Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XIV

Einst, als Junius wieder seine Freistunden benutzte, sich in der schönen Wildnis umherzutreiben, sah er von fern eine lang gedehnte Felswand, deren Stirn von Gesträuch und Bäumen schön bekränzt war. Von der Fläche der Wand aber blitzte und prangte es von frischen, bunten Farben. Erstaunt eilte Junius näher, und siehe! Gestalt um Gestalt trat hervor und schien lebend aus der Fläche herauszutreten. Er lief ganz nahe herzu, und vor ihm stand eine Reihe von kräftigen, markigen Bildern. Da waren vielhundert Männer und Frauen, alle in lebendigster Stellung, und alle verschieden – ein unerschöpflicher Reichtum an Ausdruck, Geberde, Gestalt, Verrichtung, Zusammenstellung und Wechselbeziehung; aber alles voll Kraft, Keckheit, Leben und Wahrheit. Die Fülle des Schauens betäubte Junius und ließ ihn nicht zu ordnender Klarheit kommen. Wie träumend schritt er auf und nieder und sah Heldengestalten im Zweikampf mit wilden Tieren und Räubern; dann das wilde Getümmel der Feldschlacht, regungslos und doch unendlich bewegt auf die Fläche hingezaubert; dann den versammelten Rat der Weisen in ernster, ragender Halle, daß er meinte, die gediegnen Sprüche von ihren Lippen wehen zu hören; dann Festspiel und Siegesmahl in heiterster Unbesorgtheit und freudigstem Zusammensein, durch die Reihe kräftiger Männergestalten, süße Frauenbilder geschlungen, wie lachende Rosen im ernstdunklen Eichenkranze. Aber alles verschwand ihm vor den Augen; bald übersah er das Einzelne im blendenden Zusammensein des Ganzen, bald vergaß er das Ganze über dem sinnenden sich Vertiefen ins schöne Einzelne. Da erschollen plötzlich (woher? das wußte er nicht, ob aus dem Fels oder der Luft) kräftige Harfenakkorde, die stürmend anwuchsen, dann leise verrauschten. Wieder begannen sie, und wie der Gesang des Hains das Brausen der Wipfel, übertönte sie die feste, wohllautende Stimme des Mannes. Junius versank horchend in neues Staunen. Aber die Worte dtes unbekannten Sängers litten kein unklares Hinträumen. Fest, bestimmt, alle Verworrenheit schlichtend, erklangen sie, und wie durch Meißelschläge aus dem gestaltlosen Block das Standbild des Gottes hervorgeht: so rang sich aus den Klängen los, bis sie in schärfstem Umriß fertig da stand, die lebendige Tat in ihrer kernigsten Wahrheit, ungeschmückt und unentstellt, in ursprünglich göttlicher Kraft und Einfachheit.

Ein rasches Hinhorchen, ein rascher Hinblick zeigten dem Knaben, das der Gesang denselben Inhalt hatte, als das erste der Felsbilder. Überrascht sah er nun, wie dies Leben und Klarheit gewann, so daß er jede Miene, jede Gestalt, jede Regung der Glieder begriff. Das Lied endete und, leise sich verbreitend, überschlich ein grüner Epheuteppich, dichter und dichter verwachsend, das erste der Bilder. Da begann ein zweiter Gesang, und ein zweites Bild belebte sich, ward erschaut und begriffen. Junius hörte zu in trunkenem Taumel, sein Herz pochte an die Rippen, wie Tat fordernd, sein junger Arm straffte sich, seine Faust zuckte, als wolle sie ein Schwert fassen. Endlich verrauschte das letzte Lied und die eben noch so lebendige Felswand stand da, einförmig, von stillem Grün überzogen.

Junius stürmte heim. Nicht mochte er mehr auf die süßen Lieder horchen, die ihn geleiteten. All sein Träumen und Singen von Blüte, Wald, Welle und Himmelsblau schien ihm jetzt eine kern- und bedeutungslose Tändelei, deren er sich zu schämen habe. Seine Seele war erfüllt von der Kraft und Hoheit des Menschenwillens und er weinte Tränen der Verehrung. Er sah um sich, wie ein Baum wuchs und Blätter trug wie der andere seiner Gattung, wie eine Blume blühte und zerfiel wie die andere, ein Vogel nistete wie der andere und unverändert das Lied sang, das seiner Gattung unwiderruflich zugeteilt war. Nichts, als ein willenloses Gesamtleben ohne Selbstbestimmung, nach ewig einförmigem Gesetz. Aber der Mensch, vor allen berufen, durch eignen Willen sein Ziel zu stecken, durch eigne Kraft es zu erreichen; jeder auf andre Art und doch jeder dem Göttlichen zuwirkend; göttliche Gedanken, jeder auf seine Weise, als Tat ins Leben stellend; selbst in gewaltsamer Verwirrung noch voll Adel, und Größe! Im Verlauf der Zeiten, welch ein unerschöpflicher Wechsel von Tat, Schöpfung, Idee und Weltgestaltung, welches Riesenspiel kämpfender Seelen- und Willenskräfte; und doch in allem eine Hindeutung, ein Evangelium: die göttliche Natur des Menschen! Jetzt erinnerte sich Junius an die manchen Geschichtsbücher, die er bei Nicodemus gelesen hatte. Aber sie waren wie ein Schattenspiel an seiner Seele vorbeigegangen; fast hatte er nur die Buchstaben gelesen; jetzt aber erwachten die in den dunklen Schluchten des Gedächtnisses begrabnen Bilder, wie von einem Zauberstabe getroffen, traten hervor riesige Gestalten, lebten und handelten.

Junius eilte zu seiner Schwester und goß ihr sein volles Herz aus in rasch strömenden Worten. Sie horchte erstaunt. Als er aber zuletzt anfing, auf die Stimmen, die bisher aus Wald und Flur ihm zutönten, zu schelten, da hielt sie ihm sanft den Mund zu und sprach, wie um Mitleid flehend: »Nicht doch, Junius! wie magst du das nur schelten, was doch dein Alles war? Und es war doch auch so schön und innig. O, ich werd' es nie vergessen.« –

»Gewiß würdest du es vergessen, wenn du sähest und hörtest, was ich heut' fand.« –

»O so zeige mir's!« rief sie.

»Ach liebe Malwina, wenn wir zusammen sind, werden wir es doch nicht finden. Du weißt ja. Aber wir wollen versuchen.« –

Als Junius mit seiner Schwester suchen ging, fanden sie die Felswand, aber ohne Bilder. »O wie Schade!« rief Junius. »Laß es gut sein! (sprach sie). Ist es doch auch ohne das so schön hier.« – »Nein, nein! (rief Junius) die Seele schwand, das lebendige Wachen fehlt. Rings um uns ist nur ein weichliches, gestaltloses Träumen.« – Von jetzt an fand Junius jedesmal, wenn er allein in die Wildnis ging, eine neue Bilderreihe am Fels und belebend erscholl dazu die Stimme des Skalden. Aber die Masse verwirrte ihn nicht, die Gruppen verwischten sich nicht in seinem Gehirn, so eisern schmiedete das Lied die Gestalten; und je mehr er sah und vernahm, desto höher stieg seine Begeisterung, desto bewußter und würdiger ward sie, denn aus dem Vielen rang sich los die Ahnung eines geistigen Zusammenhanges, eines lebendigen Ganzen, eines ewig ordnenden und entfaltenden Fortwirkens, und diese Ahnung wurde zur festen, unumstößlichen Erkenntnis; ihm zwang sich die Überzeugung auf, daß die Weltgeschichte ein Kunstwerk Gottes sei.

Malwina konnte sich erst nicht in die neue Begeisterung des Bruders finden. Mit Sehnsucht dachte sie zurück an die süßen Lieder der Blüten und Vögel. Aber als Junius ihr immer lebendiger die Taten der Helden pries, so daß sein Auge blitzend leuchtete, und er ihr selbst wie ein junger Held erschien, da küßte sie seine Stirn, voll Liebe und Verehrung ihn anblickend, denn sie glaubte in ihm selbst den Inbegriff alles Trefflichen zu sehen, wovon er ihr verkündet; und, ihm zuliebe, liebte sie seine Helden.


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