Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XVI

Nur wenige Stunden konnte Junius benutzen, um in der Wildnis, bei Bild und Gesang, in der Bewunderung kühner und schöner Taten der Vorzeit zu schwelgen. Einst war er wieder dort vor der durch frische Bilder lebendig gemachten Felswand. Der Sang verhallte; und indem Junius einen letzten Blick auf die Gestalten des Gemäldes warf, trat plötzlich aus einem Felsspalt hervor ein Mann mit gepudertem, dickem Haare, buschigten Augenbrauen, kühnem Blick, hohen Stiefeln und grobem Rock, kurz, der Onkel Holofernes.

»Guten Morgen, mein Junge!« sprach er, ging auf Junius zu und drückte ihm die Hand. »Also du hast gesungen, Onkel Holofernes?« rief Junius freudig erstaunt. »Ei! woher kennst du mich denn? (sprach Holofernes) du hast mich ja nur einmal gesehen und damals hättest du noch keine Erinnerung.« – »Wie? bist du nicht der Onkel Holofernes? Ja! du mußt es sein, ich weiß es, aber ich weiß nicht, woher ich's weiß.« – »Ich bin's, mein Junge! und freue mich über dein Gedächtnis. Aber jetzt komm' und führe mich zu deinen Eltern und erzähle mir unterwegs, wie dir's geht. Doch halt! (sprach er, sich noch einmal zurückwendend) die Bilder da sind zwar nur Pfuschereien, aber doch zu gut für jeden gaffenden Esel, der sich etwa von seinen Disteln weg hierher verirren könnte.« Darauf trat er an das eine Ende der Felswand, ergriff einen Busch Epheu, zog daran mit leichter Mühe, und der Epheu dehnte sich aus, seiner Hand folgend, wie ein Vorhang, bis Holofernes ihn über die ganze Felswand gezogen hatte, die nun wieder einförmig grün dastand.

»Also gemalt hast du das alles auch?« rief Junius.

»Ja (sprach Holofernes) ich halte mich schon seit längerer Zeit hier auf, um dir bessere Lehrstunden zu erteilen, als der Herr Nicodemus. Du warst fast schon zum träumenden Narren geworden mit deinen Blümchen und Sternchen und deinem Waldgesäusel. Du solltest dich nicht immer an Düften betrinken, sondern einmal auch ein derbes Stück Fleisch und einen Trunk echten Feuerweines kosten, damit Nerv und Kern in dich kommen. Deshalb habe ich den Spuk hier veranstaltet, der nun ein für allemal ein Ende hat.« – »Warum das, lieber Onkel? Es waren meine schönsten und höchsten Stunden, mein einziger Trost. Warum willst du mir den entziehn?« – »Aus zwei Gründen (sprach Holofernes). Erstens, weil wir mit der Hauptsache zu Ende sind, das heißt, was an äußerlich sichtbarer und bildlich darstellbarer Tat großes in der Welt geschehen ist, haben wir so ziemlich durchgepinselt und durchgeorgelt. Von da an beginnt die große Periode der allgemeinen Flachheit, wo die Menschen nicht einmal mehr eigne Gesichter, um wie viel weniger eine eigne Handlungsweise haben. Wer will moderne Gesichter malen? Sie sind ohne Zeichnung, ohne Zuschnitt, ohne Ausprägung, eines ungefähr so, wie das andere, ähnlich dem nichtswürdigen, charakterlosen Frack, der, einförmig und albern, von den Gentlemens aller Nationen getragen wird. Wer will die Taten malen, die auf dem Bureau oder auf der Parade oder auf dem Exerzierplatze getan werden, oder im Kabinett des unermüdlich ausgleichenden und friedliche Auskunftmittel ersinnenden, diplomatischen Fuchses, alles: »damit die materiellen Interessen nicht gefährdet werden.« Oder soll ich einen ästhetischen Damentee mit rollenweiser Vorlesung der Emilia Galotti und obligatem Gähnen auf die Felswand klexen? Oder einen Professor, der auf dem Kateder sein ewig unveränderliches Heft zum 36ten Male abliest und um ihn her 30 ungebildete Studenten, die in dem Augenblicke ganz Feder sind? Dergleichen ist so elend, daß es nicht einmal zur Karikatur zu brauchen ist. Gott sei Dank! Hier und da wird noch manchmal eine Schlacht geliefert; aber in Reih und Glied, wo der Mensch bloß Material ist und wobei es gar nicht zum eigentlichen Leben der Schlacht kommt: zum Handgemenge. Die Kraft aber kann keine graden Linien und keine Massen, in denen das einzelne verschwindet, brauchen. Sie will schöne Schwingung, freie Menschenbewegung, kräftige und eigentümliche Einzelnwesenheit. Solch eine Schlacht, wie sie jetzt sind, ist für ein Schachbrett, nicht für ein Bild. Davon wirst du freilich wenig verstehn; aber ich versichere es dir; früher taten die Menschen, jetzt werden sie getan. Dafür denken sie viel und tief, wenigstens die besten, aber Gedanken ohne Körper lassen sich nicht malen und nicht singen, obgleich man letzteres mit großer Kunstsophisterei unternommen hat.

Ferner aber fahre ich in meinen malerisch-poetischen Vorstellungen deshalb nicht fort, weil sie bereits angefangen haben, für dich ein fauler Genuß zu werden, nicht mehr eine spannende Geistesarbeit. Nimm jetzt hin, was du hast. Blicke sind dir geschenkt worden; durch sie kannst du zur Einsicht und Übersicht des ganzen Tatengetriebes aller Zeiten gelangen; aber nur durch eigne Arbeit. Alle Belehrung darf nur Andeutung und Anregung sein, sonst heißt es, dem Kinde den Brei ums Maul schmieren, wobei doch das Meiste wieder heruntertrippt und die Zunge nur das Wenigste aufleckt. Überhaupt hast du, wie alle schwärmerischen Enthusiasten, ein vorwiegendes Talent zu schwelgerischer Faulheit, das ich nicht bestärken will. Was deinem Gaumen nicht gleich anfangs zusagt, das wirfst du weg; du willst wohl süße Kerne schmecken, aber nicht vorher harte Schalen aufbeißen. Weshalb hast du z. B. bei Herrn Nicodemus nicht rechnen gelernt?« –

»Ach, lieber Onkel! (rief Junius). Kann dies wirklich dein Ernst sein? Wer solche Bilder zu malen, solche Lieder zu singen, solche Gläser zu schleifen versteht, kann der etwas von Rechnung und Zahl halten? Kann ich die Blumen, die Sterne, das Laub der Bäume zählen? Kann ich die Größe des freien, tatenstarken Mannes in Zahlen ausdrücken? Kann ich sagen: Cäsar verhält sich zum Brutus, wie 7 zu 3; folglich ist Brutus gleich 3 mal Gäsar dividiert durch 7?«

»Ei, du vorwitziger Junge! (fiel Holofernes eifernd ein) Willst du verspotten, so verspotte, was du kennst. Willst du etwa gar Humor haben, ohne Weltanschau'n? Daraus werden schlechte Witze, weiter nichts. Ehe du den Stein wegwirfst und mit Füßen trittst, klopfe ihn auf und siehe, ob nicht ein Diamant darin steckt. Die Zahl verachtest du? Hast nicht du und jeder andre Mensch grade eine Nase, grade zwei Augen, zwei Ohren, zwei Hände und an jeder fünf Finger? Warum wechselt das nicht in angenehmer Mannigfaltigkeit, so daß einer ebenso gut zwei Nasen oder sieben Finger oder drei Ohren hat? Merkst du noch nichts von der Bedeutsamkeit der Zahl? An jenem Guckglas habe ich sechs Tage lang gerechnet und am siebenten schliff ich's. Aber du willst bloß Resultate; den Weg selbst zu gehn, das wird dem trägen Herrn Weichling zu sauer. Warum hat jenes Blümchen, so oft du es findest, jedesmal grade fünf Blätter, jenes Baumblatt drei Hauptausläufe? Ein schönes Lied hörst du gern, weil es dein Trommelfell streichelt; aber daß es ohne Zahlenverhältnis zum schreienden Mißklang würde, will dir nicht in den Kopf. Die Sterne siehst du gern, weil sie still und feierlich einherwandeln; aber daß sie alle nach Maß und Zahl rollen und kreisen und daß ohne Zahlenverhältnis unter ihnen eine heillose Konfusion losbräche und dir ein Komet noch heute Nachmittag die Nase zerquetschen würde, dafür bist du taub und blind. Ei! wenn dir die Zahl so gleichgiltig ist, so kann dir's auch ganz einerlei sein, ob es einen Gott gibt, oder einige hundert, oder gar keinen.

Du verstehst wohl, daß ich dir mit dem allen nicht aufbürden will, die Zinsrechnung sei der Kern des Lebens. Dein Vater will dich zum Geschäftsmann machen: dazu taugst du nichts, Gott sei Dank! und ich werde ihn davon abzubringen suchen, wenn's möglich ist. Es gilt mit dir einen gewagten Wurf; denn entweder wirst du etwas viel Besseres, oder etwas Schlechteres. Aber durch Dufteinsaugen, Bilderbesehen und Liederanhören wirst du nichts Großes. Du bist kein Weib, das sich durch Hingebung erst selbst gewinnt. Hingebung ist für dich Selbstverlust; du sollst erobern und schaffen.« –

So sprechend kamen beide zum Hause des Herrn Habichs. Holofernes mußte, als er seinen Eifer sich von der Seele gesprochen hatte, still über sich selbst lächeln. »Ich verstehe es also auch, den Text zu lesen und zu moralisieren, trotz einem Pfaffen! (dachte er bei sich). Was für verborgene Talente man nicht täglich an sich selbst entdeckt! Aber es ist gut, daß der Mensch, trotz aller Bemühung andrer, ihn möglichst zu verpfuschen, sich am Ende doch selbst erzieht, sonst könnte meine philisterhafte Salbaderei dem Jungen zu Gift werden. Und im Grunde hat doch nur die verletzte Eitelkeit aus mir gesprochen, weil der Junge mir mein Steckenpferd angetastet hat. Aber wenn ich mich durch Gleichungen, Logarithmen, Progressionen, Integralen und Differenzialen zur Mumie ausgedorrt habe, warum verlange ich von dem frischen Bengel, mein trauriger Affe zu werden? Ich bin aber ein Narr, wie die andern.«

Junius aber dachte im Stillen über das Gesagte nach und das beste davon behielt er sich.

Im Hause war alles leer. Herr Habichs saß noch im Turm. Frau Habichs hielt mit der kleinen Malwina einen Morgenumgang bei verschiedenen Klatschschwestern, wobei Malwina, zu ihrer Qual, als Knixmarionette figurieren und gelobt und gehätschelt werden sollte. Nur Nicodemus saß in seiner Studierstube über Büchern und Pflanzen, mit dem Guckglase in der Hand, denn er arbeitete bereits an einem Nachtrage zu seinem Werke, der etwa noch einmal so dick zu werden versprach als das Werk selbst, was sehr viel sagen will. Holofernes ließ sich die Stube von Junius zeigen und befahl ihm, ihn mit Herrn Nicodemus allein zu lassen. Als er eintrat, erschrak Nicodemus und wollte, im Bewußtsein des unredlichen Besitzes, das Guckglas rasch verstecken, obgleich er Holofernes nicht kannte. Der aber sprach sogleich: »Lassen Sie das! und damit Sie künftig nicht wieder erschreckt werden, schenke ich Ihnen hiermit das Glas, obgleich ich es für meinen Neffen Junius verfertigt habe. Sie müssen nämlich wissen, daß ich der Onkel Holofernes bin, mithin ein Recht habe, über mein eignes Machwerk zu verfügen, da es dem Junius doch nichts mehr nützen kann. Sie können dadurch der Wissenschaft nützlich werden, wenn Sie sich entschließen wollten, Ihre elephantenähnlichen Manuskripte sogleich zu verbrennen und ein Buch von höchstens 200 Seiten daraus zu ziehen, in dem doch alles enthalten wäre, aber viel besser.« –

»Sie scherzen, Herr Holofernes! (erwiderte Nicodemus ganz verlegen) Meine Manuskripte betragen jetzt gegen 2000 Seiten, die ich mit großer Mühe und mit Hilfe Ihres vortrefflichen Glases zusammengetragen habe; wie sollte ich davon so viele hundert Seiten wegschneiden, ohne daß der Wissenschaft, deren Ideal doch Vollständigkeit ist, dadurch merklicher Schaden erwüchse?« – »Mann, wer spricht denn von Schneiden? (rief Holofernes) Sie sollen nicht sezieren, sondern destillieren, nicht wegwerfen, sondern vereinfachen. Ihr Neben- und Hintereinander und Vielerlei und Mancherlei in den Manuskripten bildet, so wie es daliegt, nur einen verworrenen Plunder, mit dem doch nichts getan ist, ob auch alles einzelne gut und richtig sein mag. Wozu ist der Steinhaufen, als um einen Tempel daraus zu bauen? Sie haben Stoff, aber noch kein Kunstwerk; Sie haben ein massenhaftes Chaos, ordnen Sie es zum wohlgegliederten Organon; dann haben Sie, statt des riesenhaften Haufens, schöne Gestaltung mit Maß und Leben. Nur einfache aber umfassende Ideen und unter sie das Einzelne verteilt, und Sie sparen mindestens 1000 Seiten.« –

»Und wieviel Taler Honorar gehn mir dadurch verloren?!« seufzte Nicodemus in sich.

»Doch lassen wir das (fuhr Holofernes fort) und reden wir von Junius. Ich seh' es Ihrem Gesicht an, Sie wollen über ihn klagen. Aber es kommt darauf an, wie Sie's mit ihm angefangen haben. Er will nicht rechnen lernen. Womit haben Sie begonnen, mit der Buchstabenrechnung, oder damit, wieviel 6 Hammel kosten, wenn einer anderthalb Taler kostet?«

»0 Gott! (sprach Nicodemus) wie hätte ich bis zur Buchstabenrechnung vorschreiten können, da er das Einfachste nicht begreift?« –

»Sie scheinen das Einfachste sehr niedrig zu stellen, da es doch im Gegenteil in jeder Wissenschaft das Beste, die eigentliche Seele ist. Aber warum wollen Sie einem Knaben dadurch das Studium verekeln, daß Sie ihm das Schlechteste der Wissenschaft zum voraus geben, nämlich die Art, wie sie sich zu trivialen und selbstischen Nebenzwecken brauchen läßt, anstatt ihn gleich anfangs die hohe Bedeutung derselben ahnen zu lassen, wodurch Sie ihn dann unvermerkt hinleiten, wohin Sie wollen?« –

»Die Ansichten darüber mögen verschieden sein (sprach Nicodemus, endlich seine Verlegenheit bezwingend und sich mit einigem Selbstgefühl in die Brust werfend). Was mich betrifft, so ist es immer meine Methode gewesen, vom Leichteren zum Schwereren nach und nach vorzuschreiten.«

»Freilich eine ganz neue, recht originelle Ansicht (sprach Holofernes, leichthin lächelnd) und ein bedeutender Fortschritt in der Pädagogik. Aber was nennen Sie leichter, was schwerer? Einem Dichter wird es leichter, eine Elegie zu schreiben, als einen Geschäftsbrief. Einem Kaufmann umgekehrt. Und bei einem Knaben, bei dem die Phantasie die vorherrschende Tätigkeit ist, hätten Sie nicht mit Hammeln und Groschen, sondern mit Buchstaben anfangen sollen. Die allgemein ausgedrückten Formeln mit ihren sinnreichen Verschlingungen, Entwicklungen und Wechselbeziehungen, mit ihrer, ich möchte fast sagen: mystischen Symmetrie, würden ihn angezogen und gefesselt haben; nachher können Sie immer noch den einfachen Begriff der Größe in den Lumpenrock einer besonderen Benennung stecken und haben dann alles erreicht, auch die Nebenzwecke. Aber das einem so wenig hausbacknen Geiste, wie Junius, der Preis von Hammeln höchst gleichgiltig sein muß, das sehen Sie doch wohl ein! Sie haben noch vier Wochen Zeit, dann wartet Ihrer Schmach oder Gratifikation. Bedenken Sie, was ich sprach, und machen Sie einen Versuch! Für jetzt leben Sie wohl! denn ich höre draußen ein Geräusch, gleich dem Gockeln einer Henne, meine Schwester ist nach Hause gekommen, ich will sie begrüßen gehn,«

So ging Holofemes fort und ließ den verblüfften Nicodemus allein. –


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