Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XXI

Junius hatte nie sonst eine Harfe zur Hand gehabt und doch fühlte er sich ihrer Klangeswelt Meister. Als er mit kräftigem Akkord geschlossen hatte, umschlang ihn Tausendblüt, küßte ihn und sprach: »Mein Vogel hat zugehört, der soll es mir den ganzen Tag vorsingen, bis du wiederkommst.« Darauf hielt sie ihm, wie scherzend, die weichen Hände über beide Augen. Als der leise Druck schwand, und er die Augen wieder öffnete – lag er in seinem Bett. Es war Tag und vor ihm stand seine Mutter mit Medizinflasche und Löffel.

Junius fühlte sich ganz wohl und frisch, selbst sein gesengter Fuß war heil. Aber das versicherte er vergebens, er mußte im Bett bleiben und das ekle Gebräu einnehmen. Sein Zustand war ihm jedoch erleichtert durch das bedeutungsvolle Schattenspiel der Gestalten und Ereignisse der letzten Nacht, die nun vor seinem Gedächtnis vorbeizogen. Jetzt vertraute er seiner Schwester all sein Träumen an und schrieb ihr dies Lied auf, das er vor Tausendblüt gesungen hatte. Sie horchte und las mit sinnigem Ernst und begann noch denselben Tag einen seidnen Teppich zu sticken. Da saß auf rauher Klippe die lichte, grauenvoll reizende Feengestalt und unten, in leichtem Kahn, horchte ein Jüngling empor und hatte schon, von dem überwältigenden Bann ihres Liedes umsponnen, das Ruder sinken lassen; leichte Strudelwellen spielten schon mit dem Kahne und spülten ihn hin zum verschlingenden Trichter. Der Jüngling aber war, als die Stickerei fertig wurde, ihr Bruder Junius, wie er leibte und lebte. Und als sie ihr fertiges Werk beschaute, stahl sich eine Träne durch ihre Wimper und sank auf das Bild herab.

Junius schwelgte nun, Nacht für Nacht, im lebendigen Anschaun der heiligen Ursagenwelt; sein Gemüt ward reicher und tiefer, sein Schaffen kühner und bedeutungsvoller. Für manche tiefe Ahnung, die in den geheimsten Gründen seiner Brust geschlummert hatte, fand er nun mit eins den Schlüssel und zugleich die schlagende Bezeichnung.

A. d. T. d. O. H.

Was für ein handgreifliches und doch von so wenigen bemerktes Wunder umgibt uns in der Sagenwelt. Schaut in die ältesten Bücher der voneinander entlegensten Volksstämme, die, seit es Überlieferung gibt, getrennt waren, horcht auf die dumpfe Erzählung der Großmutter zu ihren Enkeln in den Eisregionen Kamtschatkas und unter dem Äquator – und in allen findet ihr einen überraschenden, aber unabweisbaren Zusammenhang, eine geheimnisvolle Symmetrie, Übereinstimmung und Einheit, Alles verwebt und verschlingt sich und alles wird zuletzt ein Ganzes, das erhabenste, tiefste, gedankenreichste Gedicht, zu dem Gott selbst die Begeisterung einblies und an dem die ganze Menschheit, von Geschlecht zu Geschlecht, nach ewigen Urtypen fortgedichtet hat, –

Denselben neckenden und wohltuenden Hauskobold, dem der Irländer täglich seinen Milchnapf hinstellt, damit er nicht grolle und Unglück ins Haus bringe, findet ihr unter den Volksstämmen Afrikas wieder, und auch dort bekommt er täglich seinen Milchtopf. Rostem aus Iran kämpft mit seinem Sohne, wie Hildebrand. Und in den heiligen Mythen der Mexikaner weht ein Hauch altindischen Gottahnens, blitzt uns ein Strahl des Evangeliums der ewigen, menschwerdenden, sich hinopfernden Liebe entgegen. – Was ist das? – Laßt die Toren sich abmühn, es auf dürrem, historischen Wege als erklärbar herauszugrübeln. Bei aller Gewaltsamkeit ungereimter Voraussetzungen gelangen sie doch zu keiner Lösung. Nein! denkt an jene heilige Umacht, in deren dämmerndem Schoß schlummernd, die Menschheit Kraft und Mark einatmete und vom Kind zum Jüngling erstarkte. Da wanderten tausend ewige, leuchtende Sterne auf und ab, das waren alles ewige, ursprüngliche, unverschleierte Gottgedanken. Als die Sterne schon bleicher wurden, ihr Schimmer aber noch frisch im Gedächtnis war, da wollte die Menschheit ihr Sein und Bedeuten im Lallen der ersten Sprachlaute festhalten und wiedergeben. Aber sie konnte für das Unaussprechliche nur Bild und Symbol finden, denn es gab noch keinen Aristoteles und Hegel, um für den lebendigen Leib des Gottgedankens ein kunstreiches, mehr oder weniger anatomisch genaues Totengeripp zusammenzubauen.

Und die Menschheit kam zu sich, erwachte und ward sich ihrer bewußt bis zum Ekel, bis ins kleinste Zucken der Fingerspitze hinein. Da ward es unerquicklicher, werkeltätiger Tag und die heiligen Sterne waren verschwunden. Sie stehn noch am Himmel; aber man sieht sie nicht beim prahlenden Lichte des Tages.

Aber jenes erste Gelall ist nicht ganz verloren gegangen. Es ward, freilich verzerrt und verwischt, fortgepflanzt von Buch zu Buch, von Mund zu Mund. Und die Sage liegt jetzt vor dir da, von der Menge vergessen und unverstanden, vereinsamt und verödet unter altem, zertrümmertem Gemäuer, wie ein stiller, tiefer, dunkler Brunnen. Nahe dich dem Brunnen und schaue mit Ernst und Beharrlichkeit hinab in seinen schwarzen Schoß, alles bunte Leben umher vergessend. Und sieh'! aus der engen Nacht blicken zu dir, aus tiefster Tiefe, empor die vergeßnen heiligen Sterne, die das Tageslicht oben an der Wölbung überschreit und verhüllt, die aber die schwarze Tiefe treu widerspiegelt. Einen Augenblick lang schaust du die uralten, ersten Gottgedanken und denkst sie nach. Nun gehe hin und siehe, ob du ins Gewebe der Sprache des Tages, das zu nichts mehr dient, als tausendfach verrwirrtes Bei-, Neben- und Tändelwerk zu verbildlichen, einen Faden zu wirken verstehst, der ein lebendiger Lichtstrahl ist aus jener heiligen Urnacht der Menschheit, da Gott selbst noch zu ihr sprach.


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