mutiger Fassung und schritt zum Hause hinaus, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Mutter Barbeau hatte nicht so ruhig geschlafen, um nicht alles gehört zu haben, was ihr Mann zu Landry gesagt hatte. Die arme Frau fühlte, daß ihr Mann recht habe; sie rührte sich nicht von der Stelle und begnügte sich damit die Gardine des Bettes ein wenig zu lüften, um Landry fortgehen zu sehen. Das Herz wurde ihr dabei so schwer, daß es sie nicht länger im Bette hielt: sie sprang heraus, um ihn noch einmal zu umarmen; aber, als sie bis zu dem Lager der Zwillinge gekommen war, wo Sylvinet noch im festen Schlafe lag, blieb sie stehen. Der arme Knabe hatte seit drei Tagen, und so zu sagen, seit drei Nächten so viel geweint, daß er völlig erschöpft davon war. Er hatte sogar etwas Fieber, denn er warf sich auf seinen Kissen hin und her, stieß schwere Seufzer aus und stöhnte laut, ohne sich aus dem Schlafe losreißen zu können.
Als die Mutter Barbeau den einzigen Zwilling, der ihr noch verblieb, betrachtete, konnte sie nicht umhin sich zu gestehen, daß dieser es sei, dessen Scheiden ihr noch größeren Schmerz verursachen würde. Er war wirklich der gefühlvollere von den beiden; mochte es nun sein, daß er von zarterer Konstitution war, oder, daß es in dem von Gott gegebenen Naturgesetze so angeordnet war, daß, wo zwei Personen durch Liebe oder Freundschaft miteinander verbunden sind, die eine immer von größerer Hingabe ergriffen sein wird, als die andere. Vater Barbeau hatte rund einer Feder Gewicht mehr Zuneigung für Landry, denn ihm galten Arbeitskraft und Mut mehr als Liebkosungen und zarte Aufmerksamkeiten. Die Mutter empfand eine kaum zu bemerkende größere Vorliebe für den zierlicheren und schmiegsameren ihrer Zwillinge, also für Sylvinet.
Da stand sie nun und betrachtete ihren armen Knaben, der ganz bleich und abgemattet dalag, und sie sagte sich, daß es himmelschreiend gewesen wäre, ihn schon so früh in einen Dienst zu geben. Landry habe eher das Zeug dazu, Mühe und Arbeit auszuhalten, und überdies würden die Liebe und Sehnsucht nach seinem Bruder und seiner Mutter ihm nicht so zusetzen, daß er krank davon werden könnte. Landry ist ein Bursche, der einen großen Begriff von seiner Pflicht hat, fuhr sie in ihren Betrachtungen fort; aber darin liegt es eben, wenn er nicht ein etwas trockenes Gemüt hätte, würde er nicht so entschlossen fortgegangen sein, ohne nur ein einziges Mal den Kopf zu wenden, oder auch nur eine einzige Thräne zu vergießen. Er würde nicht die Kraft gehabt haben, zwei Schritte weit zu gehen, ohne den lieben Gott anzuflehen, ihm Kraft und Mut zu verleihen. Er würde sich an mein Bett geschlichen haben, wo ich lag und so that, als ob ich schliefe, wenn auch nur, um mich noch einmal anzusehen, und den Zipfel meines Bettvorhanges zu küssen. Mein Landry ist freilich ein richtiger Bursche, der nur verlangt zu leben, sich tüchtig herumzutummeln, zu arbeiten, und der sich nach Ortsveränderung sehnt. Aber dieser hier hat ein Herz, so weich, wie das eines Mädchens; der ist so zärtlich und so sanft, daß man gar nicht anders kann, als ihn lieb haben, wie seinen eigenen Augapfel.
So dachte die Mutter Barbeau und kehrte ins Bett zurück, aber ohne wieder einschlafen zu können. Vater Barbeau und Landry schritten indessen querfeldeinwärts über Wiesen und Triften rüstig dahin in der Richtung nach la Priche. Als sie auf einer kleinen Anhöhe angelangt waren, von der aus man die Häuser von la Cosse, sobald man auf der anderen Seite hinabsteigt, nicht mehr sieht, blieb Landry stehen und blickte zurück. Das Herz wurde ihm schwer, und er setzte sich auf das Farnkraut nieder, unfähig einen Schritt weiter zu gehen. Sein Vater that, als ob er nichts bemerke, und setzte die Wanderung fort. Nach einer kleinen Weile rief er den Sohn sanft beim Namen und sprach zu ihm.
»Sieh, wie es schon dämmert, Landry; wir müssen uns beeilen, wenn wir noch vor Sonnenaufgang da sein wollen.«
Landry richtete sich wieder auf, und da er es sich zugeschworen hatte, vor seinem Vater nicht zu weinen, bezwang er die Thränen, die ihm in dicken Tropfen die Augen füllen wollten. Er that, als habe er sein Taschenmesser fallen lassen, und so kam er glücklich nach la Priche, ohne von seinem Schmerz, der gewiß kein geringer war, etwas blicken zu lassen.